Dienstag, 13. November 2018
Stockdunkel und nasskalt ist es am mittleren Nachmittag, da ist der November ganz bei sich, auch wenn er uns zwischendurch immer wieder sonnige Tage mit knapp unter 20 Grad kredenzt und damit den ohnehin schon erbaulich langen Sommer nachklingen lässt. Noch immer stehen am Riptide Tische und Bänke im Achteck zwischen Café und Lounge, aber deutlich weniger als zu Sommerzeiten, also bis vor zwei, drei Wochen. Noch einiges mehr hat sich in dieser Kultureinrichtung geändert, und heute steht André in der Küche, um Burger vorzubereiten und mir Auskünfte zu geben; an den Tischen und der Theke ist derweil Gesine im Einsatz.
Als Chris und André vor zwei Monaten mit ihrem aufgewühlten Facebook-Eintrag ihre Folgenden über die missliche Situation zu informieren, in der sie sich befinden, kündigten die beiden Gastwirte an, den erheblich gestiegenen finanziellen Anforderungen mit Maßnahmen zu begegnen, und diese finden nun nach und nach Anwendung, in zwei Richtungen: Einsparungen und Zusatzaktionen. Ersteres erfolgt unter anderem mit angepassten Öffnungszeiten: Seit November nehmen Chris und André in der Woche erst ab 16 Uhr den Schlüssel in die Hand. „Wir mussten die Zeiten ein bisschen straffen, weil der Winter da ist und der Nachmittag keine Laufkundschaft hat“, erläutert André. „Auf dem Papier sieht das gut aus, um Kosten zu sparen.“ Dazu gehören unter anderem Ausgaben für Personal und Strom. „Wir probieren das zum ersten Mal mit diesen Öffnungszeiten und hoffen, dass die Gäste geballt ab 16 Uhr hier sind.“ Sobald es wieder wärmer wird, wenden die beiden auch wieder die alten Öffnungszeiten ab 12 Uhr an. Heute sieht jedenfalls nichts danach aus, dass die neue Startzeit die Gäste abschreckt: Das Riptide ist auf beiden Seiten des Achtecks voll besetzt. Und am Samstag bleibt es bei 12 Uhr sowie am Sonntag bei 10 Uhr zum Frühstück.
Da sparen allein nicht ausreicht, steigern André und Chris die Attraktivität des Cafés mit etablierten und mit zusätzlichen Aktionen. Dazu gehört unter anderem die nächste Ausgabe der „Songs & Whispers“-Reihe mit Akustikkonzerten, die seit 2009 von Bremen aus mit verschiedenen Musikern durch die Republik tourt und am 16. November Ben Lorentzen in den Handelsweg führt. Zu den etablierten Reihen gehört auch Sound On Screen, mit Musikfilmen im Universum-Kino und Anschlussevents im Riptide. Als nächstes läuft am 22. November ab 19 Uhr „Shut Up And Play The Piano“ über Chilly Gonzales, und auch die folgende Staffel steht schon fest: Diese startet am 14. Dezember um 18.45 Uhr mit dem Queen-Biopic „Bohemian Rhapsody“; beide Filme laufen übrigens im Original mit Untertiteln.
Zu den neuen Aktionen gehört die laut André „sehr gut angenommene neu gestartete“ Quiz-Night, die als nächstes wieder am 21. November läuft. Und weitere Konzerte sind ebenfalls geplant, im Dezember kommen Kroner und Poly Ghost ins Riptide. „Und unsere Winter-Specials sind wieder da“, ergänzt André und zählt die speziellen Getränke auf: „Apfel-Amaretto-Zimt, 43er mit Banane, Glühwein.“ Das Sonntagsfrühstück bekommt zudem am 16. Dezember ein vorweihnachtliches Gewand: Es findet als Adventsfrühstück mit vielen Winterspecials statt, für das Reservierungen erforderlich sind.
Eine Änderung betrifft den Aspekt der Ersparnis: „Die CD-Abteilung lösen wir Ende Dezember auf“, kündigt André an. „Die Nachfrage ist da gering.“ Aber nicht ersatzlos: „Dafür schaffen wir Platz für mehr Vinyl.“ Und zusätzlich nahmen die beiden schweren Herzens, aber notwendigerweise einige Speisen und Getränke von der Karte.
Wenn wir schon bei Sound On Screen waren, gibt es ja noch etwas nachzuberichten, nämlich die Aktionen beim jüngst abgelaufenen Filmfest, in dessen Rahmen auch die Musikfilmreihe wieder einen besonderen Platz erhielt. Mit einem besonderen Schmankerl: Stefan Olsdal, bekannt durch seine Aktivitäten bei der Alternative-Rock-Band Placebo, gab mit seinem neuen Projekt Digital 21 ein Konzert in der Bartholomäuskirche und trudelte zur Sound-On-Screen-After-Show-Party im Riptide ein. Nicht als DJ oder Musiker – den Soundtrack zu diesem Abend lieferte Chris persönlich unter seinem Alias Butch Cassidy –, sondern als nahbarer Gast.
Im Riptide – das ist das erklärte Ziel von Chris und André – soll es also weitergehen. Darauf hoffen auch die Gäste, die Stammgäste wie die Gelegenheitsgäste, und auch die fest eingerichteten Runden, die sich hier zusammenfinden, wie der Bassstammtisch von Schepper, der seine Basis vor längerer Zeit schon ins Riptide verlegte und kürzlich sogar sein zwanzigjähriges Bestehen feierte, dies allerdings aus Platzgründen im Schimmelhof. Oder der Illustratorenstammtisch, von dem mir Autor und Zeichner Carsten Weyershausen erst kürzlich in ebenjenem Schimmelhof erzählte, und zwar bei der jüngsten Ausgabe der Musikschöpfungen des Eiko-Vereins, bei der wir uns trafen und Musik hörten von Die Müller-Verschwörung (im Original ungekoppelt), dem Katzensuperhelden Greydenz, dem Duo Luco & Dylan sowie Doubassin Sanogo mit traditioneller Musik aus Burkina Faso, und bei der wir uns unter anderem auch über die beiden Bücher unterhielten, die Carsten mit Holger Reichard herausbrachte, „Stadt. Land. Flucht.“, das Buch über den Vergleich zwischen Leben auf dem Land und in der Stadt, in dem er die unpopuläre Stadtbewohnersicht einnahm, die ich teile, und „Kerle im Klimakterium“, das ich erst jetzt lese und nicht zu Zeiten seiner Veröffentlichung vor sechs Jahren, weil es mich damals noch nicht betraf und heute dafür begeistert. Und er berichtete von diesem Illustratorenstammtisch, der – wie es der Zufall will – genau heute tagt, in der Rip-Lounge.
Initiator dieses Stammtischs war Ben Urban, der Carsten gegenüber sitzt und der nach der Gründung erfuhr, dass es schon einmal den Versuch einer solchen Einrichtung gab, die aber nie zustande kam. Er traf den zu seiner Rechten sitzenden Patrick Schmitz alias Pott bei dessen Aktion zum Heavy-Metal-Malbuch im Januar im Ritpide und trug ihm mit Erfolg sein Ansinnen an: „Ich war selber überrascht, wie viele Illustratoren es in Braunschweig gibt.“ Ben kommt „aus der Grafik-Richtung“, erzählt er, und gestaltete unter dem Alias Hygin unter anderem Buchtitel sowie Plattencover für diverse Bands aus dem Film- und Mittelalter-Genre, darunter Versendgold, Corvus Corax und Feuerschwanz, zuletzt Ganain. Lokal beauftragt war er indes noch nicht: „Für Braunschweiger Bands habe ich das tatsächlich noch nicht gemacht“, er finde seine Kunden eher in Bremen und Hannover. Immerhin: „Waldkauz kommt aus Hildesheim.“
Bei der Metalmalbuchaktion gewann Ben einen Beutel der fingierten Band Salty Ballz, genau wie seine Sitznachbarin Kathleen Kalle alias Katzleen, die an dem Abend sogar den Ausmalwettbewerb gewann. „Ich zeichne als Hobby“, sagt sie, „und ich war bei Robertas Ladies Drawing Night, und sie hat mich auch in die Gruppe gebracht.“ Roberta Bergmann sitzt links von Carsten und ist unter anderem Mitgründerin der Gruppe Tatendrang Design, die hier in der Lounge einen ihrer Tat-O-Maten installierte.
Neben Katzleen schlängelt sich Marina Kanzian auf die Sitzbank. „Ich bin eigentlich Grafikdesignerin“, sagt sie beinahe entschuldigend, „und ich habe ein Animationsstudio mit meinem Freund und Partner.“ Sie spricht von Hyperebene, das sie mit Enrico Lummitsch betreibt. Einen leichten Akzent höre ich bei ihr heraus, ohne ihn genau lokalisieren zu können: Aus Brasilien kommt Marina, seit dreieinhalb Jahren ist sie in Deutschland. „Ich habe im Vapiano die Speisekarte mehrmals durchgelesen und so Deutsch gelernt“, erzählt sie. Und grinst. „Nee, ich habe in Brasilien schon Deutsch gesprochen!“
Rechts neben mir und damit neben Carsten sitzt Jacob Müller: „Ich bin seit einem Jahr selbständig als Illustrator.“ Arrsome Illustrations nennt er sich, wie „awesome“ in der Piratenvariante. „Ich mache Zeichnungen und Concept Art für Brett- und Videospiele“, berichtet er. „Ich bin noch sehr in den Anfängen.“ Wer weiß, vielleicht ist mir ja sogar etwas davon bekannt? Doch er grinst: „Es gibt bislang noch nichts, was raus ist.“
Dann schneit Dajana Düring in die Lounge und setzt sich zwischen Pott und Roberta an den Tisch. „Ich studiere an der HBK visuelle Kommunikation“, sagt sie. „Hauptsächlich fotografiere ich, aber ich illustriere auch.“ Sie sei „Breitband“, grundsätzlich „interessiert an Darstellungstechniken“, und ist zum ersten Mal hier: „Roberta hat mich eingeladen.“
Roberta, Pott und Carsten kenne ich schon länger. Mit Roberta saß ich in einer vom Silver Club initiierten Runde, die zur Einrichtung eines neuen soziokulturellen Zentrums in Braunschweig führen sollte und aus der sich später der Kufa-Verein gründete. Und Pott kannte ich zwar schriftlich schon länger, traf ihn aber am Tag der Meisterfeier des VfL Wolfsburg persönlich, allerdings in Peine, bei einem gemeinsamen Konzert von Krüger und Müller. „Ich freue mich, hier zu sein und meine Kollegen zu treffen“, sagt Roberta nun, und Pott nimmt wie im Reflex die Gegenhaltung ein: „Ich bin natürlich nicht freiwillig hier, ich bin gezwungen und versuche, den anderen Aufträge abzuluchsen.“ Roberta drückt mir einen Flyer in die Hand für ihren Gesprächsabend „Kopf frei für den kreativen Flow“, den sie am 27. November im Raabe-Haus anbietet. Und wie aufs Stichwort tritt Stefan Zeuke an den Tisch und überreicht ihr Flyer für ihre Ausstellung „Alles und Nichts“, die vom 1. bis 20. Dezember nebenan in der Einraumgalerie zu sehen ist. Carsten und ich vereinbaren noch, dass wir unser im C1 beim Filmfest begonnenes Gespräch über „The Man Who Killed Don Quixote“ von Terry Gilliam und den neuen Spirou von Emile Bravo fortsetzen wollen, dann begleite ich Stefan zurück ins Café.
Dort habe ich nämlich eine Verabredung mit drei Vierteln der Band Final Impact: Ich interviewe Jakob, Jonas und Till für das Gifhorner Kurt-Magazin von Bastian-Till Nowak. Und wie es der Weltengeist will, hört Stefan von der Theke aus so weit zu, dass er die Band gleich für die nächste Ausgabe der Stadtfinder am 22. November als Liveact verpflichtet. So geht das im Riptide.
Ich gehe jetzt aber auch. Draußen treffe ich noch den in Begleitung von Stammgast Markus rauchenden Pott, dem die Ausstellung „Soundtrack WOB“ im dortigen Stadtmuseum ebenso gut gefällt wie mir und der mir dafür noch kürzlich Infos zum Open Arsch gab, weil ich für die Ausstellung einen Text dazu verfasste. Man muss sich das mal auf der Zunge zergehen lassen, dass die Kommune, also die Stadt Wolfsburg, in einer eigenen Einrichtung ihre eigene Subkultur feiert.
Auf dem Heimweg komme ich an der früheren Braubar vorbei, aus der jetzt Licht dringt und vor der Ricardo und Ioannis frische Luft schnappen. Sie sind die neuen Betreiber der Kneipe, die sie am Samstag unter dem Namen „Lissabon Bar & Brasserie“ eröffnen. Einiges ist neu an der Inneneinrichtung, das Gemütliche ist indes geblieben. Lissabon heißt die Bar, weil Ricardo ein in Braunschweig geborener Portugiese ist; der Athener Ioannis trägt das Konzept mit Vorliebe und Freude mit. „Erinnerst du dich an die Werbung ‚Ob Punker oder Banker, mit Abstand können beide leben‘?“, fragt Ricardo. „Wir wollen sie zusammenbringen.“ Dafür legen sie in der Bar den Fokus auf portugiesische Spezialitäten, „zum Beispiel eine Portweinauswahl“, so Ioannis. Auch Speisen aus Portugal soll es geben. Lissabon sei „eine der weltoffensten Städte der Welt“, das wolle die Bar transportieren. Auch mit Kunst und Livemusik, wenn möglich Fado. Die beiden haben nun noch einiges vorzubereiten, um die Bar bis Samstag an den Start zu bringen, und ich will ja auch nach Hause. Obrigado, ευχαριστώ: Es tut sich etwas in der Innenstadt.
Matthias Bosenick
www.krautnick.de
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