#137 Berge auf dem Mond

Dienstag, 26. Februar 2019

An einem solchen sonnigen Februartag fällt einem die Todesanzeige auf der Riptide-Theke noch unangenehmer ins Auge, als es ihre grundsätzliche Botschaft schon ist. Traurig genug, dass der für die Abgänge von Persönlichkeiten, denen Chris und André wohlgesonnen sind, vorgesehene Rahmen eine solch hohe Frequentierung überhaupt nötig hat. Jetzt steht dort der Name eines Lokalhelden, im doppelten Sinne: Norbert „Bolle“ Bolz war der Inhaber der Bassgeige einige Meter weiter, am Eulenspiegelbrunnen, der Jazzkneipe in Braunschweig, Muckertreffpunkt seit Jahrzehnten, der von seiner Krankheit wusste und ihr mit festem Blick begegnete. Unbeirrt zog er den Zapfhahn dem Krankenbett vor, oder gar einem womöglich lebenslang unterdrückten Selbstverwirklichungsdrang, kurz vor Schluss noch etwas Besonderes erleben zu müssen, was den Gedanken nahelegt, dass Bolles Leben für ihn selbst bis zum Schluss bereits etwas Besonderes war. Da kann man nur anerkennend bis neidvoll nicken und davon ausgehen: Alles richtig gemacht, Bolle!

„Ich hab schon überlegt, es auszutauschen“, sagt Chris aber nun und nickt gen Bolle. Ich weiß, was er meint: In der Flipboard-App hab ich heute Morgen gelesen, dass Mark Hollis starb, mit nur 64 Jahren. „Eine Legende“, sagt Chris, und so zurückgezogen, wie Hollis seine vergangenen 21 Jahre lebte, trifft es das Wort sehr gut. Nach dem Aus von Talk Talk 1991 veröffentlichte er 1998 eine Soloplatte, auf der man das Zurückgezogene der Person schon heraushört. Wie eine akustische Umsetzung des Verschwindens, der Verlorengehens, des Loslösens. „Mountains On The Moon“ hätte es heißen sollen, trug dann aber lediglich den Namen des Sängers als Titel. Im selben Jahr spielte er auf dem obskuren Album „A V 1“ des Duos Allinson/Brown unter dem Alias John Cope das Piano. Und das war’s. In sehr seltenen Interviews ließ er verlauten, dass er Familienleben und Musikerkarriere nicht vereinbaren könne. In ebenso seltenen Berichten über Talk Talk stand zu erfahren, dass sich die Band während der aufreibenden Aufnahmen zu ihrem letzten Studioalbum „Laughing Stock“, einem der besten Alben der Erde mithin, zerrüttet habe. Trotzdem hatte man immer den latenten Hoffnungskrümel, dass sich die Jungs nochmal irgendwann zusammenfänden, um erwachsen und entspannt noch einmal die Popmusik auf den Kopf zu stellen. Aber wozu, haben sie ja schon; so, wie sie vom Chartserfolg zum Avantgardeexperiment wechselten, vollführten das außer ihnen höchstens noch Radiohead. Umgekehrt ist es häufiger der Fall.

Dabei veröffentlichte Paul Webb alias Rustin Man gerade erst sein erstes Soloalbum mit eigenem Gesang, nach dem fantastischen „Out Of Season“ mit Beth Gibbons von Portishead, das er 2002 aufnahm. Wenn schon einer wieder aktiv ist, dachte ich, vielleicht stachelt er den Rest auch nochmal an. Wie seinerzeit seinen Bandkollegen Lee Harris zum Projekt .O.Rang. Doch sowohl der als auch Simon Brenner verschwanden weitgehend; letzterer reüssierte vor zwei Jahren lediglich unbemerkt als Angel River. Und nun verschwindet Mark Hollis ganz. „Viele Leute dachten, dass noch etwas passiert“, sagt Chris. Eben, es gab genügen Beispiele für unüberbrückbare Differenzen zwischen Musikern, die sich dann doch noch mal zusammenrauften. Das geht jetzt nur noch ohne Hollis. Dann erinnern wir uns eben an die Sequenz in dem Film „Ein Freund von mir“, als Jürgen Vogel und Daniel Brühl nachts in Porsches über die Autobahnen cruisen und zu den irrsten Kamerafahrten das sowieso schon grandiose „After The Flood“ von Talk Talk läuft. Gänsehaut.

Während Chris Heißgetränke in Tassen fließen lässt, ramentern André und Marco in der Küche herum. „Donnerstag haben wir ein tolles Konzert“, lässt mich Chris über seine Schulter hinweg gegen das Kaffeeautomatenzischen an wissen. Bassm spielen, was sich zunächst als ein merkwürdiger Bandname ausnimmt, aber in ausgeschrieben „Blues And Sweet Soul Music“ bedeutet und damit den Stil recht umfassend umreißt. „Sie covern Klassiker, Otis Redding“, beginnt Chris eine Aufzählung, die er mit der Information unterbricht, dass sie mit einem Blasinstrument, einem Klavier und einer Gitarre aufschlagen und dass die Sängerin eine schöne Stimme hat. „Der Eintritt ist natürlich frei“, sagt Chris noch und bringt dann die Kaffees an den entsprechenden Tisch.

Das Riptide bringt sich in die Plastikmülldisskussion ein und verkündet, keine Kunststoffstrohhalme mehr auszugeben. Zumindest ist dies an einem Pappbecher zu lesen, der auf der Theke neben der Vitrine mit den Muffins aufgestellt ist. In diesem Becher bietet das Riptide eine Alternative an: Die Strohhalme sehen zumindest so aus, als wären sie ebenfalls aus Pappe. Strohhalme brauche ich nicht, auch nicht für meine Fritz-Kola, die ich bei Chris bestelle. „Auf die Faust?“, fragt er, als er den Kronkorken entfernt. Ohne Glas, denke ich, und bestätige. „Dann mach mal ‘ne Faust“, sagt Chris, und als ich ihm dann meine Ghettofaust als angenommene Flaschenablage über die Theke reiche, deutet er stattdessen grinsend an, die Flüssigkeit darüber auszugießen. „Das wollte ich schon immer mal machen“, lacht er und drückt mir die Flasche unverschütteten Inhalts in die Hand. „Vielleicht an meinem letzten Tag.“ Von dem soll ja noch lang keine Rede sein! Mich erinnert das an den Auftritt von R.I.P.Uli bei Viva, als einer der vermeintlich finnischen Rapper einem Studiogast vor den Augen des verschreckten TV-Teams eine Dose Bier über dem Kopf ausgoss. In seiner eigenen Sendung verriet Initiator Hape Kerkeling später, dass dieser Zuschauer eingeweiht war. Zum Thema Bierdose auf Kopf fällt Chris einer seiner ersten Konzertgänge ein. Mit rund 14 Jahren sah er die Dimple Minds, die von der Bühne aus Bierdosen ins Publikum warfen und von denen Chris eine an den Kopf bekam: „Geil!“ So geht Punkrock. Das war zum Debütalbum der Dimple Minds, „Blau auf‘m Bau“.

Und noch eine veranstalterische Spezialität verrät Chris: Den Flohmarkt am 7. April, an dem sich der gesamte Handelsweg beteiligt, als Auftakt zum nahenden Sommer. „Wir hatten letztes Mal einen Flohmarkt drinnen“, erzählt Chris, „das war total cool, und das wollen wir dieses Mal mit den Nachbarn zusammen probieren.“ Später, auf dem Weg ins Herman’s, radelt mir Aline über den Weg, die da als Organisatorin die Fäden in der Hand hat und mir gleich mal den Flyer dazu per Whatsapp schickt. Da steht noch eine der Bands drauf, die zusammen den ganzen Tag in der Passage jammen, nämlich You Silence I Bird. „Frühlingsgestöber“ heißt die Aktion, die von 13 bis 18 Uhr parallel als Alternative zum verkaufsoffenen Sonntag läuft. Und à propos Nachbarn: Was aus dem Café Drei wird, ist zwar noch nicht raus, aber vergeben ist es offenbar bereits.

„Was bedeutet der Punkt hier auf der Platte?“, fragt Siggi, als er seine Auswahl vor Chris auf den Tresen legt. „Dass du die nicht mit der Karte bezahlen kannst“, antwortet der, denn es handelt sich um Gebrauchte aus anderer Hand. Kein Problem für Siggi. Oben drauf liegt eine Maxi-Single von den Gibson Brothers, „die haben ein, zwei gute Hits gelandet, aber den hier kannte ich nicht“, sagt Siggi. „Mariana“ heißt das Discostück und ich kenne nicht mal die Gibson Brothers, fürchte ich. Die nächste Auswahl kommentiert Siggi mit „Sex sells“: „Erotica“, klingt schwül, ist aber von Beethoven, dirigiert von Herbert von Karajan. Sheila E und Randy Crawford immerhin, seine letzten Objekte, kenne ich – namentlich. Siggi packt seine Errungenschaften zusammen und geht, Chris hat nun eine Besprechung und räumt den Platz an der Theke.

Den nimmt André ein, ich frage ihn nach der „Hear ‘em All“-Show am Freitag, die im Namen von Sound On Screen im Universum-Kino stattfindet. „Wir präsentieren das“, sagt André. „Es war sogar angedacht, das hier zu machen, aber so ist es sinniger.“ Bei „das“ handelt es sich um eine Lesung aus dem titelgebenden Buch, das Frank Schäfer kuratierte und das Texte aus unterchiedlichster Feder zu Heavy-Metal-Platten bündelt. Einige der Autoren sind zur Lesung auch zugegen, darunter Franks „Read ‘em All“-Kollegen Axel Klingenberg und Till Burgwächter sowie Toddn und „Lemmy und die Schmöker“-Gefährte Gerald Fricke. Und Schepper, der an dem Abend den Bass spielt, bevor der Film „Heavy Trip“ die Lesung beendet. „Wir mögen und lieben alle Autoren“, betont André.

Mit Schepper hatte ich am Samstag erst eine kleine Veranstaltung gegenüber, im Einraum, auf dessen Einladung hin, den leeren Raum zwischen zwei Ausstellungen zu bespielen. Ich und Bühne! Aber mit Schepper an der Seite tat es nicht so sehr weh. Er spielte Hits und Neues aus seinem elektrifizierten psychedelischen Bassrepertoire und ich bediente mich aus meinem bei Toddns Buchbauer-Verlag erschienenen Riptide-Buch „Die Stadt ist eine Erbse“ bei ausgewählten Geschichten rund um die Galerie. Schepper und das sympathische Publikum sowie Andreas virtuell gehaltene Hand nahmen mir die Angst und im wechselseitigen Einsatzpingpong verbrachten wir fast zwei Stunden zusammen auf der kleinen Bühne. Zum Schluss las ich noch etwas Prosaisches, nämlich erstmals öffentlich den Text „Verschwinden“, den ich vor einiger Zeit für das gemeinsame Stück mit Olafs Blinky Blinky Computerband schrieb. Auf dessen Bandcampseite kann man sich das übrigens anhören, er legte Atmosphären und Sounds unter die Geschichte. So kann ich nach Abflauen des Lampenfiebers doch feststellen: Es war schön!

Und lustig, was alles drumherum so passierte. Ein Fundus der Geschichten. Mit dem Schlüssel für den Raum, der zwar vorlag, aber weggeschlossen war, und jener Schlüssel fehlte. Mit den kunstlosen weißen Wänden, die Jörg daran erinnerten, dass er als Kind immer dachte, das von den Beatles sei das „Nikotingelbe Album“, weil seine Eltern so starke Raucher waren. Mit der Geschichte davon, woher Frust seinen Namen hat: Zwei Mitschüler deuteten einmal von der hintersten Reihe aus auf ihn und riefen „Frust! Frust!“, so war das fortan festgelegt. Als Frust später mal einen der beiden wiedertraf und ihn fragte, warum er ihn damals so genannt hatte, war dessen Antwort: „ …. Ich?!“

Während er seinen fälligen Aktivitäten nachgeht, kommt André kaum mit seinen Ankündigungen nach. Die Band Boxing Fox erwähnt er, die am 5. April ins Riptide kommt, und die europaweite „Songs & Whispers“-Reihe mit Akustikkonzerten, die am 15. März T.S. Steel ins Riptide spült, die „allseits beliebte Reihe“ Sound On Screen, deren 27. Staffel jetzt bekannt ist, mit „Studio 54 – The Documentary“ als Auftakt am 14. März mit DJ-Party im Anschluss sowie am 11. April die Hosen-Doku „Weil du nur einmal lebst“ mit Final Impact als Ergänzung und am 17. Mai „Asi mit Niwoh“ über Jürgen Zeltinger. Die mittlere Märzwoche wird hart, weil an dem Mittwoch auch noch die Quiznight stattfindet: „Alles geballt“, sagt André.

Und nun ergreife ich meine bestellte „Data Mirage Tangram“, die neue Doppel-LP der Young Gods, die ich am Samstag mitzunehmen vergaß, und trete den Weiterweg ins Herman’s an. Dort treffe ich unter anderem Schepper wieder, dessen einer Satz mir den Abend beschließt: „Pass auf, was du sagst, Moses, das steht hinterher alles in der Bibel!“

Matthias Bosenick
www.krautnick.de
Fakebook

2 Kommentare

  1. Wie immer: sehr schön geschrieben.

    Gibson Brothers „Que sera mi vida (if you should go)“ Charts-Platzierungen: 5, UK 1979, 4, DE 1980.

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