Montag, 24. August 2015
Die jeweils zweistellige Kombination aus Monat und Jahr ergibt in diesem August die Chiffre für die Durchschnittlichkeit schlechthin, benannt nach einem Maschinengewehr aus dem Ersten Weltkrieg, das heuer auch noch genau 100 Jahre alt wird: 08/15. Das fiel mir tatsächlich auch erst auf, als ich die dem Musikexpress beigelegte CD aus der Plastikfolie nahm und zunächst über den aufgedruckten Titel „0815“ stutzte. Auch die „taz“ widmete sich in der Ausgabe vom vergangenen Wochenende in ihrem Schwerpunkt dem solcher Art codierten Mittelmaß. Und dieser Sommer gibt sich augenfällig alle Mühe, die zahlenimmanenten Bedingungen zu erfüllen: Er schwankt zwischen notwendiger Heizung und schwüler Hitze, mit viel zu wenigen klimatisch angenehmen Tagen dazwischen. Ein solcher war der gestrige, an dem ich quasi meine überfällige Braunschweig-Taufe erfuhr, indem ich erstmals ein Bad in der Oker nahm. Aber das nur am Rande, beim Thema Musikexpress fällt mir nämlich noch das Oxymoron ein, das sich der Rolling Stone kürzlich leistete: Vermutlich lag es daran, dass da ein US-Artikel transkribiert wurde, und die US-Autoren erkennt man an ihrem manierlichen Stil sogar in der Übersetzung. Jedenfalls schrieb da jemand über eine Schauspielerin der TV-Serie „Orange Is The New Black“, sie „nähte sich ihre Secondhandklamotten selbst“. Das finde ich fantastisch, seitdem schreinere ich mir meine eigenen Sperrmüllmöbel.
Trotz der zu erwartenden Gewitterstürme will ich heute draußen sitzen, im Achteck vom Café Riptide, unter der Segeltuchplane, denn wer glaubt schon der Wettervorhersage. Weil es noch kurz vor Mittag und also vor der offiziellen Riptideöffnung ist, kehre ich zunächst bei Comiculture ein und frage Stefan, ob mein bestelltes Hardcover von Flix‘ „Faust – Der Tragödie erster Teil“ bereits eingetroffen ist. „Der hat einen guten Strich“, lobte auch Stefan bei meiner Bestellabgabe den Zeichner, aber heute muss er mich noch vertrösten und tut dies, indem er mir freundlicherweise zwei Ausgaben vergangener Gratiscomictagecomics mit auf den Weg gibt.
Und obwohl es immer noch vor zwölf Uhr ist, lässt mich Vicky schon an einem der Tische draußen Platz nehmen. Marco fegt noch akribisch um meinen Stuhl herum, ich warte artig, bis er sagt: „Setz dich, nimm dir einen Keks.“ Ich stelle grinsend fest, dass dieser Aufforderung im Original noch ein „Du Arsch“ folgt. Marco grübelt, woher das Zitat kommt, und ich bestätige seine Mutmaßung, dass es „Life Of Brian“ ist. Marco schwärmt von dem intelligenten Unsinn, den Monty Python entwickelten, und meint, dass danach in Sachen Comedy nichts Vergleichbares mehr kam.
Vicky bringt mir meine obligatorische Kaffee-Kola, und nach einer Weile setzt sich Arni zu mir. Wir haben uns ewig nicht gesehen und entsprechend viel zu erzählen. Arni bekommt von Vicky eine Rhabarberschorle, dann radelt Fossi durch den Handelsweg, sieht uns, stoppt kurzerhand und setzt sich mit dem Fahrrad im Anschlag auf den freien Platz an unserem Tisch. Vicky fragt ihn breit grinsend: „Willst du ein Radler?“ Fossi ist so irritiert wie wir und sagt: „Äh, nein?“, und erst dann begreifen wir gleichzeitig, dass Vicky auf sein Gefährt anspielt. Sie kichert: „Das musste sein.“
Doch Fossi will nach einem kurzen Intermezzo schon weiter. Seinen Platz nimmt nur wenige Momente darauf Jogi ein. Arni und er kennen sich noch nicht, nur vom Hörensagen bislang. Als Arni erwähnt, dass er für eine Gitarre spart, will Jogi ihm eine aus seinem Fundus anbieten, doch Arni wehrt ab: „Ich habe bei Schepper im Laden eine Gitarre gefunden.“ Schepper ist Verkäufer bei More Than Music in der Wilhelmstraße. Jogi weiß das: „Da arbeite ich auch, in der Musikschule als Gitarrenlehrer.“ Kleine Welt, wie immer. Arni schwärmt von der Breedlove-Gitarre, die er für sich entdeckte, und dass die als einzige dort ausprobierte so besonders bei ihm klang wie keine andere, und dass sie auch nur bei ihm wohl so besonders klang wie bei sonst niemandem. Schepper und er seien verblüfft und überzeugt von der Kombination gewesen. Jogi versteht das: „Die Gitarre, die was macht, und der Spieler, der was macht, das muss zusammenpassen.“ Arni nickt: „Man kauft ja auch nicht so oft Gitarren, vielleicht alle zehn Jahre mal.“ Davon ist Jogi nur bedingt überzeugt: „Ja, aber!“, stottert er mit großen Augen und überrascht von der Aussage. Er gibt dann aber zu, dass er sich tatsächlich auch momentan weniger auf Gitarren konzentriert, dafür aber auf kleinere Instrumente, wie Mandolinen etwa, von denen er womöglich auch ausgewählte Exemplare verkaufen würde. „Das interessiert mich auch, da könnten wir ins Geschäft kommen“, sagt Arni. Jogi überlegt, einmal Metalsongs mit Geige oder Mandoline nachzuspielen, und da werfe ich Steve’n’Seagulls ein, die Finnen, die so etwas ebenfalls machen, und sofort fangen Arni und Jogi an, von denen zu schwärmen, von „Thunderstruck“, „The Trooper“ und deren Metallica-Versionen.
Während sich die beiden darüber austauschen, wie Mandolinen überhaupt gestimmt werden, wie Geigen nämlich, denke ich an den jüngsten Sonntagsausflug mit einer Freundin an den Südsee, an den ich sonst selten und sie bislang sogar noch nie Ausflüge machte. Jogi holte uns auf dem Weg dorthin zufällig mit dem Fahrrad und mit Instrumententaschen bepackt ein. Er wollte eigentlich in seinen Büchern über Musiktheorie stöbern, sagte er, und schloss sich uns kurzerhand an. Am Südzipfel des Sees fanden wir eine für uns geeignete Ruhestelle, breiteten Decken aus und ließen uns nieder. Während sich die Freundin bei tiefstehender Sommersonne in den See gleiten ließ, spielte Jogi auf der Mandoline russische Volkslieder. Herrlich. Ich kam mir vor wie in einem schwedischen 70er-Jahre-Film.
Jetzt erzählt Jogi Arni von den Okerfloßtouren, die er mit seiner Band Arjomi im Sommer regelmäßig macht. Die letzte für dieses Jahr findet am 13. September statt, ab 16 Uhr von der Floßstation am Kennedyplatz aus. Im vergangenen Jahr war ich dabei, im Rahmen einer Geburtstagsfeier, ebenfalls beim Jahresabschlusstermin. Wenn Arjomi auf der Oker spielen, dann grundsätzlich mit Lord Schadt als Kapitän. Der machte unter den akustisch vorteilhaften Brücken kleine Pausen und drehte, sobald sich die Band in einem hypnotischen Loop verlor, an einer Okergabelung rotierend Kreise. Die Weltmusikfolklore mit Elementen aus Irland, von Indianern und aus sonst welchen psychedelisch behafteten Einflüssen passte perfekt zu der Tour. Wenn ich es schaffe, will ich im September auch wieder dabei sein; Arni fürchtet, dass er dann arbeiten muss.
Käpt’n Schadt und Arni verbindet etwas, das ich Arni gerade in die Hand drücke: Er gestaltete das Titelbild für des Lords Buch „Johny & Jack @ Moe’s“. Arni malt nämlich gelegentlich mit Kreide, in diesem Fall eine Barsituation, im für ihn typischen dunklen Blau. Und der Lord war überdies einer der vier Mitschwimmer gestern Abend in der Oker. Für den Piraten vermutlich auch mal eine etwas andere Perspektive auf den Fluss, der ihm sonst sommers schippernd das Einkommen sichert.
Ein weiteres Buch liegt bei mir auf dem Tisch: „Die Wahrheit über Braunschweig“, eine Anthologie von Andreas Reiffer, druckfrisch in seinem Verlag erschienen. Darin lassen sich auf sympathische Weise 15 Literaten über diese unsere Heimatstadt aus, zwischen Lobhudelei und Lästerei, darunter auch Riptide-Weggefährten sowie sonstige Bekannte wie Axel Klingenberg, Dominik Bartels, Frank Schäfer, Gerald Fricke, Hardy Crueger, Marcel Pollex, Till Burgwächter, Wiebke Saathoff. Noch habe ich es zwar nicht ganz durch, fühle mich aber wie bei den Anthologien aus dem Reiffer-Verlag gewohnt bestens unterhalten.
Zum Lesen komme ich hier und jetzt sowieso nicht, gottlob. Jogi erzählt von der Idee, einen Vinyl-Abend zum Thema „Psychedelische Musik“ zu machen, und dann „ganze Plattenseiten“ zu spielen, wie „Die Grüne Reise“ von Achim Reichel, von der mir Schepper zufällig gerade am Samstag noch vorschwärmte. „Das ist eine Hammerscheibe“, findet auch Jogi. „Monsieur Reichel hat sich ein Digitaldelay zugelegt und damit herumexperimentiert.“ Das war 1971 und unter dem Namen „A.R. & Machines“, kurz nach Reichels Ausstieg bei den Rattles und Jahre vor dem unsäglichen „Aloha Heja He“, das bei Discogs nicht von ungefähr unter „Schlager“ gelistet wird. „Eine dicke Tüte und zurücklehnen“, sagt Jogi entspannt bei der Imagination eines solchen Vinylabends: „Theoretisch ist es das, ja.“ Von Scheppers jüngstem Solobass-Auftritt bei den Eiko-Musikschöpfungen in der KaufBar schwärmen Jogi und ich gleichermaßen. Musikalisch war es wie immer großartig, aber auch sonst. Nach dem ersten Song entstand eine Pause, bevor das Publikum reagierte, und Schepper sagte: „Es ist so still, man kann eine Steckrübe fallen hören.“
Das Achteck ist längst schon voller Gäste. Vicky ist schwer beschäftigt, auch André kommt ab und zu vollbepackt ins Café. An einem Tisch sprechen die Gäste lauthals und fröhlich natives Englisch, an einem anderen spielen zwei Strategen still versunken Schach. Helmut öffnet die Strohpinte und schwatzt mit den ersten Gästen, Achim sitzt zeitunglesend vorm Tante Puttchen, während die ersten Leute bei ihm Platz nehmen. Serges Laden ist montags geschlossen; sein neues Buch „Lucky Man“, das er als pdf herausbrachte, hab ich mir bei unserem jüngsten Treffen schon gekauft: Der USB-Stick ruht in einer edlen Metallbox, die zumindest optisch die Anmutung eines Buches hat, wenn der Inhalt schon nicht auf Papier gedruckt ist. Sina tritt jetzt ihren Dienst an und unterstützt Vicky, beide erfrischen nicht nur mit Getränken, sondern auch mit ihrer charmanten Freundlichkeit.
Und jetzt bekommt Arni Besuch, denn aus dem Café kommen Bastian Till und Lena an unseren Tisch. Bastian Till und Arni waren mal Kollegen, jetzt betreibt Bastian Till in Gifhorn ein Stadtmagazin namens „Kurt“, oder besser „KURT“, wie er es geschrieben wissen will. Er und Lena arbeiten gerade an der neuen Ausgabe, die heute eigentlich hätte fertig werden sollen, „aber das klappt nicht“, so Bastian Till, „und wir hatten Hunger“. In Gifhorn gebe es keine veganen Speisenangebote, was Bastian Till als Vegetarier nicht so sehr trifft wie Lena als Veganerin, „und deshalb mussten wir herkommen“, sagt sie. „Trotz enormen Zeitdrucks“, ergänzt Bastian Till. Diese kleine Mittagspause nutzte er nebenbei für ein kleines dienstliches Treffen. „Und dafür machen wir heute Abend länger“, weiß Lena gespielt resigniert.
Im „KURT“ standen Arni und ich auch schon mal drin, und zwar, als wir kürzlich an einer Startnext-Kampagne mit Olafs Projekt Blinky Blinky Computerband beteiligt waren. Dabei sollte eine LP herauskommen, was zwar später scheiterte, aber dort den Kern des Artikels bildete. Als das Treffen mit Bastian Till, Olaf und Arni stattfand, war ich gerade im Ruhrgebiet unterwegs; jetzt lernte ich den „KURT“-Chef also endlich persönlich kennen, wenn auch gehetzt, denn Lena und ihn pressiert es, sie müssen dringend zu einem Termin nach Gifhorn zurückfahren.
Jogi will auch nach Hause; er überlegt, ob er sich noch seine Instrumente schnappt und im Park üben geht. Da macht ihm leider der einsetzende Regen einen Strich durch die Rechnung. Der begleitet nun auch Arni und mich nach Hause. Und leider kühlt der Regen die Luft nicht ab, sondern fördert eine drückende Schwüle. Was für ein 08/15-Sommer.
Matze Bosenick
www.krautnick.de