#107 Zwillinge

Freitag, 23. September 2016

So richtig oft bin ich in diesem September leider gar noch nichts ins Café Riptide gekommen. Anfang des Monats war ich da, weil meine Bestellung eingetroffen ist: „Mausoleum“, die neue EP von Myrkur, dem dänischen Ein-Frau-Black-Metal-Projekt, das nach dem Isländischen Wort für Dunkelheit benannt ist (weil es auf Dänisch mit „Mørk” deutlich weniger mystisch-eindrucksvoll klänge) und im titelgebenden Bauwerk live aufgenommen wurde, mit einem Kinderchor und ohne die üblichen Bandinstrumente. So geht Black Metal heute. Außerdem nahm ich mir die aktuelle Intro mit und bestellte mir die neue EP von Placebo, die wie ein Hit von Talk Talk heißt und die angekündigte neue Best-Of begleitet: „Life’s What You Make It“. Kein Wunder: Es ist ein Cover des nämlichen Songs. Nicht das erste, nach The Gathering und Rowland S. Howard, den Placebo auf der EP kurioserweise ebenfalls covern, mit „Autoluminescent“. Nicht bestellen konnte mir Chris leider die „Disintegration EP“ von Vanessa van Basten, einer Stoner-Doom-Band, die deren Label Taxi Driver Records kürzlich wiederveröffentlichte. Wie es der Titel suggeriert, verdrogen die Italiener darauf vier Songs von The Cures gleichnamigem Album, was die neuen Titel wie „Plainbong“ deutlich machen. Das Label ist jedoch zu klein, um international bestellbar zu sein; für den Erwerb der EP muss ich wohl wirklich mal wieder nach Italien fahren.

Okay, dieses Mal aber nicht nach Genua, Stadt von Taxi Driver Records, sondern weiter nach Westen, nach Sanremo, kurz vor der Grenze nach Frankreich. 1999 war ich schon mal in der Gegend und machte einen kurzen Ausflug in die Stadt. In meiner Erinnerung lebte Sanremo vom Glanz der Vergangenheit: In den Fünfzigern und Sechzigern war es der Inbegriff des Edelurlaubs, mit Riviera, Strandpromenade, Luxus, Jet Set, Hollywoodstars. Seitdem, so mein Eindruck von vor 17 Jahren, hat man in der Stadt den Anschluss an die Zeit und den Blick für Sanierungsfirmen verloren. Da ich aber in den zurückliegenden drei Jahren weite Bereiche Liguriens zwischen La Spezia und Savona besucht habe und ich Ligurien sehr mag, fahre ich ein Stückchen weiter und lasse ich mich eben neu auf Sanremo ein.

Meine Gastgeberin Manuela, rund 20 Jahre älter als ich, ist gleich der erste gute Eindruck, den ich von Sanremo habe. Da sie kein Englisch spricht und mein Italienisch für ausgefeilte Kommunikation zu rudimentär ist, organisiert sie einen Freund aus dem Geschäft gegenüber als Dolmetscher. Marco vermittelt den ersten Inhaltskontakt zwischen uns und gibt mir seine Telefonnummer, falls es bei uns zu Verständnisschwierigkeiten kommen sollte. Kommt es nicht: Manuela befleißigt sich einer so einfachen Sprache, dass ich ihr meistens folgen kann und wir stante pede auf ihrem Balkon in tiefe Gespräche abdriften. Anfangs habe ich noch große Schwierigkeiten, ihr zu folgen, doch alsbald gesellen sich neue Vokabeln zu meinem bescheidenen Wortschatz und wir tauschen uns intensiv aus. Gelegentlich greifen wir auf Französisch zurück, einzelne Wörter kennt sie auf Englisch und sogar auf Deutsch; bezeichnenderweise sind dies etwa „verboten“ und „Arbeit“. Eines Abends präsentiert sie mir ein eigens angeschafftes Englisch-Lernbuch, und weil sie es sich sehr zu Herzen nimmt, diese Sprache zu erlernen, nennt sie mich konsequent Mathew, obwohl ich ihr sogar Matteo angeboten habe. Besonders freue ich mich über die Restauranttips, die sie mir zukommen lässt. Ich probiere sie alle aus. Alle. Ligurische Küche! Es dauert rund eine Woche in Italien, bis ich erstmals eine Pizza oder Pasta esse. Der Rest: Fisch. Und einmal Kaninchen.

Sanremo ist klein und übersichtlich, man kann alles zu Fuß erreichen. Wie in jeder mir fremden Stadt frage ich in der Touristeninformation auch nach Plattenläden: Immerhin einen soll es noch geben. Den finde ich auch. Der Eigentümer tut sich mit mir etwas schwer. Ich frage ihn nach Vanessa van Basten. Kennt er nicht. Vom Label Taxi Driver aus Genua. Kennt er nicht. Ob er mir die Platte denn bestellen könne? Kann er nicht. Mit einigem guten Willen verkauft er mir das neue Album von Lou Dalfin, „Musica Endemica“. Die Band empfahlen mir meine Airbnb-Gastgeber in Genua vor zwei Jahren: Lou Dalfin, „Der Delfin“, singen Folklore eines abgelegenen Tals in Italien nahe Frankreichs in einem Dialekt dieser Gegend, aber mit modernen Instrumenten. Klingt ein bisschen wie deutsche verrockte Mittelaltermusik, nur ohne die doofen Texte und mit einem breiteren Stilangebot. An deren CDs heranzukommen, ist gar nicht so einfach; umso mehr freue ich mich, dass der unwillige Schallplattenmann in seinem unaufgeräumten Laden nicht nur sofort mit meiner Anfrage etwas anzufangen weiß, sondern mir sogleich die CD in die Hand drückt.

Mein Eindruck von Sanremo überdies wiederholt sich. Es kommt mir vor, als wolle es versuchen, heutige Touristen mit den Mitteln der Fünfzigerjahre zu neppen. Zu bieten hat es dabei nichts, bis auf das Casino und das Meer. Keine Museen, keine Besonderheiten, nichts. Na gut: Eine russische Kirche, die zurzeit eingerüstet ist, eine Altstadt, von deren zwei einzigen Restaurants eines zurzeit wegen Renovierung geschlossen ist und die bis auf das weithin sichtbare Sanktuarium auf dem Gipfel komplett heruntergerockt aussieht, sowie eine Festung, die zwar eine attraktive Ausstellung mit Stoffdesign der Dreißiger bis Sechziger zeigt, deren eigentliche Räume man aus mir nicht verständlichen Gründen (Italienisch) aber nicht besichtigen kann. Dennoch, nicht nur mit Manuelas Hilfe mache ich abseits der Via Giacomo Matteotti, der Einkaufsstraße, drei Straßen aus, die mit Cafés und Restaurants und einigem Flair auf mich einen einladenden Reiz ausüben: die Via Francesco Corradi, die Via Gaudio und der Corso Garibaldi. Schnell habe ich den Stadtplan verinnerlicht und bewege mich weitgehend fehlerfrei durch die Straßen und Gassen, zwischen Hafen und Altstadt.

Mir fällt auf, dass sich viele Menschen hier in Sanremo so verhalten wie zu Hause in Braunschweig: schlechter Service, grußloses Vorübergehen, kein Kontakt zu Fremden, brüsker Umgang. Also das Gegenteil von dem, weshalb ich so gern in Italien bin. Ich bin enttäuscht. Und erstaunt, dass Manuela als Bewohnerin mir meine Wahrnehmung bestätigt; es liegt also nicht an meiner Stimmung, wie auch immer die geartet sei. Worauf habe ich mich da nur eingelassen. Na, zumindest auf Manuela, die mir mit ihrer guten Laune, ihrem Humor und ihrer Fürsorglichkeit eine wundervolle Zeit in ihrem Heim bereitet.

Bereits vor der Reise hatte ich die Idee, mir von Sanremo aus einen Tagesausflug nach Nizza zu gönnen. Per Zug ist das ganz einfach. In Nizza war ich noch nie, habe es gerade mal 1999 bis Monaco geschafft, also bin ich neugierig. Und vorsichtig, angesichts der Nachrichten mit dem Anschlag, als ein Einzeltäter mit einem Lastwagen auf der weltberühmten Promenade Dutzende Menschen tötete. Zudem machte ich im benachbarten Monte Carlo die frustrierende Erfahrung, dass man mich mit meinem Schulfranzösisch nicht verstehen wollte: Wie sollte ich dann bloß in Nizza zurechtkommen?

In der Touristeninformation sagt man mir, dass es in Nizza wohl nur einen Plattenladen gäbe, einen Fnac. Das ist eine Kette, die ich schon in Antwerpen entdeckte. Der Touristeninformant beschreibt mir den Weg in ein Viertel, in dem es immerhin Musikalienhändler gibt, was die Wahrscheinlichkeit erhöhe, dort auch auf Plattenläden zu stoßen. Das bewahrheitet sich zwar nicht, dafür schlendere ich aber durch eine weitgehend touristenfreie Gegend, bevor ich den Fnac aufsuche, ohne dort etwas zu finden (zum Beispiel jüngere Alben von Magma, die mir noch fehlen), und mich den Touristenecken widme. Am Hafen, gleich bei den Antiquitätenbutzen, bekomme ich Lust auf einen Kaffee. Ich wühle in meinem Französisch herum und treffe auf einen Wirt, der Lust auf Kommunikation hat. Wir scherzen und lachen, er berichtet von Fußball: „Deutschland war gestern hier.“ Ach, was war denn, WM-Qualifikation? Er deutet auf eine Zeitung: Europapokal, Schalke trat gegen OGC Nizza an. Und gewann 1:0. Was den Wirt nicht daran hindert, mit mir gemeinsam weiterzulachen. Und mir meine Nachlässigkeit vorzuwerfen, den Milchschaum nicht aufgegessen zu haben. Er schäumt extra neue Milch auf und gieß sie in meine Tasse. Schon jetzt hat Nizza Punkte gemacht.

Auf dem Weg zur Promenade komme ich an einer Treppe zur Burg vorbei. Natürlich gehe ich da hoch. Städte von oben finde ich immer reizvoll. Bei dem strahlenden Sonnenwetter ist der Ausblick von der großflächigen Ruine aus doppelt wundervoll: links das Meer, mittig die Promenade, rechts die Altstadt. Über mir spannen Pinien ihre Nadelblätterdächer. Es riecht wundervoll. Ich versuche, den Abstieg zur Altstadt zu finden, und nehme ein lauter werdendes Rauschen wahr. Zwischen dichten Blättern ergießt sich ein künstlicher Wasserfall inmitten des Burgrestes. Ich staune. Gischt kühlt die Besucher. Mir kommt ein junges Paar entgegen. Er fragt mich, ob ich weiß, wo der Wasserfall beginnt. Weiß ich nicht, aber er könne es mir ja sagen, wenn er die Quelle gefunden hat. „Komm doch mit“, sagt er, und – natürlich: Ich komme mit. Wir stellen uns vor: Sie, Nuha, kommt aus Jordanien und er, Baz, aus Kanada. Er ist beruflich in Nizza und traf hier zufällig auf sie; wie Nuha mir später erzählt, nur fünf Minuten vor mir. Also kein Paar, nicht mal alte freunde. Von Baz erfahre ich, dass das, was ich über seine Heimatstadt gelernt habe, nicht umfassend stimmt: Nach meiner Kenntnis spricht man Montreal französisch aus, er hingegen verwendet die englische Fassung. In dem Film „Die Könige der Nutzholzgewinnung“ überführt die vermeintlich falsche Aussprache einen Aufschneider. Doch 30 Prozent der Bewohner sprächen Englisch, sagt Baz. Ich will weiter, in die Altstadt, und darf den Zugfahrplan nicht aus den Augen verlieren. Wir tauschen Kontaktdaten aus, denn Nuha will in ein paar Tagen nach Sanremo kommen, vielleicht treffen wir uns auf einen Kaffee.

Beim Abstieg verlaufe ich mich und gelange auf die Promenade. Das ist also die weltberühmte Edelmeile an der Côte d’Azur? Ein langes Stück Teer mit Palmen dran. Kein Glitzer in Nizza. Und auch keine Pizza, jenseits der Straße säumen zwar Restaurants die Zeile, aber ich schlängle mich in die Altstadt weiter. Die ist wirklich schön, eng, dicht gedrängt mit Läden und Cafés, die den hübschen Häusern mehr als nur Optik verleihen. Sieh her, Sanremo, so geht das auch mit seinen Architekturaltlasten. Man erkennt hier das italienische Erbe und ich begreife, warum die Stadt, die eigentlich Nice heißt, bei uns den alten italienischen Namen trägt: Die Geschichte schob hier öfter mal die Grenze herum. Auf manchen Tafeln an den alten Häusern steht sogar noch eine dritte Version: Nissa. Die Leute hier tragen teilweise noch italienische Nachnamen, und auch in den Straßenbezeichnungen schlägt sich die Historie nieder. In der Rue Rossetti zum Beispiel suche ich mir ein Café. Einen regionalen Wein möchte ich probieren, aber das traue ich mir nicht zu, auf Französisch auszudrücken. Mir kommt in der Tür ein Mann entgegen, den ich auf Französisch frage, ob er Englisch spricht. Er antwortet etwas, freundlich grinsend und gutgelaunt, und diese Antwort verstehe ich nicht. Ich kann nicht einmal sagen, ob sie überhaupt auf Französisch war oder ob das der Versuch war, Englisch zu benutzen. Eine Kollegin hörte das und kommt grinsend dazu. Sie bestätigt, dass sie Englisch spricht, und fragt den Kollegen: „Do you speak English?“ Der Mann grinst und sagt: „Oui.“ Sie nickt mir zu: „That means ’no‘.“ Meinen lokalen Wein bekomme ich und gut schmeckt er mir auch. Nizza hat also mächtig positiven Eindruck bei mir hinterlassen. Ich kann die Stadt dem Wolfsburger Rapper, der sich nach ihr benannt hat, nur empfehlen.

Zurück in Sanremo. Hafenrundfahrten oder Bootsausflüge werden von hier aus nicht angeboten. Noch so ein Fehlschlag, tse! Die einzige Möglichkeit, hier am Meer auch mal aufs Meer zu kommen, ist, sich beim Whalewatching anzumelden. Klingt nach Nepp, aber sie versprechen für 34 Euro eine mehr als vierstündige Tour aufs offene Mittelmeer. Da melde ich mich doch mal an. Am Abfahrtstag werde ich jedoch vertröstet: Das Wetter sei schlecht, ich könne mich für die nächste Tour reservieren lassen. Das mache ich. Und gehe zu Fuß zu einem Strand, den mir Manuela empfahl: Valecrosia, immer die alte ligurische Bahnstrecke am Meer entlang, die man inzwischen für Radfahrer aufbereitet hat. Valecrosia liegt jedoch knapp 15 Kilometer entfernt. Ich komme am malerischen Ospedaletti vorbei, lasse das überfüllte Bordighera hinter mir und durchquere auch den Tunnel, der die Geschichte von etwas erzählt, von dem ich bis kurz vor meiner Reise noch gar nichts wusste: Milano-Sanremo, ein Radrennen. Juri erzählte mir davon, und der kennt sich mit so etwas aus, schließlich organisiert er die Critical Mass Braunschweig, die monatliche Radtour durch die Stadt, an der immer so um die 500 Radfahrer teilnehmen. So ist das, wenn man sensibilisiert wurde: Plötzlich sehe ich in Sanremo überall Radrennsporthinweise. Der Strand von Valecrosia ist wirklich schön, sehr weit, sehr kieselsteinig, und ich bin froh, dass ich mir die Lust auf ein Bad schon in Bordighera erfüllte, denn inzwischen zeigt mir das Meer, was es mit der Whalewatchingabsage auf sich hat: Es schäumt über. Die Wellen sind meterhoch und verweigern mir den unfallfreien Zutritt. Zugucken kann ich ihnen aber, wie sie ständig die Oberfläche der See umgestalten und mich mit mannigfaltigen Formen berauschen. Ein schöner Ausflug mit den Füßen. Zurück geht’s aber mit dem Bus.

Für den folgenden Tag habe ich noch keine Pläne. Als wüsste Manuela das, schlägt sie mir vor, mich mit ihrem uralten Fiat, den sie „Regina“ nennt, Königin, nach Bussana Vecchia mitzunehmen. Dabei handelt es sich um eine Stadt, die 1887 von einem Erdbeben teilzerstört und in den Sechzigerjahren von Künstlern illegal neu besiedelt wurde. 1999 war ich schon mal dort, schlenderte durch die Gassen, betrachtete die eher kunsthandwerklichen Exponate und die pittoreske Kulisse des Verfalls und fand es ganz nett dort, so ohne Wasser und Strom. Ein bisschen ist es auch heute noch so, nur kommt mir die Stadt nun aufgeräumter vor, weniger ruinös, auch trotz des Kirchengerippes in der Mitte. Die Leute haben etwas aus der Kulisse gemacht. Und Manuela kennt ein offenes Geheimnis: La Barca, eine Art moderne Hippiekommune in Bussana Vecchia, die auf verwinkelten Pfaden zugänglich und für alle Gäste offen ist. Es empfiehlt sich aber trotzdem, die tuchbespannte Holztür hinter sich zu schließen, damit nämlich das Straußenbaby nicht abhauen kann. Il struzzo rennt zwischen den wild zusammengewürfelten Möbeln, Katzen und Hunden, Dekostücken aus aller Welt und vielsprachigen Menschen herum. Zur Begrüßung bekommen Manuela und ich Gläser mit selbstgemachtem Roséwein in die Hand gedrückt und die Einladung, uns etwas von der frisch zubereiteten Pasta mit der Käsesoße zu nehmen. Ich bin erstmal überfordert und setze mich mit Manuela an den Rand eines langen Tisches, an dem wir schon mal auf Deutsch begrüßt werden. Erst nach und nach erfahre ich, was hier los ist: Eine halbe Handvoll Männer aus Italien, den Niederlanden und der Schweiz fand sich hier zusammen, als Aussteiger, als Autonome, als Nationenverweigerer. Ihren Paradiespark öffnen sie für Gleichgesinnte und Neugierige, von denen manche hier für einige Zeit übernachten und andere, wie Manuela und ich, nur vorübergehend zu Gast sind. Mich erinnert das an Christiania in Kopenhagen, was mir meine Gesprächspartner bestätigen. Und davon habe ich einige.

Uns gegenüber setzen sich Kerry und Clyde, ein Paar aus Südafrika, das sich in Gesellschaft des Straußenbabys sofort heimisch fühlt. Sie sind Marineangehörige und nur temporär in Sanremo. Neben uns spielen ein paar jugendliche Deutsche Gesellschaftsspiele und debattieren mit dem Hausherrn aus den Niederlanden. An einem anderen Tisch singt jemand spanische Lieder zur Akustikgitarre, zumindest eines des Franzosen Manu Chao ist mir geläufig. Zwischendurch läuft Musik aus dem Laptop; als der Regen einsetzt und sich sogar ältere Besucher aus dem belgischen Knokke-Heist zu uns gesellen, in dem ich im vergangenen August Urlaub machte, läuft ABBA und viele tanzen gewittergeschützt unter der Pagode. Eigentlich will ich mich als Fremder zurückhalten, doch bieten sich ständig Unterhaltungen an, mit den Frauen, die mir Wein ausschenken und vom Konzept berichten, mit den Hausherren, die mir Kalbsfleisch und Gemüse überreichen sowie von ihrer Geschichte berichten, und das alles auf Englisch und Deutsch, was ausgerechnet meine einheimische Gastgeberin benachteiligt, von der ich eigentlich dachte, dass sie hier Heimvorteil hätte. Also finde ich mich kurzerhand als Italienischdolmetscher wieder. Erstaunlich, was alles geht. Beseelt verlassen wir nach Stunden Bussana Vecchia, nicht ohne die Blue Box im Baum am Eingang mit Scheinen zu befüllen. Wir bahnen uns zwischen Katzen, Hunden, Gänsen, Schweinen und dem Strauß unseren Weg hinaus, verabschieden uns dabei von unseren neuen Bekanntschaften wie von alten Freunden. Der Abschied dauert dabei länger als manche Party.

Über Nacht mache ich mir so meine Gedanken und sortiere meine Beobachtungen. Manuela muss es ebenso gegangen sein. Beim Frühstück spricht sie die Untiefen der Barca an, die mir auch auffielen, bei aller Sympathie und Hippieseligkeit. Was sie als Autonomie und Aussteigertum darstellten, ist für einige der Barca-Betreiber wohl eher eine Flucht aus der Realität, weil sie im Leben einige Schwierigkeiten haben. Beziehungsschmerz ist offenbar eine gängige Triebfeder. Manches Verhalten stimmt uns kritisch: Einer unterhielt die jungen Deutschen mit halblustigen Provokationen und war nur selten zu ernsthaften Gesprächen bereit oder in der Lage. Ein anderer fühlte sich beim Abwaschen vom Strauß belästigt und schob ihn rüde mit dem Fuß beiseite. „Es gibt bei uns keine Drogen“, sagt ein Dritter, „außer, man zählt Alkohol auch dazu.“ Und das den ganzen Tag. Jeden Tag. Jeden Tag haben die Barca-Betreiber also Gäste und Feste und sonst nichts. „Wir arbeiten nicht gern“, sagt ein anderer, und begreift doch selbst: „Hier gibt es aber auch immer etwas zu tun.“ Das temporäre Publikum indes bringt den guten Geist mit, der das Erleben hier so herzerwärmend macht, und ohne die Erstaussteiger und deren Initiative wäre die weitestgehend harmonische Zusammenkunft auch gar nicht möglich geworden. Wir sind uns daher beide einig, dass es gut ist, dass La Barca existiert und dass wir uns dort wohlfühlten.

Mein Kaffee mit Nuha steht nun an. Wir treffen uns an der Festung, die zu Nuhas Bedauern heute geschlossen hat – es ist Montag. Zuerst genehmigen wir uns daher den Kaffee am Hafen, dann bittet sie mich, ihr die Stadt zu zeigen. Wir schlendern durch die Altstadt bis zum Sanktuarium und kehren beim Ristorante Mulattiere ein, das mir Manuela empfahl und in dem ich schon einmal aß, dabei „Braunschweig schön trinken“ aus dem Verlag Andreas Reiffer lesend. Die Inhaber umsorgen uns freundlich und versorgen uns mit ligurischer Pasta, Wein und Wasser. Nach Stunden begleite ich sie noch zu ihrer Unterkunft, die Bitte erfülle ich ihr und erfüllt mich mit Freude.

Nuha ist für drei Tage bei einer Freundin in Sanremo untergekommen und muss am nächsten Tag den Zug nach Nizza nehmen, um nach Athen zu fliegen. Sie ist zurzeit in Europa unterwegs, sie verbringt so ihren Urlaub, von Ost nach Süd. Eigentlich arbeitet sie für die Vereinten Nationen bei der Flüchtlingshilfe. Als Jordanierin hat sie es viel mit Menschen aus ihrem Nachbarland Syrien zu tun. Sie erzählt mir von ihren Monaten auf Lesbos und der Schwierigkeit, sich mit dem schwergängigen System der UN abgeben zu wollen. Und sie erzählt von den Problemen, die sie damit hat, anders zu sein, als es ihre Familie, ihre Tradition und ihre Religion vorgeben. Es gab in ihrem Leben eine Initialzündung, die aus der einst konservativen Muslimin einen Freigeist gemacht hat, der sich gegen alle Widerstände selbst verwirklichen will und das nicht damit verwechselt, lediglich ausschweifend zu leben. Wir tauschen unsere Lebenseinstellungen aus und ich freue mich darüber, wie viele Übereinstimmungen es bei uns gibt: dem Mann aus christlicher Erziehung in Mitteleuropa und der Frau mit muslimischer Geschichte aus Arabien. So entpuppt sich dieses in Nizza verabredete Kaffeetrinken als mich noch beseelender als der Besuch in La Barca.

Jetzt aber aufs Boot, dieses Mal fällt das Whatewatching nicht aus. Ein mittelgroßes Kahn empfängt eine kleine Gruppe Touristen am alten Hafen von Sanremo und steuert dann Bordighera an, um vor dem Törn aufs offene Meer den letzten Schwung Teilnehmer aufzunehmen. Das Oberdeck ist bereits übervoll, im Innenraum schreit eine Kindergruppe, also setze ich mich an den Bug. In Bordighera gesellt sich eine weitere Kindergruppe dazu, die sich jedoch nicht innen halten lässt. Ein langhaariger und bärtiger Typ fällt mir auf, der mit Hund und anderen Angehörigen über den Steg an Bord schlendert. Das Boot ist zwar nicht so groß, aber man läuft sich nicht zwangsläufig über den Weg, und doch ist es genau er, mit dem ich bald ins Gespräch komme. Er ist es wie ich nicht gerade gewohnt, auf einem Schiff zu sein, stellt er beim achterbahnartigen Wellenreiten fest, denn er kommt aus einem Tal nahe der Grenze zu Frankreich, wo er mit seiner Verlobten eine landwirtschaftliche Saisonarbeit verrichtet. Eine sehr intensive: Dieses sei sein erstes freies Wochenende seit Mai. Die geographiebedingte Erdverbundenheit erklärt auch, weshalb sein Hund nicht klarkommt: Luna, so heißt sie, begreift das Schwanken nicht und fiept gelegentlich angstvoll. Sie lässt sich aber beruhigen, auch von umherfliegenden Kinderhänden. Natürlich spreche ich ihn bei der geografischen Beschreibung seiner Heimat auf Lou Dalfin an. Und natürlich kennt er die, „die kennt doch jeder“, glaubt er. In seinem Tal vielleicht, meine ich einschränken zu müssen, doch er widerspricht. Und erzählt, dass der Sänger sogar im selben Dorf wohnt wie er. Die Erbsigkeit der Welt mal wieder. Auch er spielt in einer Band, „Golden Cherry, übersetzt“, sagt er, also ungefähr Ciliege d’Oro vermutlich. Er sei kein guter Gitarrist, glaubt er, und komme wegen seiner Arbeit auch kaum zum Üben. Musikalisch verortet er die Goldenen Kirschen im Garage Punk: „Wir haben gerade ‚Strychnine‘ von den Sonics gecovert.“ Jau, hier bin ich richtig. Im Gegenzug berichte ich ihm von „Ich will nicht tanzen“, der neuen Single von Blinky Blinky Computerband, zu der mich Olaf den Text und die Stimme beisteuern ließ. Das dazugehörige Album „For A Better World“ und die beiden CDs davor gibt es übrigens auch im Riptide zu kaufen. Und à propos gute Plattenläden, derer gebe es in Nizza haufenweise, sagt mein Mitskipper. Na, der Touristinformant kriegt was zu hören!

Es ist der 20. September. Nach diesem Tag sind überall in Italien Straßen benannt. Also frage ich meinen musikalischen Begleiter, was es damit auf sich hat. Er stutzt und gibt zu, das gar nicht zu wissen. Wir einigen uns darauf, dass es vermutlich etwas mit Garibaldi zu tun hat. Er schwankt über Deck davon und kehrt kurz darauf zurück: „Ich habe die anderen gefragt, die wissen es auch nicht.“ Wir lachen und vereinbaren, uns im Internet kundig zu machen. Das sagt: „Fest der Befreiung der Hauptstadt Rom und nationale Wiedervereinigung (1870); den Faschismus abgeschafft“. So richtig bringt mich das nun aber auch nicht weiter.

Aber es ist ja Whalewatching. Ein singulärer Delphin unterkreuzt unser Boot, was den Ansager sich wundern lässt, denn normalerweise gäbe es Delphine nicht als Einzelgänger. Ein zweites Mal wundert er sich, als er eine riesige Meeresschildkröte ausmacht, denn die kommen im Mittelmeer eigentlich gar nicht vor. Das war’s. Den Rest der Zeit vertändeln wir auf hoher See und lassen und sanft in den Schlummer schaukeln. Trotz der Kinder, die bei der ersten Delphinsichtung noch niedlich sind, bei ausbleibender weiterer Walbeobachtung indes echt mal so richtig nerven. Und erstaunlicherweise „Eins zwei Polizei“ von Mo-Do zitieren, den Eurotrashhit, den selbst in Deutschland niemand mehr kennt, gottlob. Mal so richtig fair ist, dass wir wegen der Nichtsichtung der angekündigten Meeressäuger unsere Tickets behalten und noch bis zum Ablauf der nächsten Saison erneut verwenden dürfen.

Meinen letzten ganzen Tag verbringe ich in Imperia. Auch dessen Altstadt, Porto Maurizio, ist wunderschön und birgt das größte Gotteshaus Liguriens. Die eigentliche Stadt zwei Kilometer weiter ist immerhin ganz okay. Die Frau im Plattenladen (dieses Mal half man mir in einem Musikalienhandel weiter) ist extrem hilfsbereit, doch auch sie kennt Vanessa van Basten nicht. Aber sie stellt mir in Aussicht, die Platte bestellen zu können. Das hilft mir bedauerlicherweise jetzt auch nicht mehr. Die Alternative meiner Wahl, der Soundtrack zu Paolo Sorrentinos Film „Youth“ nämlich, ist bei ihr indes bereits ausverkauft. Schade! Den finde ich noch kurz vor der Abfahrt beim Querulantenplattenladen in Sanremo. Auf dem Album ist nämlich „Just (After Song Of Songs)“ drauf, vom Trio Medieval, ein Stück, das sich schon im Film in mein Gedächtnis einbrannte und das ich per Whatsapp auch Manuela ins Ohr pflanzte.

Als ich ein letztes Mal durch Sanremo schlendere, stelle ich fest, dass es mir doch ans Herz gewachsen ist. Die Kellnerin in dem Hafencafé fragt mich bei meinem zweiten Besuch fröhlich, wo denn meine Begleiterin vom Vortag geblieben sei, der Besitzer der gemütlichen Weinbar „Per Bacco“, in der vortrefflicher Jazz läuft, begrüßt mich bei meiner Wiederkehr mit Handschlag, und als ich im Supermarkt Mineralwasser für die Rückfahrt kaufe, winkt mir an der Kasse eine Frau zu: die Kellnerin aus dem Mulattiere. Manuela verabschiedet mich mit festen Umarmungen; im letzten Augenblick stellt sich heraus, dass wir beide Zwillinge sind und dass unsere Geburtstage nur drei Tage auseinander liegen. Da wundert mich nichts mehr. Und nehme als Fazit mit: Auch in Sanremo kann ich mich also zu Hause fühlen.

Trotzdem freue ich mich auf Braunschweig, natürlich! Mich erwartet Post von Krüger, der mir seine drei neuesten Singles schickte, und von Phillip Boa, der eine neue Box mit drei CDs, einem Buch und einer 10“ herausbrachte. Mich erwartet Arbeit für Rille Elf, denn den nächsten Tanztee am 13. November im Tegtmeyer veranstalten wir dankenswerterweise im Rahmen des Filmfestes, und ich muss dafür noch den Flyer gestalten; weiterer Einsatz für Blinky Blinky Computerband, denn Olaf und ich wollen die Songs nochmal durchgehen, die wir mit Arni und Henning am 1. Oktober im Tegtmeyer als Support von Psyche spielen wollen; und Initiative für die Indie-Ü30-Party, für die Henrik und ich die Flyer und Plakate quer über Braunschweig verteilen wollen. Die EP von Vanessa van Basten muss ich wohl zu Hause per Internet bestellen; das mache ich, sobald das neue Album von Mope draußen ist, das spart mir Porto. Und Stef ist da, wir setzen uns an den blauen Tisch in der Küche und tauschen unsere Erlebnisse aus. Ich habe Wein mit. Wird eine lange Nacht. Salute!

Matze van Bauseneick
www.krautnick.de
Fakebook

1 Kommentare

  1. Wie immer, Matthias, du schreibst so natürlich, authentisch, das ist neben Urlaub in Spanien auch Urlaub in Sanremo mit allen Erlebnissen. Auf jeden Fall interessant. Bin mit deinem Text und Inhalt noch eine Weile unterwegs…:)

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