#136 Habitak im Qashqai gefunden

Donnerstag, 17. Januar 2019

Großartiges Wetter: Ein Wechsel aus Regen, Schnee, Wind und dicker Bewölkung lässt einige seltenere Pokémons erscheinen, das gibt wichtige Punkte und leckere Bonbons. Noch keine Woche bin ich jetzt auch dabei, mit zweieinhalbjährigem Verzug, angesteckt von Andrea, die ihren Account nach langer Pause aus einem launigen Impuls heraus reaktivierte. Ist schon merkwürdig, was das Spiel mit mir macht: Gassigehern möchte ich die Hunde mit Bällen wegfangen, und wenn ich hinter Automarken wie Qashqai, Pajero oder T-Roc herfahre, frage ich mich, wie diese Monster wohl aussehen mögen. Und umgekehrt: Pokémons wie Habitak, Karpador oder Wiesor könnten auch Bezeichnungen für Autos sein. Aber so richtige Obskuritäten wollen meinen Weg ins Riptide heute nicht queren.

Scheißwetter: Bei dem Gemisch aus Regen, Schnee, Wind und bestenfalls dicker Bewölkung mag man gar nicht vor die Tür gehen. Es sei denn, man will ins Riptide, natürlich. „Die Leute waren gestern ganz schön trinkfreudig“, berichtet Melissa aus der Küche heraus André von der gestrigen Quiznight im Riptide. André war nicht dabei und freut sich, dass die neue Veranstaltungsreihe so viele Teilnehmer findet. Marco ist noch da und pendelt mit Getränkekisten zwischen Keller und Theke hin und her. Heute mag ich einen Kafka bestellen, wie früher, als das Riptide neu und dieses Gemisch aus Kaffee und Kakao eine Art Standard für mich war. Zurück zu den Wurzeln. „Das kenne ich“, sagt André. „Wenn ich im Restaurant einmal etwas gefunden habe, was mir schmeckt, tu ich mich schwer damit, etwas Neues auszuprobieren.“ So geht mir das eigentlich nicht, ich probiere gern herum und kehre intervallartig zu meinen Lieblingsspeisen zurück. Aber der Kafka heute ist eine wetterbedingte Wahl.

Seit Chris und André die CD-Abteilung auflösten, änderte sich etwas im Raume: Die CD-Reste sind nun auf einem schmalen Aufsteller zwischen Eingang und Theke angepriesen, und an ihrer ursprünglichen Stelle zwischen den Schallplattenfächern ist nun ein hoher Tisch mit Barhockern errichtet, an dessen Stirnseite in Boxen gebrauchte LPs zum Stöbern herausfordern. Dazwischen schlendert Morten herum, wirft Blicke auf die Auslagen und nähert sich gemütlich der Theke. Er sucht LP-Hüllen, da er eine Schallplatte verschicken möchte. Melissa übernimmt es, für ihn jeweils zehn Innen- und Außenhüllen sowie einen Karton aus dem Lager an der Theke hervorzuholen, während André mit frisch aufgenommenen Bestellungen aus der Rip-Lounge zurückkehrt. „André, haben wir einen Karton, um Platten zu verschicken?“, fragt ihn Melissa mit den Innen- und Außenhüllen in der Hand. „Ja, haben wir“, bestätigt der und fischt einen gebrauchten Pappkarton aus dem Regal. Für Morten genau richtig: „Ja, der ist gut!“ Ein Freund von Morten wohnt in der Nähe von Oldenburg und ist Plattensammler, erzählt er. „Der ist von dem Laden begeistert – und neidisch“, grinst Morten. Der Freund war bei ihm zu Besuch und entdeckte dabei das Riptide. „Ich bin, was Plattensammeln betrifft, ein Amateur“, behauptet Morten beim Verabschieden. „Aber es ist schön hier.“
Seinen Platz nimmt Simone ein, die mich fragt, wann der nächste Silver Club stattfindet. Sie möchte am Wochenende weggehen und weiß nicht, was alles in Braunschweig los ist. Die Nachricht, dass es den Silver Club seit zwei Jahren nicht mehr gibt, überrascht sie. Seinerzeit gehörte ich mit zum Team, das ehrenamtlich und ohne Gewinnabsicht – so sagte es immer der Chef Skapino – kulturelle Veranstaltungen an Orten organisierte, die für so etwas nicht vorgesehen waren. Dreimal im Jahr machten wir aus Mensen, Kirchen, Kellern, Industriehallen, Abbruchhäusern oder Fitnesszentren stimmungsvolle Räume für Lesungen, Diskussionen, Konzerte, Kunst und Partys. Aus diversen Gründen – unter anderem, weil die nach der Love Parade in Duisburg allerorts gestiegenen Sicherheitsauflagen für so etwas für eine nichtkommerzielle Reihe nicht mehr zu stemmen waren – beendeten wir jedoch unsere Aktivitäten.

Aber auch ansonsten habe ich nicht mehr so den Überblick, was an den Wochenenden in Braunschweig geschieht. Trotz der unzähligen Facebook-Einladungen, die ich bekomme: Die speichern sich selten in meinem Bewusstsein ein, schließlich sind sie ja online abrufbar. Außerdem gehe ich auch gar nicht mehr so häufig weg wie früher, wenn ich mir nicht mittels eigener Veranstaltungen einen fröhlichen Anlass dafür schaffe, bis spät nachts aktiv zu sein. „Das ging mir vor zwanzig Jahren so“, sagt Simone. Damals war sie im UJZ Peine mit Goa-Partys selbst aktiv, die sich stetig erweiterten, auf die benachbarten Lagerhallen und ein Schiff auf dem Kanal, und bei denen Simone noch die Aufgabe der Ambulanz übernahm: „Das konnte ich nicht mehr.“

Vergleichbare Veranstaltungen entdeckte Simone jüngst im Braunschweiger Laut-Club, der so niedrig ist, dass der Schweiß bald von der Decke tropft, erzählt sie. Wie beim zweiten Silver Club im Rebenpark, da standen gefühlt 30 Zentimeter Wasser auf der Tanzfläche. Wie ich schwärmt auch Simone davon, von den verschlungenen Kellerpfaden, dunkel, spärlich und stimmungsvoll illuminiert, mit morbider Kunst bestückt und in den kathedralenartigen großen unterirdischen Raum mündend, in dem dann die Party stieg. „Da habe ich mich in den Gängen verirrt“, erzählt Simone. Und lobt gleich noch die Silver Clubs in der Jugendkirche. Da hatten wir eine riesige Discokugel ins Kirchenschiff gehängt: Selten waren so viele mit offenem Mund staunende Atheisten in einer Kirche zu sehen. Und dann noch mit einem offenen Bier in der Hand. Herrlich.

Das Riptide mag Simone, weil es in Sachen Umweltbewusstsein auf ihrer Linie liegt. Mit grünem Strom und der Offenheit für artverwandte Themen. Sie erinnert mich daran, dass ich mich mit ihr vor einiger Zeit einmal unterhielt, als sie versuchte, einen Stapel Drei-Fragezeichen-CDs zu veräußern. Da meldet sich Marcel vom Sofa aus zu Wort: „Entschuldigt bitte, ich muss jeden fragen, der von den Drei Fragezeichen spricht, was seine Lieblingsfolge ist.“ Auf seinem Schoß spielt sein Sohn Oskar mit einem bunten Schiff, das Marcel im Spieleschrank des Riptide fand. Mir fällt es schwer, mich festzulegen, dafür sind es zu viele Folgen, die mir wichtig sind. Marcel hat nach all den Jahren eine für sich herausgefunden: „Meine ist ‚Das Bergmonster‘.“ Denn das ist – abgesehen von der jüngeren „Zeitreisenden“ – die einzige mit einem quasi offenen Ende, bei dem das mystische Element nicht als Verbrecher überführt wird: „Sondern, es war wohl wirklich ein Bigfoot.“ Simone erinnert sich an die falsche Cousine, die die Schrottplatzhelfer Patrick und Kenneth in der Episode besuchen, und Marcel fügt den eigensinnigen Umweltschützer an. „Meine Lieblingsfolge ist die mit den Vampiren, die ist schön vielschichtig.“ Nummer 140, „Stadt der Vampire“, also eher neu. „Und ‚Die sieben Tore‘ fand ich gut“, sagt Marcel, und Simone pflichtet ihm bei. Wobei das Wortspiel-Rätsel nicht funktioniert, weil die Mehrzahl des Narren-Synonyms Toren ist – damit ist die Folge für mich schon nur noch schwierig gut zu finden. „‚Geheimakte Ufo‘“, ruft Marcel noch vom Sofa aus. Diese Trash-Folge? „Ja, diese Trash-Folge“, lacht er. Dazu fällt Simone eine Live-Episode der Lauscherlounge ein, dem Label von Justus-Jonas-Sprecher Oliver Rohrbeck, bei der die Akteure das Manuskript vorher nicht kannten und sich während der Aufnahme immerzu kaputtlachten. In der Folge landen die Drei Fragezeichen im Weltraum, weil sie Peter von seinen Phobien befreien wollen, in diesem Falle von der Klaustrophobie, „und dann kommt ein Schwein, und ich weiß gerade gar nicht, wie das endet – doch: Sie beamen sich auf die Erde und landen in Berlin, bei der Lauscherlounge.“ An den Titel kann sie sich nicht erinnern – und mir sagt das auch gar nichts. Erstaunlich genug! Simone hat gleich einen Termin und zieht erst ihre Jacke an und dann weiter, und ich setze mich zu Marcel und Oskar.

„Wir haben schon mal zusammen gearbeitet“, erinnert sich Marcel. Er war Mitarbeiter im leider schon wieder geschlossenen Tegtmeyer in der Kreuzstraße und hatte Dienst beim wundervollen Festival von Blinky Blinky Computerband sowie diverse Male beim „Kindertanztee“, wie er unseren „Tanztee im Tegtmeyer“ mit Rille Elf nennt. Zu Recht, wenn es auch so nicht beabsichtigt war: Die Intention war, den Älteren, die sagten, sie würden nicht mehr so gern in der Samstagnacht unterwegs sein, eine Sonntagnachmittagalternative anzubieten.

Nun komme ich doch noch auf Marcels erste Frage zurück und entscheide mich für die Nummer Eins, den „Superpapagei“, weil in der Folge – inklusive der niedlichen Fehler – beinahe alles perfekt ist. Wie großartig der Kunstdieb Victor Hugenay ist! Den mag Marcel auch, zum Beispiel in der Episode, in der jener mit übersinnlichem Spuk das Bild „Die grüne Eisenfrau“ stehlen will. Das muss „Poltergeist“ sein – die gehört zwar zu meinen Lieblingsfolgen, aber weil ich sie früher so oft gehört habe, unterließ ich dies in den vergangenen Jahren und erinnere mich nun nicht mehr so genau an sie. Wie mit Lieblingsplatten, die man sich überhört. Marcel nickt: „So habe ich Life Of Agony wiederentdeckt.“ Stimmt, deren „River Runs Red“ läuft auch heute noch gut. „Ich habe sie letztes Jahr live gesehen in Hamburg“, erzählt Marcel. Erst da erfuhr er von der Geschlechtsumwandlung des Sängers Keith Caputo, der jetzt Mina heißt. Und schwärmt von dem Auftritt, bei dem er deutlich wahrnahm: „Caputo fühlt sich endlich wohl.“

Oskar, der älter wirkt als die gut sechs Monate, die er erst auf dieser Welt weilt, fordert Marcels Aufmerksamkeit ein. Marcel hat eine ansteckend positive und energievolle Ausstrahlung. „Der Kleine ist das Beste, was mir passieren konnte“, sagt er. Und stellt fest: „Mit sich selbst ist man nie so umsichtig wie mit seinem eigenen Kind.“ Das jetzt aber nach Hause muss.

An der Theke lehnt Lukas und hält eine Orangen-Fritz-Limonade in der Hand. Den früheren Riptide-Mitarbeiter habe ich lang nicht gesehen: „Ich war das ganze Jahr 2018 nicht in Braunschweig“, bemerkt er. Nanu, zuletzt erlebte ich ihn doch noch als Barkeeper im Tante Puttchen nebenan? Das ist schon etwas her, Lukas wohnt jetzt in Kiel, der Familie wegen: Einen anderthalbjährigen Sohn hat er dort mit seiner Frau. Eine Freundin von mir zog es ebenfalls nach Kiel, und Andrea und ich feierten dort unser Silvester. „Ich auch“, sagt Lukas. Wir in Schilksee mit Blick auf Laboe, er auf der anderen Seite der Förde, kurz vor Laboe, „noch Kiel, eher dörflich, zehn Minuten zum Meer“. Kiel habe gegenüber Braunschweig eben den Vorteil, dass die Ostsee nahe ist. Nichts gegen die Oker, aber da pflichte ich ihm bereitwillig bei.

An dem Tisch, der einst CD-Fächer barg, gruppierte sich eine Touristengruppe, der André Speisen und Getränke kredenzte und vom Riptide berichtete. Nun bricht die Gruppe auf, Lukas zieht mit ihnen von dannen. Kurz darauf betritt Elke das Riptide – sie arbeitet bei dem Stadtführungs-Veranstalter, dem auch die Gruppe von eben angehört, und bespricht sich mit André. Da bin ich natürlich neugierig. „Das sind keine Touristen“, stellt Elke zunächst klar: „Zu 90 Prozent sind das Einheimische.“ Sie ist ebenfalls Stadtführerin und hat nun einen administrativen Job bei der Organisation Eat The World, die diese Führungen anbietet. „Das war ein Start-Up-Unternehmen von zwei Frauen aus Berlin, vor zehn Jahren gegründet“, berichtet sie. Das Vorhaben der Organisation sei es, „Gäste abseits von Touristenpfaden durch die Stadt oder einen Stadtteil zu führen und Skurriles und Einzigartiges zu zeigen“, so Elke. Über 100 Touren gebe es inzwischen in ganz Deutschland. „Die Gäste sind happy, wir sind happy“, resümiert Elke. Besonders die Einheimischen, die auf diesem Wege erfahren, was es Neues in ihrer Stadt gibt: „Die freuen sich, das sind dankbare Touren“, sagt Elke. „Dirk Schadt ist auch bei uns“, fügt sie an. Das passt: Schließlich sammelte der Lord schon unterhaltsame Stadtführererfahrungen als Okerflößer.

Elke kommt aus Hannover und ist in ihrer Funktion bei Eat The World unter anderem für Braunschweig zuständig. Einmal im Monat zahlt sie vor Ort ihre Partner aus, schließlich müssen die pro Lokal dargereichten Speisen auch finanziert sein. Auf einer Tour besuchen die Gruppen jeweils um die neun beteiligte Einrichtungen, in denen sie auf spezifische Weise verköstigt werden und im besten Falle ihre Stadt besser kennenlernen. „Nicht jeder kennt den Handelsweg“, führt Elke exemplarisch an. Jeder Gast bekommt eine Broschüre ausgehändigt, in der sämtliche angeschlossenen Lokale aufgelistet sind; nicht jedes kann auf jeder Tour berücksichtigt werden, aber da es in dem Heftchen aufgelistet ist, findet es trotzdem Augenmerk. Die Tour heißt „Magniviertel“, weil sie dort endet. Und da sich auch immer einmal etwas ändert, passt Eat The World die Broschüre regelmäßig an: „Zum Beispiel, das Café Drei ist weg“, sagt Elke. Was, das wusste ich noch gar nicht – zuletzt kam ich immer von der Breiten Straße aus in den Handelsweg und das Café Drei lag auf der anderen Seite. Der Handelsweg bleibt aber ganz sicher ein festes Ziel der Tour. Ins Riptide kommen die Gäste nämlich gern, sagt Elke: „Jeder, der hier war, ist total begeistert, die Älteren gucken Platten, die Jüngeren finden das Vegane gut.“ Und ihr gefällt, dass das Riptide inhabergeführt ist: „Wir wollen keine Ketten mehr.“

Neue Partner zu finden ist ein beständiges Ziel von Eat The World. Da kann ich Elke gleich mitnehmen, ich bin noch im Café MokkaBär verabredet, da kommen wir an der Bar Lissabon vorbei. Dort stelle ich ihr Ricardo vor. Elke ist begeistert von der Einrichtung: „Wer hat denn so einen guten Geschmack?“, fragt sie Ricardo. Das sind er und sein Partner Ioannis selbst, sagt er. Wir schlendern weiter zum Frankfurter Platz, wo ich Elke an Ollo weitervermittle. Im MokkaBär wartet schon eine behagliche Runde von Leuten am Kamin. Es gibt Apfelkuchen und Nussecken, natürlich Kaffee und auch Bier. Wer weiß, vielleicht stehen MokkaBär und Lissabon ja demnächst in einer Broschüre mit dem Café Riptide.

In der Arena auf dem Platz sitzt nur ein schwacher Gegner. Ich bin stärker: Das Smartphone bleibt aus.

Matthias Bosenick
www.krautnick.de
Fakebook

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