#93 38118 (Ghettofaust)

Dienstag, 28. Juli 2015

Weit komme ich nicht, als ich aus dem Westen über den Prinzenweg in die Innenstadt und also ins Café Riptide gehen will, weil ich dort – natürlich – mit Micha verabredet bin. Denn kaum bin ich am Café Himmelhoch vorbei, stürmen Claudy Soundschwester und Frauke heraus und rufen mir hinterher. In dieser Dreierkonstellation trafen wir uns schon einige Male mehr oder weniger zufällig eben im Café Himmelhoch, und als sie mich nun zielstrebig am Fenster vorbeieilen sahen, eilten sie vor die Tür und warfen mir einladende Worte nach. Natürlich setze ich mich dazu, der beiden und auch des Cafés wegen. Claudy hat sogleich eine Nachricht für Micha, die ich ihm übermitteln soll und auf die er auch schon wartet, wie er mir später mitteilen wird: Ihre aktuellen Flyer mit ihren Workshop-Angeboten verteilt sie noch selbst, ab der zweiten Auflage würde sie auf den Kulturboten zurückkommen. Frauke berichtet von Festivals, mit Blick auf mein New-Model-Army-T-Shirt, dass sie die nämlich am Samstag auf dem Burg-Herzberg-Festival sehen wird; später erfahre ich, dass die Band schon am Freitag für lau auf dem Hannoveraner Maschseefest spielt. Das muss man sich auch mal auf der Zunge zergehen lassen. Das wird keine Oldschoolfeier für veraltete Indiefans, denn sämtliche Alben von New Model Army sind großartig, auch die jüngsten. Frauke war zuletzt auf einem Technofestival, aber nicht mit Knicklichtern, wie ich mutmaße, „auch nicht mit Gummistiefeln“, sondern auf dem Nation Of Gondwana, von dem ich noch nie gehört habe. Vom Line-Up kenne ich gerade mal Der dritte Raum und Raz Ohara, der Rest ist mir fremd. Claudy sagt, dass sie sich von Frauke dazu hat anstecken lassen, morgens im Bad immer Minimal-Electro-Sender im Internet zu streamen.

Nun sollte ich mich aber losreißen, auch wenn es schwerfällt, denn Micha wartet, und ich muss ihn noch etwas länger warten lassen, weil ich noch bei Comiculture etwas zu besprechen habe. Wie verabredet bringe ich nämlich eine Tüte voller Lego-Minifigures mit, von den Simpsons, Serie 1 und 2, meine doppelten Exemplare. Stefan und Tilmann boten mir an, meine Tauschware im Schaufenster auszustellen. Auf einem Zettel vermerkte ich zudem, welche drei Figuren der zweiten Serie mir noch fehlen. Stefan ist gerade nicht da, Tilmann nimmt die Tüte entgegen. Ja, ich gebe es zu: Zwar bin ich dem Ü-Eier-mäßigen Sammelwahn der Lego-Minifiguren nicht ganz so verfallen, sondern lege mir pro Serie gerade mal zwei der 16 verschiedenen Objekte zu, aber die Simpsons bilden leider eine Ausnahme. Und das, obwohl ich die seit rund einer Dekade nicht einmal mehr im TV gesehen habe. Der Mix macht’s: Lego und Simpsons. Und Lego, das ist seit einiger Zeit mal wieder nach vielen Jahren der Einfallslosigkeit wieder richtig gut. Was die in ihren Sets unterbringen, man muss sich nur die Packungen mal genauer ansehen: Kaffeetassen, Würste, Bananen, Hähnchenschenkel, Möhren, alles ist irgendwo versteckt, ob bei Star Wars, im Mittelalter oder den mädchenorientierten Friends. Selbst mein Space-Shuttle-Modell hat eine Kaffeetasse im Cockpit. Und à propos Friends, da gab es – wie schon mal hier an anderer Stelle erwähnt – in der ersten Serie das Set „Traumhaus“ mit zwei so etwas wie Erwachsenen Gastfiguren am Rande des Hauptfigurennukleolus, die sich Peter und Anna nannten. Auf dem Cover sieht man Peter Grillen (Hähnchenschenkel, natürlich) und Anna Rasen mähen – und man erkennt eine markante Ähnlichkeit zu anderen ausgedachten Personen, nämlich Scully und Mulder von „Akte X“. Für alle, die sich also fragen, was diese beiden in der noch anhaltenden Pause vor der geplanten neuen Staffel so machen, deckt Lego auf: Mulder grillt Hähnchen und Scully mäht den Rasen. Überdies haben deren Schauspieler David Duchovny und Gillian Anderson erst kürzlich öffentlich betont, wie sehr sie eine Lego-Version ihrer Alter Egos wünschten. Längst erfüllt!

Nun also endlich zu Micha, der an einem Tisch draußen im Achteck auf mich wartet. Bei einer Fritz-Kola erzählt er, dass er die neue Single „Go“ von den Chemical Brothers sehr schätzt. Da pflichte ich ihm bei, wenngleich es das neue Album „Born In The Echoes“ zunächst schwer hatte, zu mir durchzudringen, ich es nach einigen Durchgängen aber sehr mag und bestätige, dass „Go“ einfach mal ein verdammter Ohrwurm ist. Und überhaupt gar nichts mit der gleichnamigen zweiten Single von Moby aus dem Jahr 1991 zu tun hat. „Das Album kenne ich noch nicht“, sagt Micha. „Ich werde es mir wohl kaufen.“ Er nimmt einen Schluck aus der Kolaflasche. „Hier.“

Draußen zu sitzen, ist nach der Hitzewelle vor ein paar Wochen so mitten im Hochsommer dieser Tage ganz schön mutig, denn uns wird des Windes wegen bald sehr kalt. „Es ist ungemütlich draußen“, stellt Micha fest. „Lass uns reingehen.“ Das tun wir, finden einen Platz neben der Theke, alle anderen sind besetzt, es ist angenehm voll. Neue Bilder hängen an den Wänden, eines davon ist heiß diskutiert: „Das Ende der Scham“ von Marie Dann. Es fällt direkt beim Eintreten ins Auge, weil es in Blickrichtung rechts prangt, übergroß und von einer Lampe hinterleuchtet. Es ist hellblau gehalten und offenbart bei genauem Hinsehen ein Motiv, das in dem Format und der Öffentlichkeit fast anrüchig ist: ein von zwei Fingern gespreiztes weibliches Geschlechtsteil nämlich. Abgesehen von der Farbe ist da nichts, was da irgendetwas versteckt. Anders als auf dem Cover des neuen Albums von Müller & die Platemeiercombo, „Castafiore“, das ein undurchdringliches Dickicht zeigt, in dem man mit nur wenig Vorstellungskraft ein ähnliches Motiv auszumachen in der Lage sein kann. Was natürlich offiziell nicht beabsichtigt und lediglich Ansichtssache ist, schon klar, die schmutzige Fantasie liegt ganz allein im Auge (oder sonstwo) des Betrachters. Interessant an dem Bild ist, wie viele Gäste hinter vorgehaltener Hand darüber tuscheln, obwohl das Motiv selbst nun beim besten Willen keine Hand vor auch nur irgendetwas hält. André freut sich diebisch, dass dies so ist, als er erklärt, dass das Bild im Rahmen der Sammelausstellung zur vierten Ausgabe des HBK-Buches „Kristel“ hängt und dass Marie Dann bereits hier und in der Einraumgalerie gegenüber die „Island“-Ausstellung bestückte.

Momentan ist André fast allein hier, er arbeitet nebenbei Jakob in der Küche ein. Chris hat zurzeit Urlaub, das verriet der mir kurz vor dessen Antritt schon. Urlaub wäre fein, zumindest das Wegfahren; ans Meer, die Seele betanken, war kürzlich mein Ziel, als ich mich morgens ins Auto setzte und gut vier Stunden später in Sønderborg an der Ostsee wieder anhielt. Fisch essen wollte ich gern, und ich erfüllte mir diesen Wunsch im laut Touristinfo einzigen Fischrestaurant der kleinen sympathischen Stadt am Alssund, direkt am Hafen, mit Blick aufs Schloss und auf die Klappbrücke, die alle paar Minuten ihre autoverkehrsbehindernde Arbeit verrichtete, indem sie Booten die Durchfahrt ermöglichte. Mein Menü bestand aus einer Lachspastete, die mit Krabben garniert war, und einer gigantischen Scholle mit Gemüse. Diese Scholle war einfach nur ungewürzt gegart und dann grob mit Salz und Pfeffer bestreut, ein Tropfen frischer Zitrone ergab den Rest. So zart war das Fleisch, dass ich es mühelos von den Gräten schieben und genüsslich verspeisen konnte. War das fein! Dazu ein dunkles Bier und etwas Sonne, was will man mehr am Meer. Na, vielleicht einen lustigen Dialog. Hinter mir saß eine Familie, dem Tonfall nach aus den USA. Die junge Kellnerin kam mit zwei Tellern aus dem Lokal nach draußen, ging an jenen Tisch und sagte zunächst: „The grilled salmon“, stellte den Teller ab, „and the …“, dann hörbar grübelnd, „well, what’s it called in English“, dann laut und bestimmt: „The other fish.“

Nicht Fisch noch Fleisch bestelle ich bei André, sondern wie üblich den Bonanza-Burger mit einer Kaffee-Kola. Micha durchsucht die Taschen seiner Jacke, weil er fürchtet, die Fußball-DVD verloren zu haben, die er hier für seinen Vater erwarb: „Schuld war Ulsaß“, über den Braunschweiger Verein FC Leu 06. Er findet die DVD und setzt sich wieder beruhigt hin. In elfeinhalb Minuten gibt es in dem Film Gespräche mit Zeitzeugen über einen Sachverhalt, in den der Spieler Lothar Ulsaß des Konkurrenzvereins Eintracht Braunschweig verwickelt war. Worum genau es geht, ist mir nicht so recht klar, vielleicht sollte ich mir die DVD auch mal zulegen, sechs Euro sind gerechtfertigt dafür. „Mein Vater sagt, Ulsaß war der beste Fußballspieler, der je in der Eintracht gespielt hat“, sagt Micha. Der Film ist von Dirk Masson, mit dem habe ich mal für die Presse gesprochen, wegen der Aktion „War Heinrich Büssing Eintracht-Fan?“ der Büssingianer, deren Mitglied er ist.

Die Sonne kommt herein, mit dem Effekt, dass die Gäste nun herausgehen. Bis auf uns, wir bleiben drinnen sitzen. Micha wartet auf Steffi, mit der er verabredet ist, was sie mir vorhin gar nicht erzählt hat. Sie wollen etwas essen, doch hat Micha schon jetzt Hunger und bestellt nach längerem Grübeln bei André die vegane Currywurst. Der warnt, dass man die nicht zwingend als Ersatz für eine echte Currywurst auffassen sollte, sie aber einen eigenen Geschmackscharakter habe. So ähnlich bestätigt es Micha, als er das Gericht dann probiert: „Schmeckt interessant.“ Die Stücke sehen aus wie Currywurst, das stimmt, und dazu gibt es Salat. „Ich schmeck zwar die Currywurst nicht, aber das Drumherum.“ Damit meint Micha die Soße: „Ist sehr intensiv.“ Er spießt das nächste Stück auf seine Gabel: „Das könnten auch Gurken sein.“ Später, wenn ich mit Micha und Jens vor der Videothek in der Sophienstraße sitze, wird Sidonie vorbeikommen und mir von einem veganen Mortadellaersatz aus Gurken vorschwärmen – wer weiß also, woraus die Wurst wirklich gemacht ist. Grün ist sie jedenfalls nicht. Die Mortadella aber auch nicht.

Bevor André bald in seinen verdienten Feierabend geht, möchte ich mich von ihm über den fünften Geburtstag der Filmreihe „Sound On Screen“ informieren lassen. „Das wollen wir feiern, mit Mark Reeder und dem Film ‚B-Movie’“, sagt André. Micha dreht sich mit vollem Munde um: „Ist das nicht mit ’ner Biene?“ André klopft ihm resigniert auf die Schulter: „Super.“ Und fährt fort, über Mark Reeder zu berichten, der Engländer ist, damals bei Factory Records involviert war, mit Joy Division und New Order und solchen Bands, und der dann aus Langeweile nach Berlin ging, um dort Ende der 70er, Anfang der 80er auf all die Ikonen zu stoßen, wie die Einstürzenden Neubauten. Über diese Zeit gibt es jetzt den Film „B-Movie“: „Den zeigen wir, Mark Reeder selber kommt auch, er legt ein bisschen auf – wir wollen euch feiern und feiern uns gleich ein bisschen mit.“ Termin ist am 11. September, fast auf den Tag genau fünf Jahre nach dem ersten „SOS“-Film: „The Doors – When You’re Strange“ lief 2010 genau eine Woche später. „Der 11. September ist einer der wenigen Tage, an die ich mich noch erinnern kann“, sinniert Micha in Erinnerung an die Ereignisse in New York im Jahr 2001. Das ist wenig, finde ich, was ist mit gestern? „Schon schwieriger“, sagt er und geht an die Theke, um bei André einen Milchkaffee und einen Kaffee zu bestellen. „Mit Milch?“, fragt André grinsend, und Micha lacht. Als er sich wieder zu mir setzt, kommt Steffi herein. Sie motiviert uns dazu, uns doch noch einen Platz draußen zu suchen.

Steffi und ich begrüßen uns mit der inzwischen üblichen Ghettofaust und dem Zusatz „38118“. Das brachte mir eine Freundin aus Hessen bei, die als Ex-Punk im Ordnungsamt arbeitet und berichtete, dass man dort zur Ghettofaust seine Postleitzahl sagt. Das ist so blöd, dass ich es liebe und mir sofort angewöhne. Interessant ist dabei, wie unterschiedlich die Leute ihre Postleitzahlen sagen. Dieselbe Freundin erzählte mir übrigens auch, dass ihre Leute dort am Lagerfeuer gerne Torfrock-Songs auf Hessisch singen. Alternierend zur Ghettofaust grüßen Steffi und ich uns auch aus der Ferne mit dem Westcoast-Zeichen der US-Rapper, wir kreuzen bei abgespreiztem Zeige- und Kleinen Finger den Ring- und Mittelfinger zum W, W wie Westliches Ringgebiet.

In diesem Moment tritt André mit einem Tablett an unseren Tisch; er hatte keine Mühe damit, unseren Umzug zu verfolgen. „Ein Kaffee mit Milch“, sagt er und stellt eine Tasse mit Kaffee ohne Milch vor Micha ab, „ein Milchkaffee“, der steht nun vor mir, und André greift ein drittes Mal aufs Tablett und wirft Steffi einen der leckeren Lotus-Karamellkekse zu. „Und ich krieg einen Keks?“, fragt sie verblüfft und gekonnt fangend. „Erstmal, vorab“, bestätigt André, und bevor Steffi die Karte durchblättern kann, rät er ihr: „Komm erstmal an“, und geht zurück. Micha sieht ihr dabei zu, wie sie den Keks aus der Folie nimmt und genussvoll abbeißt. „Guten Appetit, willst du meinen auch?“ Will sie gerne. Von der Firma hab ich einen Brotaufstrich aus diesen Keksen, „Speculoos“ heißt der in Belgien, wo ich ihn entdeckte; es gibt ihn auch in Deutschland, aber unter anderem Namen, zurzeit „Lotus Biscoff“ oder so. Schmeckt leider geil, um mal Deichkind zu bemühen. „Mit Aufstrich bin ich vorsichtig“, sagt Micha. Er habe mal Erdnussbutter probiert, weil er fand, dass sie lecker aussieht, doch: „Schmeckt gar nicht.“ Den Eindruck teile ich, obwohl ich Erdnussfan bin. Nachdem sich Steffi beide Kekse schmecken ließ, entdeckt sie auf meinem Unterteller einen weiteren, den ich nun selbst esse: „Hat er jetzt echt drei gebracht?“, fragt sie erstaunt. „Das ist ja nett.“

Im ganzen Handelsweg treibt die Sonne die Leute nach draußen. Achim sitzt vor seinem Tante Puttchen und liest Zeitung, Helmut lässt sich vor seiner Strohpinte zwar noch nicht blicken, hat aber viele Gäste dort, und Peter öffnet die Einraumgalerie. Dort sind zurzeit Gemälde von John Crisp ausgestellt, kuratiert von seiner Enkelin Fiona, die in Braunschweig wohnt. John Crisp lebte auf einer Insel bei Newcastle und verarbeitete dort künstlerisch seine Eindrücke, die er vermutlich im Zweiten Weltkrieg als Bomberflieger gesammelt hatte. Mit solchen Kenntnissen lassen sich die zeitlos wirkenden, farbenfrohen Arbeiten sehr leicht mit Inhalten füllen. Fiona erbte John Crisps Gemälde und wählte die hier gezeigten Werke aus einem großen Fundus aus, wie sie mir kürzlich erzählte. Ein Foto von der Insel hängt ebenfalls in der Galerie, St. Mary’s Island. Schon wieder die See.

Steffi blättert im Menü. „Ich glaube, ich probiere mal den Riptide-Burger“, überlegt sie, „und dazu einen Agavendicksaft?“ Sie grinst. Ist das nicht eine Reptilienart? Sie greift nach dem kleinen Aufsteller, der auf grünem Papier die saisonalen Angebote anpreist. „Nee, gibt’s noch Ingwer … ?“ Sie sucht vergeblich danach, und ich stelle fingerzeigend fest, dass sie unter „Frische“ nachgucken muss, „Frische Ingwer-Limetten-Limo“ nämlich. André verfolgt den Dialog grinsend von der Tür aus und kommt zu uns. „Ich hätt gern die Frische Ingwer-Limetten-Limo“, ruft Steffi ihm zu. „Natürlich ist die frisch“, grinst André. „Habt ihr noch die alte?“, fragt Steffi schalkhaft. André widerspricht: „Nee, die pressen wir in der Küche ganz frisch aus.“ Steffi will mehr: „Und ich probier mal den Burger, mit Tijuana und Edamer.“

Als Micha und Steffi sich gerade über Michas jüngsten Veranstaltungseintrag auf Steffis Magazin „Kult-Tour – Der Stadtblog“ unterhalten, kommt Raze an unseren Tisch. Er gibt jedem die Hand, und Micha stellt fest: „Dich habe ich ja lange nicht gesehen.“ Raze nickt, schlendert in Richtung Café weiter und sagt: „Ich hol mir mal ein Alkfreies.“ Der Schichtwechsel hat eingesetzt, jetzt sind Aline und Jasmin im Einsatz. Aline kommt mit einem Tablett an unseren Tisch: „Die Limonade?“ Steffi streckt ihr ihre Hand entgegen: „Die ist für mich, danke.“ Aline geht zurück ins Café und kommt stehenden Fußes mit dem nächsten Tablett zurück: „Der Burger?“ Steffi streckt sich ihr erneut entgegen: „Ist auch für mich, danke.“ Jetzt kommt Raze mit einem alkoholfreien Hefeweizen und setzt sich zu uns. „Wir haben uns ja ewig nicht gesehen“, sagt Micha und schüttelt ihm die Hand. Raze ist perplex: „Wir haben uns doch grad schon begrüßt … ?“

Doch Micha meint das auch in Bezug auf Social-Media-Plattformen wie Facebook. „Da hab ich mich abgemeldet“, sagt Raze. Er konzentriere sich vielmehr auf Twitter und Soundcloud, um unter dem Namen DR seine Ambientmusik publik zu machen. Das interessiert Steffi, die die ihr Magazin ebenfalls kürzlich einen Twitter-Account einrichtete und von dem Erfolg noch nicht so recht überzeugt ist. Raze bestätigt, dass man bei Twiter geduldig sein muss. Sie tauschen sich über Hashtags und andere Details aus.

Eigentlich wollte Raze nur kurz nach draußen, um Aufnahmen zu machen, Field Recordings quasi, die er dann zu Musik verarbeiten würde, „aber es ist zu windig“. Ein nichtalkoholisches Getränk hier ist ja auch fein. Und was ist mit dem Tape, das er mal ankündigte? „Das musste ich umkrempeln“, sagt Raze, weil es jetzt wohl auf einem anderen Label erscheinen soll. Er arbeitete auf dem Album unter anderem tatsächlich stilecht mit Tapeloops. Aber: „Es war zu lang, mit 80 Minuten.“ Micha versteht: „Die kriegste nicht gerollt.“ Steffi staunt: „Du bringst eine Kassette raus?“ Raze bestätigt und erläutert, dass das Tape besonders in nichtwestlichen Ländern nicht ausgestorben sei, aber auch in Japan nicht. Aus dem Internet und von Steffen von Cryptic Brood weiß ich, dass nicht nur im Ambient, sondern auch im Black Metal zurzeit Tapes wieder angesagt sind. Steffi ist verblüfft: „Das hab ich gar nicht mitgekriegt.“

Raze und Micha unterhalten sich über den Saisonstart der Zweiten Bundesliga. Schon seltsam, noch Anfang des Monats sahen Micha und ich Spiele der Frauenfußball-Weltmeisterschaft, aber das ist schon wieder gefühlt sehr weit weg. Ein älterer, in Beige gekleideter Mann schiebt plötzlich sein Fahrrad an unseren Tisch und klopft auf die Platte. „Wissen Sie, wie das heißt hier?“ Während ich noch überlege, was genau er mit „hier“ gemeint haben könnte, antwortet Micha: „Handelsweg.“ Das scheint tatsächlich die gesuchte Information zu sein, der Mann erzählt: „Als Kinder haben wir hier gespielt und das ‚Selam-Bazar‘ genannt. „Sedan-Bazar“, korrigieren wir. „Selam? Sedan?“ Der Mann grübelt, sagt „danke“, schiebt sein Fahrrad weiter und blättert bei Comiculture in der Hefteauslage. „Ich habe noch nie gehört, dass jemand den alten Namen nennt“, sagt Steffi. Bei Razes Familie hingegen sei der sehr wohl noch parat.

Im Eilschritt wetzt Stefan von Comiculture durch den Handelsweg. Ich kann ihm gerade noch nachrufen, dass meine Simpsons-Figuren wie vereinbart bei ihm eingetroffen sind, da ist er schon nickend in seinem Laden verschwunden. So viele Stefans im Handelsweg, allein in der Einraumgalerie sind es drei. Kürzlich entdeckte ich im Internet ein Foto, das jene drei Stefans in Gesellschaft von Steffi zeigt, mit der brillanten Unterzeile: „Irgendwo auf diesem Foto ist ein ‚ie‘ versteckt.“ Steffi grinst: „Das hat Micha gemacht.“ Der bestätigt das: „Stimmt, ist Ewigkeiten her.“ Wir lassen das Treffen nun ausklingen, jeder hat noch etwas anderes vor. Noch ahne ich nicht, dass ich Micha gleich bei der Videothek wiedersehen werde. Es gibt noch so viel zu besprechen.

Matze Bosenick
www.krautnick.de

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert