#133 Ein sicherer Ort

Dienstag, 9. Oktober 2018

Zwei erschreckende Nachrichten betrafen das Café Riptide im September: Die von der möglichen Schließung in zwei Jahren und die von einem Gewaltausbruch im Handelsweg, der von Rechtsradikalen ausging. Nach letzterem Ereignis fragen Kunden Chris noch heute hin und wieder. „Das Riptide war nicht beteiligt, das ging bei Tante Puttchen und Café Drei los und zog sich dann durch den Handelsweg“, berichtet Chris. Was da genau losging: Zwei Rechtsradikale lösten im Anschluss an ein Heimspiel der Braunschweiger Eintracht eine Schlägerei aus, Verletzte gab es lediglich auf Seiten der Angreifer. „Das ist uns in elf Jahren jetzt nur einmal passiert“, sagt Chris erschrocken. Und gibt dem Kunden eine behördliche Zusage weiter: „Die Polizei hat versprochen, regelmäßig nach dem Rechten zu sehen.“ Noch bevor Chris den Satz beendet, löst sich trotz des Themas ein allgemeiner Lachanfall. Nach einer Weile ist Chris in der Lage, fortzufahren: „Wenn Ihr Euch einmal nicht wohlfühlt, sagt uns Bescheid.“ Der Kunde ist beruhigt und nickt verständig. Der Schrecken ist bei Chris immer noch spürbar: „So etwas habe ich noch nie erlebt.“ Er war an dem Abend nämlich dabei: „Wir haben das friedlich gelöst, dafür, dass das so ein Terror war.“ Er betont noch einmal: „Das hatte nichts mit uns zu tun.“

Auch für mich war es erschreckend, den Handelsweg und damit indirekt auch das Riptide zweimal in kürzester Zeit mit Hiobsbotschaften in den Medien wiederzufinden. Die andere drehte sich um die Schwierigkeiten, die Chris und André mit ihrem Vermieter haben, der ihnen Auslagen nicht zurückzahlt und gleichzeitig die Miete erhöht, um einen für die beiden Gastwirte kaum tragbaren Faktor. Ein Monat ist seit der Bekanntgabe der Schwierigkeiten vergangen; Zeit, in der sich zahllose Menschen zu Wort meldeten, viele öffentlich, andere direkt bei Chris und André. Inzwischen hat sich auch bei Chris die monatelang angestaute Anspannung etwas gelegt: „Unser Vertrag läuft noch zwei Jahre – wir kämpfen, wir geben nicht auf, wir sind gesprächsbereit, wir versuchen, alles mit dem Vermieter zu klären“, stellt er klar. Eine der genanten Kröten zu schlucken, sei indes unumgänglich: „Wir stellen uns auf die Mieterhöhung ein, die müssen wir tragen.“ Doch er ist sich gewiss: „So lange wir den Mietvertrag haben, schließt der Laden nicht.“

Direkte Gespräche mit dem Vermieter stehen bis dato noch aus, bislang gab es lediglich einige schriftliche Korrespondenz, etwa darüber, dass Chris und André das eigens angemietete Büro gegenüber zum 31. März nicht mehr zur Verfügung steht. Sicherlich nicht schön für das Riptide, aber Chris untermauert: „Wir sind bereit, über die Zukunft ruhig und freundlich zu sprechen.“

Derweil wandte sich nun eine breite Öffentlichkeit an die beiden Unternehmer, die im Zuge ihres aufrührenden Facebook-Postings sogar einen Umzug des Riptide in eine andere Immobilie nicht ausschlossen: „Es gab unfassbar viele Angebote, von Privatpersonen, Organisationen, Agenturen“, staunt Chris. Doch soll ein Umzug nicht das Ziel sein, so lang der gegenwärtige Standort noch zu halten ist: „Wir überlegen, wir handeln nicht voreilig.“ Sogar ein neues Büro hält jemand für das Riptide frei.

Auch Zuwendungen anderer Art erreichen das Riptide. „Die Boardjunkies haben Geldspenden für uns gesammelt, das finden wir toll“, erzählt Chris von einer Initiative des Skater-Bekleidungsgeschäfts in der Innenstadt. Und: „Es gibt Bands, die für uns spielen wollen.“ Dabei wissen Chris und André noch gar nicht, wie sie mit Spenden umgehen, ob sie sie überhaupt annehmen sollen. Das gehört mit in die Flut der Überlegungen, die die beiden nun anzustellen haben. „Bis Jahresende wird sich herauskristallisieren, wie die Marschroute für uns aussieht“, sagt Chris zuversichtlich.

Erstes Ziel ist dabei das Gespräch mit dem Vermieter. An den haben sich offenbar auch einige lokale Medien wenden wollen, jedoch ohne Erfolg, wie in der Zeitung zu lesen war, so Chris. „Wir selbst haben auch noch nicht mit der Presse gesprochen“, stellt er klar. Denn: „Wir wollen das friedlich und fair lösen.“ Ein Gerichtsverfahren etwa streben die beiden Wirte nicht an: „Das ist nur etwas für Leute, die nicht mehr weiterwissen.“

Auch die Politik meldete sich inzwischen zu Wort, die SPD etwa brachte eine Anfrage in den Stadtrat ein, mit Vorschlägen, wie der Handelsweg als Ganzes laut Text auf der SPD-Webseite „zukunftsfest“ zu machen sei. Dabei geht es um „Werbe- und Marketingstrategien“ wie bessere Beschilderungen oder das bisherige Programm ergänzende „Aktionen oder Feste“ sowie die „grundsätzliche kultur- und städtebauliche Einordnung des Handelswegs durch die Verwaltung“. Besondere Rückenstärkung geht dabei in Richtung des Café Riptide: Die Informationen über Mietpreiserhöhungen bei gleichzeitigem Sanierungsstau „können an der Politik nicht spurlos vorbeigehen“. Mit dem Vorstoß steht die SPD offenbar nicht allein da, so Chris: „Auch andere Parteien haben sich eingeschaltet.“

Also: „Das hat eine Riesenwelle geschlagen“, sagt Chris, erstaunt und dankbar gleichermaßen. Nur wollen André und er sich nun zu keiner Übersprunghandlung hinreißen lassen: „Zum Glück haben wir noch zwei Jahre.“ Veränderungen geben müsse es aber, und welche, das gehöre mit in die Pläne, die bis Ende des Jahres geschmiedet sein wollen. „Wir haben alles durchüberlegt“, sagt Chris. Sogar die Idee, den Plattenladen rauszuschmeißen: „Damit sparen wir Geld und Arbeit, aber im Winter nutzt uns der zusätzliche Platz nichts“, denn dann suchen weit weniger Menschen den Handelsweg auf als zu schöneren Jahreszeiten. Und ein Riptide ohne Platten, das ist einfach nicht vorstellbar. Doch: „Wir müssen sehen, wie wir die Arbeit reduzieren können“, stellt Chris klar. „Aber wir dürfen nicht in Panik verfallen.“ Sortieren, Pläne schmieden, „wie wir das Ganze cleverer und flexibler machen“, mit dem Vermieter sprechen – und: „Erholen“, so Chris. „Das steht jetzt als erstes im Fokus.“

Uff. Eigentlich wäre es schön gewesen, an dieser Stelle ganz viele andere Themen anzuschneiden. Von der neuen LP „Treibgut“ der Band GR:MM wäre beispielsweise zu erzählen, bei der der frühere Riptide-Mitarbeiter Gideon mitspielt, von anstehenden Konzerten im Riptide wie dem von Ohrenfeindt am 18. Oktober im Anschluss an den Sound-On-Screen-Film „Coda“ über Ryuichi Sakamoto im Universum-Kino, von den saisonal wieder eingeführten Suppen, von meinem spontanen Gespräch mit Pott über das Open-Arsch-Festival, über das ich einen Beitrag zur Ausstellung „Soundtrack WOB. 50 Jahre Musik und Jugendkultur in Wolfsburg“ im dortigen Stadtmuseum einen Beitrag verfassen darf, über musikalische Post aus Moskau von Anton, der mir Auszüge des „Addicted Label No Name Records“-Programms zuschickte, oder auch über meine kleinen musikalischen Abenteuer, die ich kürzlich in Ligurien erlebte, mit den Plattenläden Black Widow und Flamingo Records in Genua, mit der LP „La stanza di Swedenborg“ von Vanessa Van Basten, mit der vom Sohn eines Mitmusikers und also auch meiner Gastgeberin geschenkten CD der Band Nicola Rollando e i Nuovi Disertori. Aber jetzt wiegen andere Dinge schwerer. Oder?

Durchatmen. Verarbeiten. Sacken lassen. Nach vorn blicken. Kunden bedienen: Mit einem Flips-Gutscheinheft steht Steven vor der Theke und sucht das Blatt mit dem Riptide-Coupon. „Seite 124“, weiß Chris und lächelt. Der Mann kennt eben alle Seiten seiner Stadt. „Und ich bin auch nicht zum ersten Mal hier“, sagt Steven. Auf ein Sonntagsfrühstück hätte er auch mal Lust, und Chris weist ihn darauf hin, rechtzeitig zu reservieren, weil es sonntags erfahrungsgemäß „proppevoll“ wird. Steven ist erst kürzlich nach Braunschweig gezogen, aus Oldenburg, wo er sechs Jahre lang auf Lehramt studierte. „Eigentlich komme ich aus Sülfeld“, erzählt er, also quasi von um die Ecke. Jetzt ist er Lehrer am Gymnasium in Meine, also quasi um eine andere Ecke, das erst wenige Jahre existiert: „Der jetzige oder der davor war der erste Abi-Jahrgang dort“, bestätigt er. Und schwärmt vom Riptide: „Das ist ein cooler Laden, ich mag das, das ist die einzige alternative Anlaufstelle in Braunschweig, die ich kenne.“ Steven findet das Riptide „erfrischend“, und sicherlich auch die beiden Wolters in seinen Händen: „Ich will meine Freundin nicht warten lassen“, sagt er und kehrt zurück ins Achteck. Mit Recht: Der Sommer dauert dieses Jahr von April bis mindestens Anfang Oktober und schickt sich nicht an, sich jemals zu verabschieden. Ein guter Anlass, die Sonne und die Wärme draußen auszukosten.

Nun tritt Gesine hinter die Theke, sie ist gleich Chris‘ Ablösung, Melissa bleibt noch länger. Gesine ist seit etwa zwei Monaten Aushilfe im Café. „Ich habe Gastroerfahrungen in Hannover gesammelt, aber nur kurz“, erzählt sie. „Eigentlich komme ich aus Essen und Dortmund.“ Aus dem Pott! Der ihr gar nicht so gefällt: „Ich finde Essen nicht gut“, sagt sie. Nicht nur aus dem Grund, der ihr als erstes einfällt: „Da kann man nicht Kunst studieren.“ Auch in die dortige Kultur hatte sie wenig Einblicke: „Der Goethebunker ist die einzige Disco, in der ich war.“ Das Don’t Panic am Nordrand der Innenstadt kennt sie nicht, die Punk-Kneipe, die davor Panic Room hieß, und vom Unperfekthaus hat sie bislang auch nur gehört.

Chris übergibt nun die Schürze an Gesine und nimmt für heute seinen Hut. Ich nehme den „Black Mirror“-Soundtrack von Alex Somers und Sigur Rós auf LP mit und mache mich ebenfalls auf den Heimweg. Mit dem nicht extra zu fassenden Vorhaben, wiederzukommen, und das bitte auch nach 2020 noch.

Matthias Bosenick
www.krautnick.de
Fakebook

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