#116 Ist dies das Leben, das wir wirklich wollen?

Freitag, 2. Juni 2017

Wenn Uwe mich fragt, kann ich einfach nicht nein sagen. Uwe ist das Fanclub Soundsystem, das eigentlich aus zwei Leuten besteht, ihm und Markus, der sich aber wohl aus dem DJ-Dasein verabschiedet hat. Als Fanclub Soundsystem legten die beiden schon einmal im Riptide auf, und als André Uwe fragte, wann es zu einem zweiten Mal kommt, sagte der, dass er mich dabeihaben wolle. Eine Ehre für mich! In jeder Hinsicht: Es ist das erste Mal in fast zehn Jahren Existenz, dass ich überhaupt im Café Riptide auflege.

Und das auch noch parallel zum Bassstammtisch, den Schepper an jedem ersten Freitag im Monat im Riptide zusammentrommelt. Üblicherweise sitzt die Runde neuerdings in der nun rauchfreien Rip-Lounge, doch nicht bei einem so schönen Wetter wie heute, da lagern die Bassisten davor, unterhalb des Fensters zur Lounge, also im Achteck genau gegenüber des Haupteingangs zum Café. „Hab ich mir heute gekauft“, sagt Schepper zur Begrüßung und zeigt mir die neue LP von Roger Waters, „Is This The Life We Really Want?“. Auf dem Cover sind lauter geschwärzte Textzeilen zu sehen, die wenigen Lücken ergeben den Albumtitel. Wer war das, die NSA? Schepper: „David Gilmour.“

Der ganze Handelsweg ist voller Menschen. Bei Stefans Comiculture zocken die Leute Kartenspiele, vor Helmuts Strohpinte trinken sie Gezapftes und das Achteck am Riptide ist proppevoll. Wie es dahinter aussieht, bei Serge und Achim und so, weiß ich nicht, ich biege ins Café ab, wo André und Uwe schon links vor den LP-Regalen unser DJ-Pult aufgebaut haben. „Unsere kleine Show“ nennen Uwe und ich unsere kleine Show, die keinerlei großes Konzept hat, sondern aus der Hüfte heraus geschehen soll. Wir haben unser Repertoire dabei, beide erstmals auf Laptops, und wollen uns damit den Gegebenheiten anpassen. Außer den beiden und den Thekenmenschen ist das Covfefe leer. Nicht ganz: Carsten blättert mit einem Getränk in der Hand in den Second-Hand-LPs am Eingang. André sagt, dass wir zur Illuminierung auch Kerzen angezündet bekommen könnten, doch dann wegen des Ventilators am Eingang vorsichtig zu sein hätten: Er und Chris wunderten sich, woher das fiele herumliegende Wachs auf der Theke gekommen sei, und begriffen dann, dass es der Ventilator von den Kerzen gepustet hatte. Und ich bekomme jetzt den Hinweis, dass der Handelsweg auch jenseits des Achtecks mit Menschen gefüllt ist: Stef sitzt mit vielen anderen bei Serge, sagt sie, und kommt kurz zum Gruße herüber.

Ein wenig arrangieren wir unsere Auflegelokalität neu, ziehen die Lautsprecher nach vorn und beschriften die Kreidetafel am Pult mit einem Hinweis auf unsere nächste gemeinsame Aktion mit Rille Elf, den „Ball im Bierhaus“ am 8. Juni ab 19 Uhr in Harrys Bierhaus nämlich. Und ich verteile an Uwe und André CDs, die mir Leif aus Malmö zur Bemusterung zuschickte: Sein Projekt Perma F hat ein neues Album namens „Gravity“ draußen. Leif war Mitglied der in den Achtzigern in Schweden offenbar einigermaßen bekannten Waveband Unter Den Linden und macht heute mit seiner Frau Birgitta als Perma F Musik zwischen Synthiepop und Rock. „Gravity“ ist der jüngste Zeuge davon, mit einer gestorbenen Blaumeise auf dem Cover, die den Titel zynisch untermalt. Kennen gelernt habe ich Life durch Olaf, denn für dessen Projekt Blinky Blinky Computerband fertigte Leif diverse Remixe an, unter anderem für unser gemeinsames Stück „Meine Freizeit“, und wenn ich mal in Kopenhagen bin, steige ich bisweilen in den Zug nach Malmö und treffe Leif dort.

Uwes System läuft schon, meins startet jetzt. Carsten beugt sich zu mir und erzählt von der 3. Film-Kultur-Nacht, die er mit Freunden am 29. November in der KaufBar veranstaltet. Dafür wünscht er sich als Einleitung Kurzfilme mit lokalem Bezug und regt an, den Riptide-Film zu meinem 100. Blogeintrag zu zeigen, den Stef und Micha A. mit mir und vielen anderen drehten. Feine Idee, da spreche ich die beiden schnellstmöglich drauf an.

Uwe und ich lassen die ersten Songs erklingen. Da kommt Markus herein, Uwes vorheriger Begleiter am Pult. Wir haben dann jetzt quasi die Seiten getauscht; wenn ich statt seiner auflege, frage ich mich, ob er dann für mich bloggt, doch er verneint lachend. Gerade läuft C-Tec mit der charakteristischen Stimme von Jean-Luc de Meyer von Front 242. „Wer hat das verbro- ausgesucht?“, fragt Markus, und wie schon bei unserer letzten Begegnung verlieren wir uns stehenden Fußes in Musikphilosophie. Er mag EBM nicht so sehr, ob wohl er mit seiner damaligen Band einen Plattenvertrag in der Szene hatte, The Cain Principle. Gerade will ich erstaunt nachhaken, da nimmt ihn André beiseite. Kurze Zeit später kommt Markus zurück und strahlt: „Er wollte wissen, welchen T-Rex-Song ich letztes Mal gespielt habe – schön, nicht?“ Allerdings! „Es war ‚Cosmic Dancer‘, ein toller Song.“ Ein Stück von The Cain Principle habe ich sogar dabei, „Western Europe Atmosphere“, von einem Sampler, aber Markus steigt nicht darauf ein, sondern schwenkt zu Roger Waters über, dessen neues Album Radiohead-Produzent Nigel Godrich produziert hat und das „eine reine Anti-Trump-Platte“ geworden sei. Wir springen weiter zu Pink Floyd, „die mag ich nur mit Syd Barrett“, so Markus, und Depeche Mode, die sich nach meiner Auffassung zu „Clean“ bei „One Of These Days“ von der „Meddle“ inspirieren ließen. Markus schwärmt von der „Violator“ und erzählt, dass eine Freundin seiner Freundin soeben in London Depeche Mode live sehe. Okay, und wenn ich schon die Musik dieses Anwesenden nicht auflegen soll, dann eben die eines anderen: „Rain Without Clouds“ von Schepper im Remix von Blinky Blinky Computerband – aber bis zum Künstler schafft es der Schall gar nicht, Schepper kann das gar nicht hören. Schade!

Zum Tanzen ist es den meisten Gästen zu warm, sie sitzen draußen und fassen unsere Auswahl als Soundkulisse auf. Auch schön, und einige Freunde von Uwe lassen sich trotzdem von den Temperaturen nicht abschrecken und bewegen sich ausgelassen vor unserem Pult. Michael gesellt sich kurz dazu, von dem ich angenommen habe, er wäre heute beim Sommerfest des Kulturvereins. „Salve Hospes?“, fragt er, und ich nicke. „Ich habe gerade fünf Stunden Versammlung hinter mir“, winkt er ab und holt sich ein Bier. „Rauch mal eine“, sagt er noch und geht ins Achteck.

Durchs Fenster können Uwe und ich sehen, wie die Dämmerung den Ort zwischen den beiden Caféräumen verändert. Die neuen Lampen werfen pfeilgerades, warmes Licht zu Boden und in den Himmel, Ölfackeln lodern vor den Eingängen, es sieht gemütlich und beseelt aus. Bei uns drinnen aber auch.

„Ist Stef schon da?“, fragt mich Jacqueline, wie schon bei der Indie-Ü30-Party vor einigen Wochen im Nexus. Wie damals muss ich ihr sagen, dass das noch nicht der Fall ist und sie sich wohl gedulden müsse. „Dann bin ich allein“, sagt Jacqueline. Ich verneine und deute auf die Tanzmeute hinter ihr. „Hast auch Recht“, sagt sie und schließt sich ihnen an.

Für den nächsten Fachsimpelmarathon kehrt Markus zu mir zurück. Wir landen bei Musik aus Island und schwärmen beide von „Heima“, dem Film von Sigur Rós. Besonders liebe ich die Sequenz, als mitten in „Se lest“ die Blaskapelle von hinten über die Bühne marschiert, durch das Publikum und hinaus durch den Ort. Gänsehaut. „Bei meiner anderen Band hatten wir auch Bläser, bei Emma Peel“, setzt Markus an. Wie, das war er auch? Das waren doch Riptide-Homies. Er nickt: „Wir haben oft hier gespielt.“ Braunschweig!

Etwas überhitzt gesellt sich Jonas zu uns. „Geburtstag, Geburtstag, Geburtstag“, sagt er knapp über seine bisherige Abendgestaltung und beginnt dann sofort zu tanzen. Die freie Lücke am Pult nutzt Jacqueline und philosophiert ebenfalls über Musik. Sie ist erst 20 Jahre alt und hat noch so viel zu entdecken, sowohl die unübersichtliche Gegenwart als auch die üppige Vergangenheit. „Das Riptide ist der ideale Ort für Entdeckungen“, sagt sie und verweist auf die vielen ausgestellten LP-Cover an den Wänden, die eine riesige Bandbreite zwischen Neuerscheinungen und Reissues abdecken.

Je später die Nacht, desto voller die Tanzfläche. Uwe und ich befeuern sie mit Reggae und Gruftmucke, also mit Bauhaus. Doch die Nachbarschaft verlangt bald ein Ende der Veranstaltung, und diese Rücksicht nehmen wir gern. Verschwitzt greift Jonas nach dem letzten Ton in seinen Rucksack: „Ich habe ein Sweatshirt mit“, sagt er. Ich nicht, an ein späteres Verschwitztsein dachte ich beim Losgehen gar nicht. Jonas grinst: „Ich habe gestern dazugelernt.“ Er ist mit dem Fahrrad hier, ich zu Fuß: „Da ist die Verdunstungskälte nicht so groß wie auf dem Rad“, beruhigt er mich.

Wir bauen ab, Uwe und ich klappen unsere Laptops zu, André bringt uns Getränke. „Ihr habt das hier vielleicht nicht gemerkt, aber draußen war die Stimmung gut“, erzählt er uns. Auch sein Feedback sieht vor, dass wir das wiederholen. Nicht zwingend noch im Sommer, aber überhaupt. Da sind wir doch gern und dankbar dabei!

Matze van Bauseneick
www.krautnick.de
Fakebook

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