#117 Pinguine in der Stadt

Donnerstag, 27. Juli 2017

Eigentlich will man ja gar nicht übers Wetter reden, aber dieser Tage bleibt das nicht aus. Nach gefühlten 393 Stunden Dauerregen freut man sich, wenn es mitten im Hochsommer mal lediglich stark bewölkt ist. So wie heute. Und sogar mit gelegentlichen Sonneneinsprengseln. „Am Sonntag bin ich noch im Harz gewesen, da war davon gar nichts zu sehen“, sagt Chris als Anspielung auf die Bilder aus Goslar, die jüngst durchs Internet gingen. Da durchströmten Wassermassen die frühere Bergarbeiterstadt und überfluteten sie in apokalyptischem Ausmaß. „Und das nur ein, zwei Tage später“, sagt Chris.

Wie üblich an Wochentagsnachmittagen sind auch jetzt beide Chefs im Einsatz. André erzeugt Küchengeräusche und Chris bearbeitet Kartons. Stimmt ja, morgen ist Freitag und heute kommen schon die Neuveröffentlichungen im Riptide an. Die morgen erst erscheinende Folge 188, „Signale aus dem Jenseits“, der Drei Fragezeichen lehnt als Vinyl an der Kühltheke auf dem Tresen. Chris ritzt mit der Schere die Klebestreifen an den Kartons auf, faltet die Papplaschen auseinander, entnimmt kleinere Kartons und diesen wiederum die LPs. Die Verpackungen zerkleinert er und stapelt sie für den Papiermüll. Die Platten erfahren hernach ihre Etikettierung, die ebenfalls Chris vornimmt, und all das, während er spricht, zum Beispiel über das Sommerkino am Kunstverein Salve Hospes, in dessen Programm kürzlich unser Film zum 100. Riptide-Blogeintrag lief. Micha A. und Stef, die den Film für mich anfertigten, hatten es organisiert, dass der als Vorfilm zum Hauptprogramm lief. „Ich habe mich gefreut, dass der ausgewählt wurde“, sagt Chris. Leider habe er es jedoch nicht geschafft, auch hinzugehen. Ich war da, mit Stef und Micha, unter anderem. „Was war der Hauptfilm?“, fragt Chris und versucht, sich zu erinnern: „Ein Klassiker?“ Ja, „Labyrinth“ von Jim Henson. „Ah ja, mit diesem…“ gibt Chris den Sinnierenden, während er im Büroteil hinter der Theke verschwindet. Ich helfe nach: Lemmy? Kurt Cobain? Irgendein verstorbener Sänger auf jeden Fall. „Johnny Cash?“, schlägt Chris vor, doch der lebt ja noch. David Bowie war‘s natürlich. „So habe ich Bowie kennen gelernt, als Schauspieler“, erzählt Chris. „Und mich gewundert, warum der so gut singen kann.“ Der Film lief OmU beim Sommerkino, und da war Bowies wundervolle angenehme Sprechstimme bestens zu hören, so vertraut wie von seinen Alben.

Einen Milchkaffee hätte ich jetzt gern. Chris bereitet ihn vor, ist dann aber damit beschäftigt, andere Kundenwünsche zu erfüllen, deshalb händigt André, der kurz aus der Küche kommt, ihn mir aus. Eben war ich noch bei Simply British, dem kleinen, feinen Laden mit Waren aus Großbritannien, der in der Schützenstraße gegenüber der Karstadtspirale gelegen ist. Dort gibt es nämlich Pinguine. Vor mittlerweile 19 Jahren war ich mit Guido in Irland unterwegs, und dort naschten wir mit Vorliebe diese Keksriegel, Penguins genannt, mit den bescheuerten Wortwitzen und Scherzfragen auf der Rückseite. Wir erinnern uns nur noch an einen: „Q: What‘s a penguin on Leicester Square? A: Wrong.“ Später erhielt ich die Pinguine nur noch bei Abigail‘s, einem ähnlichen Shop in Kopenhagen, der indes seit zwei, drei Jahren nicht mehr existiert. Umso glücklicher war ich, als ich kürzlich in Braunschweig fündig wurde. Und das sogar in Mint. Nicht im Schallplattensammlervokabular, sondern mit Minzaroma, also quasi After Eight als Keksriegel. Und immer noch mit Scherzfragen. Heute habe ich mir die Toffee-Variante mitgenommen, ich bin sehr gespannt. Vor diesem Einkauf hatte ich ein feines Mittagsmahl beim Mezopotamiengrill und brauche jetzt den Verdauungskaffee.

Zurzeit stellt Roberta Bergmann ihre Gemälde im Riptide aus. Die betrachtet zurzeit aber kaum jemand, was nicht an den Bildern liegt, sondern daran, dass es die Regenpause den Gästen ermöglicht, auch mal wieder draußen zu sitzen, im Achteck zwischen den Caféhälften. Von dort strömt André mit Tablett und Bestellblock hinter die Theke und grinst: „Es hat sich gerade jemand bei mir einen Caipiranha bestellt und ich glaub, der meint das ernst.“ Wir freuen uns über das versehentliche Wortspiel. Und Chris erzählt vom „Remmidemmi“-Video von The Twang, deren neues Album „Wüste Lieder“ auf Riptide-Recordings erschien und deutschsprachige Songs in Countryversionen enthält. „Das haben sie in der Haifischbar gedreht“, erzählt Chris und erwähnt die Mariachibläser im Song. „Die sitzen da am Tresen, megageiles Video“, schwärmt er. Hab ich noch gar nicht gesehen, aber die Platte ist wirklich gut, weil The Twang die bekannten Songs nie einfach nur nachspielen, sondern inklusive Melodien komplett neu komponieren. Nur der Text bleibt.

Und dann war ja kürzlich auch Kulturnacht mit Riptidebeteiligung. Andrea und ich starteten unsere Tour gegenüber in der Einraumgalerie, weil Schepper dort spielte, inmitten von softpornografischen Fotos auf schwarzem Hintergrund. Und Schepper war auch wieder gut, auch humoristisch. Ein Stück brach er gleich zu Anfang nach recht kurzer Zeit ab, rotierte mit der Hand und sagte: „Und so weiter, und so weiter.“ An anderer Stelle sprach er von „mundgeblasenen Kristallgläsern“. Auch musikalisch riss er uns mit, die Stunde Solobasspsychedelik verstrich im Nu. Wir strichen weiter, am Riptide vorbei, vor dem Micha, Andreas und Raze auf den Beginn von Read ‘em All warteten, von denen ihrerseits Frank und Till ihres Triovervollständigers Axel harrten. Raze drückte mir sein neuestes Ambient-Tape in die Hand, „Gentle“, einseitig bespielt. Krass, diese Postmoderne. Doch Andrea und ich wollten weiter. Später erzählte mir Schepper, dass Axel, Till und Frank ihn auf seinem Weg vom Gig zum Taxi kurzerhand für ihre Metal-Lesung im Riptide verpflichteten. Und Schepper machte natürlich mit. Eigentlich wollten Andrea und ich aufs Groovetop, also aufs Dach der Kartstadtspirale, auf dem Stef und Micha eine Elektro-Party veranstalteten, die zwar weithin zu hören war, jedoch nicht mehr erreichbar, denn die Fahrstühle waren überfüllt und die Warteschlagen lang. Also bogen wir ab und gaben uns im Kreuzhof der Brüdernkirche das Alphornquartett. Seit kurzem schenkt man dort aus, man richtete also ein Café ein, und so standen Andrea und ich mit Wolters in der Hand im mächtig gefüllten Kreuzgang der Kirche und gaben uns entspannte Songs im Alpensound. Richtig großartig finde ich, dass man in dem Café von Menschen mit Behinderung bedient wird. Das ist gelebte Gleichstellung. Kurz darauf war die Kulturnacht dann auch schon fast vorbei. 23 Uhr ist für eine Nacht als Schlusszeit einfach viel zu früh.

Es gibt ein Mike-Patton-LP-Fach im Riptide. Das Album von Dead Cross, der neuen Band mit Patton und Dave Lombardo, steht dort allerdings nicht. „Das kommt erst in einer Woche heraus“, sagt Chris nach einer kurzen Recherche. Das Vorabvideo habe ich noch nicht gesehen, Chris schon. So überwältigend, wie es beschrieben wird, findet er es nicht, aber doch gut. Patton hat zuletzt nicht nur Aufregendes gemacht, finde ich, zum Beispiel das Comeback von Faith No More. Nicht brillant, aber wenigstens okay. „Das ist der Fluch derer, die an ihrem Meisterwerk gemessen werden“, sagt Chris. „Zum Beispiel Slayer: Das neue Album ist gut, aaaaaber nicht so gut wie ‚Reign In Blood‘.“ Dabei wird Dead Cross sogar mit Slayer verglichen, denn es ist sogar noch kürzer als „Reign In Blood“. Und bei Faith No More gibt es eigentlich nicht ein einzelnes Meisterwerkalbum, das für alle gilt; manche mögen schon „Angel Dust“ nicht mehr, andere mögen nur „Album Of The Year“.

Der DPD-Zusteller unterbricht uns mit einem riesengroßen Paket, das vermutlich randvoller Platten ist. „Kannst du das wieder mitnehmen?“, fragt Chris gespielt entkräftet. Dabei fällt mein Blick auf den Flyer zum Sedan-Bazar am 12. August, dem Straßenfest des Handelswegs. Schepper tritt wieder auf, das weiß ich, aber mehr noch nicht. „Wir stellen und bestücken die Bühne, also die Musiker“, sagt Chris. An der Rip-Lounge rollen sie den Teppich aus, der die Bühne darstellt, und stellen dafür das Musikprogramm zusammen. Dazu gehört auch jemand namens Barnautzki: „Der macht deutschsprachigen Bossanova-Jazzpop“, sagt Chris und gibt an André weiter. „Maniax“, beginnt er aufzuzählen, „Ralf, der Schlagzeuger von The Twang mit seiner neuen Band“, deren Name fällt ihm nicht ein, Chris hilft: „Irgendwas mit verkleiden“, und André zückt dafür einen Tonträger: „Das maskierte Wunder“, und Chris ergänzt, dass der früher auch bei Emma Peel war. „Und noch weitere“, schließt André die Musikprogrammliste ab. Chris steigt wieder ein: „Wir grillen auch wieder – ich sitze im hohen Gras und zirpe.“ Ich brauche einen Moment. Er fährt fort: „Neu ist: Wir machen ein Kuchenbüfett selber, alles hausgemachte Sachen.“

Und weil wir grad von Schepper reden, mit ihm und seiner Schwester Märry traf ich mich jüngst im Riptide. Diese Begegnungen sind selten, seit Märry nach Dänemark ausgewandert ist. In Roskilde lebt sie jetzt, kurze Wege zum Festival. Und nicht nur dahin. Weil Porto aus Dänemark so teuer ist und ich „Vemod“, das dritte Album von Solbrud, gern wie die ersten beiden auch auf Vinyl erworben hätte, bestellte ich es in einen Plattenladen in Roskilde, aus dem Märry es dann abholte und mir ins Riptide mitbrachte. Plattendeals im Plattenladen. Nur kurz darauf erfuhr ich, dass Solbrud in Hamburg spielten und ich an dem Tag sogar Zeit hatte. Mehr als zwei Jahre nach meiner intensiven ersten Begegnung in Leipzig würde ich sie wiedersehen! Nils kam mit. Vor den Astra-Stuben saßen die vier jungen Dänen in der raren Sonne. Sänger Ole blickte auf. „Ich war mir nicht sicher“, sagte er zögerlich und nahm mich zur Begrüßung in den Arm, die anderen drei folgten. Ich war baff und glücklich. Solbrud und ihre Begleiter Wildernessking aus Südafrika bereiteten sich noch auf den Gig vor, Nils und ich schlenderten in die Schanze, nur wenige Tage nach dem G20-Gipfel. Beide Auftritte waren dann großartig. Black Metal mit so mannigfachen genrefremden Strukturen, sehr berührend. Ebenso der Abschied von Solbrud: „Bis zum nächsten Mal.“

Hinter der Theke niest Chris, neben mir vor der Theke Niclas. Er ist erkältet und bestellt sich „eine heiße Sojamilch mit Honig“. Chris nickt und verspricht, sie ihm zu Serge nebenan zu bringen. Bei dem Wetter erkältet, kein Wunder. Doch das sei es nicht, sagt Niclas, er habe sich vielmehr am Arbeitsplatz Zug weggeholt. Erst vor wenigen Tagen erreichte er seinen Schulabschluss und bewarb sich an diversen Unis. Seine Traumuni ist die in Hildesheim: Er will Philosophie und Literatur studieren. „Nicht wegen der Stadt“, betont er, sondern weil der Studiengang dort einen so guten Ruf habe. Chris ist schneller mit der Sojamilch als gedacht, also nimmt Niclas sein bestelltes Getränk gleich selbst mit zu Serge.

Dann habe ich gleich mal einige Musikbestellfragen an Chris. Doch allesamt sind sie außerhalb der jeweiligen Bandshops nicht zu haben: Die „Slow Slippy“-12“ von Underworld, die neuesten EPs der Nine Inch Nails und die CD des neuen Projektes Black Line von Douglas McCarthy, dem Nitzer-Ebb-Sänger. Sehr schade: Erstere ist im Webshop nur per Kreditkarte zahlbar und ich habe keine, zweitere erfordern horrende Portokosten und letztere ist auf der Bandcamp-Seite ausverkauft. Dafür bestellt mir Chris die „Verdades“-7“ von The Eden House. Und wärmt mich nebenbei schon mal für das Wochenende rund um den 17. September an, dem zehnten Geburtstag des Riptide, während er einen Muffin auf einen Pappteller stellt und ihn in Alufolie einschlägt. Muffin to go? Eine Bestellung, bestätigt Chris, und erklärt, dass die Papiertüten, die er dafür üblicherweise verwendet, zurzeit aus sind. Den Muffin entnahm er der Kuchenglocke auf der Theke, die er kurz anhebt und um den entwendeten vierten Muffin ergänzt. Schick sieht das aus.

Ebenfalls niesend stellt sich Raze neben mich. „Ich habe Heuschnupfen“, wehrt er meine Frage nach Wetterfolgen ab. „So schlimm wie seit meiner Kindheit nicht.“ Seltsam, mein Heuschnupfen ist so abwesend sie seit 35 Jahren nicht. Raze ist extrem aufgebracht, nicht nur deshalb, sondern weil ihm seine Bank fürs Einzahlen von Münzen auf sein eigenes Konto satte sieben Euro abzog. „Ein alkoholfreies Bier?“, fragt Chris kurz dazwischen. Raze nickt und Chris reicht es ihm herüber. Die Bank ist nicht das einzige Thema, das Raze aufregt. Er springt in alle möglichen politischen Debatten, echauffiert sich darüber, wie bestimmte Gruppen auf bestimmte Informationen reagieren, und leert seine Flasche dabei in einem schier irrwitzigen Tempo. Chris öffnet ihm schon die nächste.

André kehrt aus seiner Pause zurück. Der Abend nähert sich, der Betrieb wird noch emsiger, beide rotieren. Ich auch, aber nach Hause. Bevor der nächste Regen kommt. Oder die ersten Pinguine.

Matze van Bauseneick
www.krautnick.de
Fakebook

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