#132 Der Handelsweg nach dem Schuss

Donnerstag, 6. September 2018

Aufruhr im Handelsweg: Mit einem so alarmierenden wie emotionalen Schreiben versetzten André und Chris ihren Freunden und den Riptide-Kunden am Dienstag einen Schock. Sie machten öffentlich, was seit viel zu langer Zeit im Hintergrund schwelt: massive Differenzen mit dem Vermieter, die einen Fortbestand des Cafés an der seit beinahe elf Jahren angestammten Adresse ab 2020 in Frage stellen. Chris und André beschreiben Schikanen und berichten von Kostenexplosion und davon, am Ende ihrer Kräfte angelangt zu sein.

„Die 2800 Euro waren der Tropfen“, sagt Chris. André hat sich Urlaub genommen, Chris hält die Stellung, heute unterstützt von Tim und Jessy. Bei den 2800 Euro handelt es sich um Kosten für einen Berater, die der Vermieter für seine Geschäftsabwicklungen benötigte und die er anstatt einer lang von Chris und André gewünschten Auslagenrückzahlung dem Riptide aufdrücken wollte, kombiniert mit einer erheblichen Mieterhöhung. Die das Riptide nicht stemmen kann, so Chris, und das habe das Team dem Vermieter haarklein auseinandergesetzt, mit analytischen Beispielen, etwa dem Beleg dafür, dass sich die Laufkundschaft halbiert hat, seit die Stadt die Parkgebühren in der Breiten Straße erhöhte. „Wir haben jetzt zwei Jahre Zeit, wir werden uns umgucken“, so Chris. So lang läuft der bestehende Mietvertrag nämlich noch. „Wir hoffen, dass Angebote kommen“, und ziehen es in Erwägung, sich gegebenenfalls für „eine bessere Immobilie“ zu entscheiden. Denn: „Hier haben wir keine Zukunft, mit oder ohne den Post.“

Den setzten die beiden Chefs nach langem Zaudern vorgestern bei Facebook ab, lancierten ihn aber nicht bei der Presse. Die persönlich formulierte Nachricht war für Freunde und Stammkunden bestimmt und sollte die Vermieter eigentlich nicht erreichen: „Wir wollten einen wütenden Bären nicht wütender machen.“ Nach 24 Stunden war die Information allerdings über 1200 mal geteilt, die absichtlich ausgeklammerte Presse nahm die Nachricht auf, sie lief sogar groß auf dem überdimensionalen LED-Monitor am Haus der Braunschweiger Zeitung, wie Chris zu seinem entsetzten Erstaunen feststellen musste. Mit der riesigen Resonanz und dem damit einhergehenden Rückhalt rechneten die beiden nicht: „Unfassbar!“, staunt Chris überwältigt. Er berichtet von dem Online-Kommentar eines Ladens, der ihm die Tränen in die Augen treibt: „Haltet durch, die ganze Stadt steht hinter euch.“ Chris ist in gewisser Weise zuversichtlich: „Wir werden uns freischwimmen, egal, wo, egal, wie.“ Und sollte sich doch keine Alternative anbieten: „Dann haben wir 13 Jahre lang unseren Traum gelebt.“

Noch ist es nicht so weit, mit dem Öffentlichmachen der Umstände ist belegbar ein Prozess in Gang gesetzt. Und sei es der, sich zu imaginieren, wie der Handelsweg, wie ganz Braunschweig ohne das Riptide aussähe – dieser Schock reicht weit. Auch in der direkten Nachbarschaft, bei der ich mich deshalb heute umhöre.

Bei Fifty Fifty Second Hand treffe ich Sophie, die für Marion hinterm Verkaufstisch die Stellung hält. „Es wäre furchtbar, wenn das Riptide nicht mehr da ist“, sagt sie. „Das Riptide macht den Handelsweg aus, der wäre nicht das Gleiche.“ Fraglich wäre daher auch, „wie sich das auf die anderen Läden auswirkt“. Das Café sei „die Kultur in Braunschweig“, sagt Sophie, „ich gehe seit Jahren ins Riptide“. Ein Ende wäre „furchtbar“. Von möglichen Umzugsplänen der beiden Chefs hat sie gehört: „Das ist die Frage, wie es fürs Riptide an einem anderen Standort wäre.“ Grundsätzlich findet sie, dass die Bedeutung des Cafés für die Stadt riesig sei: „Allgemein in Braunschweig kommt Kultur so krass zu kurz!“ Auf den paar Metern zwischen Breiter Straße und Görderlingerstraße hingegen finde sie zu ihrer Freude statt, als direkt Beteiligte schwärmt Sophie unter anderem von den Handelsweg-Partys: „Es haben alle geöffnet, es sind alle gutgelaunt, das ist superschön.“

Vor seinem Antiquariat sitzt Serge, raucht und unterhält sich mit Kunden. Die trüben Aussichten, das Riptide könne schließen, erfreuen ihn nun nicht gerade: „Ich wäre nicht begeistert, weil wir für die Nachbarschaft sehr dankbar sind“, sagt Serge. Allen sei klar, dass das Café in seiner Relevanz auf die Nachbarn abstrahlt. Unübertrefflich: „Wir sorgen uns, was da reinkommt.“ Den Facebook-Text von André und Chris betrachtet er zwar etwas skeptisch, doch: „Man könnte zynisch sagen, werbetechnisch ist das gut, viele werden dadurch auf den Handelsweg aufmerksam.“ Allein bei ihm haben sich heute einige neue Kunden eingefunden: „Journalistisch gesehen ist das super.“ Die Aussage darin verbessere sich dadurch indes nicht.

Gegenüber sitzt Birgit in ihrer Schmuckwerkstadt 38 an den Schmiedewerkzeugen. „Das wäre natürlich tragisch, es tut mir leid für die beiden“, sagt sie bezogen auf eine potentielle Schließung des Cafés. „Andererseits, es gibt auch immer zwei Seiten“, gibt sie zu bedenken, unterstreicht aber: „Es täte mir leid, wenn sie aufgeben müssten.“

Vor ihrem Café Drei nebenan plaudert Jessy mit Gästen von Achims Tante Puttchen gegenüber. Sie teilt Birgits Haltung in allen Punkten: „Es gibt immer zwei Seiten der Medaille, und wir kennen nicht beide Seiten“, sagt sie. Doch auch sie betont: „Es wäre ein Verlust, das steht außer Frage – das Riptide ist halt doch eine Größe nach fast elf Jahren.“

Genau das denkt auch Stefan, der eben von einer Runde in die Stadt in seinen Laden Comiculture zurückgekehrt ist: „Natürlich würde da was fehlen, ist doch klar!“ Er betont die Gemeinschaft im Handelsweg: „Wir haben Abhängigkeiten voneinander, das ist superwichtig, wir profitieren voneinander.“ Trotz des Facebook-Eintrags und der unmittelbaren Nachbarschaft zum Riptide kennt Stefan die exakten Hintergründe allerdings nicht: „Ich weiß gar nicht so genau, was da vor sich geht, wir haben hier alle Fragezeichen.“ Ihm ist die Bedeutung des Cafés auch für seinen Laden bewusst, untertreibend sagt er: „Das Riptide macht den Handelsweg ein bisschen bekannt in Braunschweig.“ Und für das Riptide sei der Handelsweg selbst perfekt, denn der sei „eine Art Versteck, ein Kaninchenbau“. Die emotionale Seite des Facebook-Posts kann Stefan verstehen, insbesondere mit Blick auf die Konsequenzen für Familienvater André: „Wenn du selbständig bist, investierst du ganz viel Zeit, und die kriegst du nicht wieder.“ Bei der Energie, die André ins Riptide stecke, sähe er sein Kind womöglich gar nicht großwerden. Andererseits erinnere Stefan der Facebook-Text im Hinblick auf die möglicherweise vernichtenden Reaktionen des Vermieters an den Film „Fight Club“: „Du hast die Aufgabe, eine Schlägerei anzufangen – und sie zu verlieren.“ Denn zu befürchten sei, dass die Fronten jetzt erstrecht verhärtet und Kompromisse noch aussichtsloser seien. Grundsätzlich findet Stefan: „Das Riptide ist immer ein Teil des Kulturlebens, das Ende wäre für den Handelsweg traurig, aber auch für Braunschweig.“ Er schwärmt von dem „chilligen Laden mit chilligen Leuten“, deren Art zu feiern sich von der an anderen Partymeilen in der Stadt angenehm positiv unterscheide. Und: „In der Stadt hast du Franchise, in der Peripherie inhabergeführte Geschäfte“, dazu gehört auch der Handelsweg und das müsse so bleiben. Die allgemeine Entwicklung erzeugt bei ihm Kopfschütteln: „Ich verstehe das nicht“, sagt Stefan. Zum Beispiel: „Der Siebenschläfer ist weg“, die Cocktailbar in der Scharrnstraße einige Ecken weiter schloss erst kürzlich. Er sinniert: „Als ich den Laden hier vor fast 22 Jahren aufgemacht habe, war hier im Viertel viel mehr los – die Leute waren abends unterwegs und haben dabei den Laden entdeckt und sind in der Woche wiedergekommen.“ Doch er hat eine Erklärung: „Die Stadt hat Schlagseite, das Schloss hat eine starke Präsenz, und die Leute kullern da hin.“

Schräg gegenüber öffnen Frusti und Andrea die Einraumgalerie, sie setzen sich nach ersten betrieblichen Aktivitäten auf die Bank vor dem großen Galeriefenster. „Ich kann sagen, dass wir den Laden hier gewählt haben, weil das Café schon da war“, unterstreicht Frusti die Relevanz des Riptide. „Es gibt immer eine gute Zusammenarbeit, man bereichert sich gegenseitig“, findet Andrea. Frusti nickt: „Wir sind abhängig, nicht zuletzt von ihrem Geschirrspüler.“ Andrea setzt an: „Zum Beispiel bei Sound On Screen, da kommen viele Gäste auch in unsere Ausstellung, das ist toll, und umgekehrt, wenn wir eine Eröffnung haben, gehen die Gäste rüber und kaufen die Getränke, die sie möchten, das ist auch toll.“ Frusti mag sich ein Ende des Riptide nicht vorstellen: „Das wäre ein Verlust für den Handelsweg.“ Und Andrea sieht es wie Stefan von Comiculture: „Das Publikum ist toll.“

Es gibt aber auch Skeptiker in der Nachbarschaft. So richtig Verständnis kann Helmut von der Strohpinte etwa für das Vorgehen von Chris und André nicht aufbringen, weil er die Intensität des Disputs nicht kennt: „Ich habe keinen Ärger mit dem Vermieter“, stellt er mit Verwunderung fest. „Wenn etwas kaputt ist, muss man ab und zu selber den Pinsel in die Hand nehmen und das korrigieren“, findet er. Und damit widmet sich der alteingesessene Wirt wieder seinem Buch.

Ungefähr genau so lang am Platze wie die Strohpinte ist Achims Kneipe Tante Puttchen: „Ich bin seit dreiunddreißigeinhalb Jahren hier drin“, dreimal so lang also wie das Riptide. Eine Pachterhöhung nach einiger Zeit sei eigentlich normal und hinnehmbar, sagt Achim, und befürchtet, dass der schriftliche Beitrag der beiden Riptide-Wirte ihrem Vermieter gegenüber vielleicht etwas undiplomatisch wirken könnte. Dem gehört indes nicht der gesamte Handelsweg: Das Tante Puttchen ist nicht in dessen Hand.

Das Riptide erfährt mehrheitlich überwältigenden Zuspruch, nicht nur online. Konstantin ist extra wegen des Posts hergekommen, um unter der Segelplane im Achteck sein Wolters zu trinken. „Ich bin ein bisschen besorgt auch“, sagt er, „das trifft mich schon – ich fänd’s halt schade, weil ich schon Ewigkeiten hier sitze und die Betreiber mag und viele Leute kennengelernt habe.“ Er schwärmt von der „netten Cafékultur“: „Es ist hip und mit einem gewissen politischen Anspruch, das war eine Art Vorreiter in Braunschweig, zum Beispiel für die Makery.“ Die Musikfilmreihe Sound On Screen sei nur eine von vielen reizvollen Riptide-Veranstaltungen in der Stadt: „Es ist ein wichtiger Ort und ein guter Zusammenschluss, zwischen Linksradikalen und Bürgies, ein Anlaufpunkt, auch um Vorverkauf für Konzerte machen zu können, um selbst Sachen verkaufen zu können.“ Den Disput zwischen den Cafébetreibern und dem Eigentümer kann er nachvollziehen: „Die Riptides wollen Geld verdienen, der Vermieter will Geld verdienen, das ist wohl kein Einzelfall – er merkt, dass der Handelsweg attraktiver und belebter wird und dass man mehr Geld rausholen kann“, die alternative Kultur sei ein kommerzieller Faktor geworden. Konstantin seufzt: „Man lebt in der Blase, dass alles so weiterläuft, wie es war“, und sei dann erschüttert, wenn es zu solchen Veränderungen kommt. Den Facebook-Text unterstützt er: „Der kam gut an, wurde oft geteilt – das war der richtige Schritt, wenn du nix machst, passiert auch nix.“

Nicht nur der Siebenschläfer ist dicht, auch die BrauBar um die Ecke – die angrenzende Stebner-Brauerei zieht derweil nach Querum um – und auch das Riptide äußert nun massive Probleme: „Es ist ein Trauerspiel“, stöhnt Schepper. Er ist nicht nur regelmäßiger Gast im Ritpide, sondern trat hier auch schon oft als Künstler auf, mit seinem Solobassprogramm. Mit einem alkoholfreien Hefeweizen sitzt er am Fenster neben dem Reinhörplattenspieler. „Wo soll denn die ganze Kleinkunstgeschichte hin, alle machen dicht, der Hansa-Kulturclub, das Meier, das Joker im weitesten Sinne, das Tegtmeyer, und das FBZ, da fing das Drama ja mit an.“ Immerhin in der Eule fänden einige „Sachen“ nach seinem Geschmack statt, wie das Konzert von Long Distance Calling im Dezember. „Es gibt nur wenige Inseln, wo man Livemusik hören kann oder selbst spielen“, findet Schepper. „Das ist zu wenig für so eine Stadt, für die zweitgrößte Stadt in Niedersachsen.“ Er grinst: „Und die geilste Stadt in Niedersachsen.“ Dennoch stellt er fest: „Hier kommt doch keiner mehr her, in Peine, Gifhorn, Wolfsburg oder Celle ist mehr los, Braunschweig ist der blinde Fleck auf der Veranstaltungskarte.“ Die für 2019 geplante Halle am Westbahnhof sei „ein Tropfen auf dem heißen Stein“, er sehe ihr aber denoch mit Hoffnung entgegen.

Aber: Noch ist das Riptide ja da, noch trinke ich dort Kaffee, Kola, Bier, esse Burger, Muffins, Fladenbrote, gehe zu Sound On Screen und anderen Veranstaltungen, treffe Freunde und Fremde, kaufe und bestelle Schallplatten und CDs und schreibe weiter Monat für Monat den Blog, seit nunmehr elf Jahren und ohne ein für mich absehbares Ende. Nach meinem Empfinden ist der Handelsweg das Schanzenviertel Braunschweigs, der einzige zentrierte Fleck (Sub-)Kultur in dieser Studenten- und Arbeiterstadt. Diesen Status aus welchen Gründen auch immer zu gefährden, anstatt ihn zu fördern, zeugt von fehlendem Blick für das Ganze. Und das Ganze reicht weit hinaus, über den Handelsweg, sogar über Braunschweig. Das sollte indes auch den Braunschweigern klar sein, die jetzt das potentielle Aus beweinen: Die beste Unterstützung ist wohl, im Riptide einfach mal wieder mehr Zeit zu verbringen. Ist schön dort!

Matze van Bauseneick
www.krautnick.de
Fakebook

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