#99 Eine gemütliche Ordnung

Dienstag, 26. Januar 2016

Huh: 99 Einträge im Riptide-Blog sind bei einem Eintrag pro Monat heute genau 100 Monate Café Riptide, denn gleich beim zweiten Eintrag im November 2007 gab es nämlich die bis dato einzige Unterbrechung dieses Rhythmus‘. Neunundneunzig also. Die letzte zweistellige Zahl. Die auch im Pop ständig auftaucht: Von „99 Luftballons“ sang Nena etwa, Jay-Z hatte „99 Problems“. Megadeth kannten „99 Ways To Die“, Ministry bebrüllten die „99 Percenters“, The KLF baten „Make Mine A ’99’“, Soul Asylum hatten von irgendetwas „99%“. „99%“ lautete auch der Titel des zweiten Albums von Meat Beat Manifesto. Suzanne Vega erhitzte sich auf „99.9F°“, was natürlich eine Neun zu viel ist; dann könnte ich auch die Band 999, das Album „4:99“ der Fantastischen Vier oder die Single „1999“ von Prince hier auflisten. Aber es gibt haufenweise CDs mit 99 Tracks, von denen natürlich die wenigsten auch wirklich 99 Songs haben. Eine davon ist der Sampler „Short Music For Short People“, der sogar 101 Songs hat, davon aber die letzten drei auf dem Neunundneunzigsten Track vereint. Die meisten Bands verbergen auf diese Weise irgendwelche Hidden-Tracks im Anschluss an das normale Album, wie Eläkeläiset auf „Werbung, Baby“, wobei die anderen Tracks nicht einfach nur leer sind, sondern einen Livekommentar von einem Rennen mit Mika Häkkinen beinhalten. Die letzten beiden Tracks der „Broken“-EP von Nine Inch Nails sind mit den Stücken einer ursprünglichen Bonus-3“ (sowie 7“ in der Vinyl-Version) belegt. Und à propos Pop, früher, als der Papst noch auf dem Baum boxte, ist man noch für 99 Pfennig ins Jolly Joker gekommen… Aber ab davon.

Heute geht’s nämlich ins Riptide. Ins warme und wohlige. Leider sind es keine minus sechzehn Grad mehr, wie noch letzte Woche, und auch der ganze schöne weiße herrliche Schnee ist weg. Wie schade. Dieses graue Nasse ist nämlich trotz erhöhter Temperatur viel ungemütlicher. Also rein ins Café, wo André mich begrüßt und mir gleich einen Kafka kredenzt. Mir fällt auf, dass das Lemmy-Schild gegen ein David-Bowie-Schild ausgetauscht ist. „Jetzt noch der Großmeister…“, steht über einem Foto aus dem Film „Labyrinth“, in dem Bowie eine fiese Vokuhila-Frisur trug. Unter dem Foto steht „R.I.P. 08.01.1947 – 10.01.2016“. Bowies letztes unfassbar gutes Album „★“ (alias „Blackstar“) war an seinem Todestag als LP im Internet fast nur noch zu dreistelligen Preisen zu haben, im Riptide leider schon gar nicht mehr. Aber bald wieder, wie ein Zettel neben der Kasse verrät.

Außerdem verrät mit André, dass mit David zurzeit ein Schülerpraktikant im Riptide im Einsatz ist, aber morgen seinen letzten Tag hat. Ich weiß nicht, wie oft mir das jetzt passiert ist: Ich lerne Schülerpraktikanten im Riptide immer an ihrem vorletzten Tag kennen. David dürfte der dritte oder vierte sein. „Eigentlich ist Freitag der letzte Tag, aber er geht eher wegen der Zeugnisferien“, erklärt mir André und bringt kurz Bernd seinen bestellten Kaffee in die Rip-Lounge.

Mir gefällt der leuchtendgelbe Sternsticker an der LP-Kiste mit der Aufschrift „Sonderangebote“, auf dem steht: „kauf ZWEI zahl DREI“. Der Witz ist zwar alt, aber wenn er mir so unkommentiert und unerwartet als scheinbare Tatsache unterkommt, muss ich lachen. André grinst und zuckt mit den Schultern. „Ich muss kurz in die Küche, Crêpes machen“, sagt er und geht kurz in die Küche, vermutlich, um Crêpes zu machen.

Dafür nimmt David Andrés Platz hinter der Theke ein. Er ist 16 und Schüler am MK, dem Gymnasium Martino-Katharineum hier um die Ecke. „Zwei Freunde haben hier vor zwei, drei Jahren Praktikum gemacht“, erzählt er. „Alex und Niklas.“ Stimmt, Alex hab ich kennen gelernt, im Januar 2013. „Und André wohnt zwei Stockwerke über mir.“ So klein ist Braunschweig, aber das wissen wir ja. „Ich bin oft hier als Kunde“, sagt David. „Der Laden gefällt mir.“ Er schwärmt von der Stadtnähe und der kulturellen Vielfalt des Handelswegs. „Die zwei Wochen, die ich hier war, waren echt gut.“ Jetzt hat er eben mal die Seite des Tresens gewechselt. „Genau das hat mich interessiert“, nickt David. Da er noch nie in einem Café oder Restaurant gearbeitet habe, sie für ihn interessant, wie es hinter den Kulissen abläuft: „Dass trotz des wenigen Platzes alles so gut läuft, das hat mich überrascht – dass alles so eine gemütliche Ordnung hat.“

Jetzt stehen ja erstmal die Zeugnisferien an. „Ich werd wahrscheinlich auch mal hier vorbeikommen“, sagt David mit einem Grinsen. Und den Praktikumsbericht muss er noch schreiben: „Morgen mache ich Fotos und ein kleines Interview mit André.“ Und dann sagt David das, was mir alle Schülerpraktikanten vor ihm auch schon gesagt haben: „Generell war es sehr entspannt, weil ich erst um 11 Uhr aufstehen musste.“ Auch könne er deshalb die Abende besser nutzen. Das Spannendste, das er im Riptide als Praktikant erlebte, war die jüngste Veranstaltung im Rahmen der Musikfilmreihe Sound On Screen: „Da durfte ich das einzige Mal auch abends arbeiten, bis 22 Uhr.“ Das war zum Film „Sumé: The Sound Of A Revolution“ über die grönländische Band Sumé, als im Anschluss an das Programm im Universum-Kino die Band Souljacker im Riptide auftrat. „Es war interessant, wie wir alles wegräumen mussten und trotz des wenigen Platzes die Band ihr Equipment aufbauen konnte“, erzählt David. „Wir brachten sogar die Stühle in den Keller, alles hat hier seinen Platz – und als die Leute hier waren, war es gar nicht so stressig.“ Wenn David morgen seinen letzten Tag hat, soll es genau jener nicht sein: „Ich erhoffe mir halt, dass ich mal im Sommer oder so mal über die Ferien hier arbeiten kann“, sagt er.

Und in Sachen Musik, wie ist er da im Riptide repräsentiert? „Ich spiele Klavier“, sagt David überraschend. „Und ich bin oft bei Freunden, die in einer Band spielen, im Proberaum und höre ihnen beim Proben zu.“ Auch als Sammler kommt er auf seine Kosten: „Ich habe mir gerade was bestellt von Kyuss, ‚Welcome To Sky Valley‘, die kannte ich noch nicht.“ Uha, mit 16 habe ich definitiv noch andere Sachen gehört, deutlich leichtere. David nicht, sein Spektrum ist weit, wie er aufzählt, und er zählt schneller auf, als ich mitschreiben kann – ich erinnere mich an Hip Hop, Stoner, Metal, Jazz und Blues, und das ist nur ein kleiner Teil. „Ich habe jetzt auch einen Plattenspieler und mir öfters Platten gekauft“, sagt David. Tja, als ich 16 war, bin ich gerade auf CD umgestiegen, 1988. Und Kyuss habe ich ohnehin erst in den letzten paar Jahren mögen gelernt, früher hielt ich die für langweilig, bis ich mehr oder weniger zum genauen Zuhören, nun, überredet wurde und dann erkannte, was in der Mucke steckt. „Generell die Musik von Josh Homme“ mag David, auch Eagles Of Death Metal und Queens Of The Stone Age, jedenfalls die frühesten Alben. Mit den beiden Bands habe ich mich hingegen immer noch nicht anfreunden können. David fährt fort: „Auch Nick Oliveri, auch nur in den Anfängen.“

Jetzt kommt Chris aus seiner Pause zurück. Gerade erzählt mir David, was so seine Aufgaben im Riptide waren: „Standardmäßig die Spülmaschine putzen“, setzt er gerade an. Chris unterbricht ihn grinsend: „Die Klos mit der Zahnbürste putzen nicht vergessen.“ Das zwar nicht, aber David hatte heute eine andere Aufgabe dort: „Das Männerklo streichen, Schmierereien wegmachen.“ Außerdem Service und LP-Trennregister mit Benzin reinigen. „Oft, als ich anfing, war ich erstmal einkaufen“, sagt er. „Das fand ich ganz gut, entspannt, dabei kann man Musik hören.“ Auch der Service habe ihm Spaß gemacht: „Das waren vielfältige Aufgaben.“

Wie so oft in jüngster Zeit, wenn ich hier bin, kommt Marcus auch jetzt ins Café. „Kann ich Dir helfen?“, fragt ihn David. Marcus bejaht: „Ich hätte gern zwei Seven-Inch-Hüllen.“ David sucht sie unter dem Tresen, doch nur André weiß, wo sie sich wirklich befinden, und kommt aus der Küche heraus zu Hilfe. Als Marcus und ich uns zuletzt im Riptide trafen, war gerade Lemmy gestorben. Ich deute auf das Bowie-Schild. „Da merkt man, dass man älter wird“, sagt Marcus. André entnimmt einem Seven-Inch-Hüllen-Stapel zwei einzelne Hüllen. Ich frage ihn, ob sie auch für Achim Mentzel einen Pappaufsteller anfertigten. „Leider nein“, sagt André. Für Guru Josh auch nicht. Er reicht Marcus die beiden Hüllen. „Für meine beiden Seven-Inches“, grinst Marcus.

Auf kulinarischer Ebene nennt André mir einige Neuerungen des neuen Jahres. „Wir haben regelmäßig donnerstags wechselnde vegane Torte im Angebot“, sagt er. „Und durchlaufend vegane Cupcakes und vegane Cookies.“ Er grinst: „Riptide 2.0.“ Die sicherlich nicht nur optisch ansprechenden kleinen Kuchen sind in der Vitrine auf der Theke verlockend angerichtet. Nächstes Mal.

Es gibt weiteren Zuwachs hinter der Theke: Conny bindet sich die Schütze um. „Ich mache hier einen Nebenjob“, erzählt sie mir. Seit Oktober ist sie da, kennen gelernt habe ich sie bislang noch nicht. „Ich spare gerade ganz viel Geld, um mir einen Bus zu kaufen und damit herumzureisen“, sagt sie. Spannendes Vorhaben, einen VW-Bus? Sie lacht: „Das wäre schön, mal sehen, was sich ergibt.“ Nebenjob klingt nach Studium, aber da irre ich mich: „Ich habe noch einen anderen Minijob, also gehe nur arbeiten.“ Conny wackelt leicht mit dem Kopf und singt fast: „Sonntag ist mein freier Tag.“

Chris legt den Hörer auf. Oder wie man heute sagt bei schnurlosen Telefonen, er beendet das Gespräch. Und hat Zeit, mir von weiteren Plänen zu berichten, denn André hat bereits Feierabend: „In der Winterzeit machen wir mehr Konzerte als im Sommer, wo wir nämlich gar keine machen.“ Das nächste findet an einem Dienstag statt und ist von einem nach Chris‘ Einschätzung den meisten Leuten eher unbekannten Musiker, aber: „Es ist eine Herzensangelegenheit von André und mir – J. Robbins.“ In der Tat, auch mir sagt der Name nichts. „Der ist eine Legende“, verfällt Chris sofort ins Schwärmen. „André und ich sind groß geworden mit DIY-Hardcore-Punk“, beginnt er zu erläutern. J. Robbins spielte in Bands wie Jawbox, Burning Airlines, Government Issue – „und Scream, mit Dave Grohl“. Chris erwähnt das Label Dischord, und damit kann ich dann auch wieder etwas anfangen, als Fugazi-Hörer. „Danach ist er ein Produzentengott geworden“, fährt Chris fort und zählt unzählige Bands und Alben auf, die unter Robins‘ Regie entstanden. „Er kommt solo hierher, um seine Solo-Songs zu präsentieren“, sagt Chris und ist kaum zu stoppen. „Das ist etwas Besonderes für uns.“ Das merkt man! Am Dienstag, 16. Februar, findet dieser Auftritt statt, natürlich im Riptide. „Alles, was in der Punk-Hardcore-Szene war, hat er produziert“, kehrt Chris zurück zum Thema seiner Fassungslosigkeit. „Die erste Band, die Dave Grohl hatte!“ Robbins hat nur vier Termine in Deutschland, da sei der für Konzerte eher ungünstige Dienstag auch egal: „Es wollen Leute aus Hamburg und aus Leipzig kommen: ‚Was, J. Robbins?‘, und in Braunschweig – keiner.“

Bevor Chris zu hyperventilieren beginnen kann, kommt Bernd aus der Rip-Lounge herüber, um seinen Kaffee zu bezahlen. „Ist das ein Witz, den ich nicht verstehe?“, fragt er mit Blick auf den gelben Angebotsstern an der LP-Kiste: „kauf ZWEI zahl DREI“. Chris lacht: „Das ist auf meinem Mist gewachsen, das hat noch keiner kommentiert.“ Bernd und Chris mutmaßen, dass es wohl niemandem auffällt. Oder dass niemand etwas kauft, weil jeder glaubt, dann mehr bezahlen zu müssen, so Chris: „Dann wär’s ein Eigentor.“

Im Februar geht es auch weiter mit Sound On Screen, fährt Chris fort: „Wieder was Besonderes, weil es eine Ikone ist: Janis Joplin.“ Das Universum-Kino zeigt am Freitag, 19. Februar, den Film „Janis: Little Girl Blue“. „Im Anschluss haben wir auch was Besonderes: Hanni Morr“, so Chris. „Wir haben mit ihr zwei Platten gemacht, mit Roskinski Quartett, jetzt kommt sie solo und sing auf Deutsch.“ Er vergleicht sie mit Dota, die ich nicht kenne. „Es freut uns auch, dass wir nach dem Ende von Roskinsi Quartett mit ihr weitermachen.“ Hanni Morr, das ist also Anna Roskinski. „Eine tolle Stimme hat sie, ihre Texte sind persönlich und entwaffnend, deshalb an Dota erinnernd“, sagt Chris. „Und ganz ganz ruhig und zurückhaltend, die Musik.“ Von einem Album ist hingegen noch keine Rede: „Wir unterstützen sie erstmal.“

Und dann kommt auf die Kunden wohl bald leider etwas Ungemach zu, kündigt Chris an: „Ende des Jahres gab’s einen Wasserschaden in der Riplounge, nicht von uns verursacht, da muss renoviert werden, die letzten Spuren beseitigen.“ Es kann passieren, dass die Lounge dann für ein, zwei Tage geschlossen wird: „Den Ausfall müssen wir mit einplanen“, bedauert Chris. Doch bevor ihn diese Aussicht aus seiner Euphorie reißen kann, kommt schon der nächste Gast und berichtet von Abenteuern als Tourbegleiter in einem uralten Acht-Bett-Polizeibus. Für mich ist es leider Zeit, ins ungemütliche Chaos zurückzukehren. 100%!

Matze van Bauseneick
www.krautnick.de

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