Donnerstag, 22. August
Es war Sedan-Bazar und ich war nicht da. Nun, wenn das einzige Patenkind eingeschult wird, gibt es sowas von ganz klare Prioritäten! Aber Chris ist ja jetzt im Riptide, zusammen mit André, und Chris berichtet mir von dem Handelswegfest am vergangenen Samstag. „Wir waren von beiden Seiten flankiert“, steckt er den Rahmen ab, in dem der Bazar stattfand: Gleichzeitig veranstalteten der Kufa-Verein sein „Live im Westen“ an der Skaterrampe sowie das Kultviertel ein Konzert auf dem Friedrich-Wilhelm-Platz. So ist es ja beinahe jedes Mal. Heißt letztlich: Viel Publikum unterwegs, weil es überall etwas Spannendes gibt. Chris fährt fort: „Das Wetter war schön, die Stimmung war toll, es war das erste Mal mit DJ, nicht nur Livemusik, es gab leckeres Essen, die Lissabon-Bar war dabei, wir haben das Fest ums Eck erweitert, es war sehr schön dekoriert, und die Einraumgalerie hatte einen Stand, da haben sie nur Gurkensachen verkauft.“ Das war zumindest der Eindruck, den die Galeristen erwecken wollten, erklärt André: „Weil’s eine Gurkentruppe war, gab’s die Deko, aber verkauft haben sie Wodka mit Melone.“ Und das mit der Gurkentruppe war tatsächlich deren Eigenslogan.
Während André in der Küche die Speisenbestellungen der Gäste zubereitet, die sich allesamt im sonnendurchfluteten Achteck verlustieren, bedient Chris die Gruppe der Eat-The-World-Teilnehmer, die Dirk ins Riptide führt. Für diese Organisation ist Dirk regelmäßig in Braunschweig unterwegs und führt die Teilnehmer zu entlegener, besonderer, alternativer Gastronomieorte. Das Riptide ist ein in diesem Rahmen gern gewähltes Ziel, und Chris kredenzt der Runde nicht nur Informationen über das Café, sondern auch jahreszeitengemäße mediterran orientierte Leckereien zum Probieren. Dirk ergänzt Chris‘ Informationen, indem er ein Exemplar des Buches „Die Stadt ist eine Erbse“ aus dem Regal fischt; da kann ich nur erröten.
Und nachhaken bei den vier Teilnehmern: Wie kommt es, dass sie an dieser sehr speziellen Stadtführung teilnehmen? „Der Wunsch ist entstanden, weil wir das vor ein paar Wochen in Lübeck gemacht haben, mit einem Arbeitsteam“, erklärt Olga für sich und Thomas, die beide aus Lübeck kommen und zurzeit für drei Tage Urlaub in Braunschweig machen. Die beiden Braunschweiger in dieser Runde, Heike und Ronny, fragen sich, wie man ausgerechnet hier Urlaub machen kann, wenn man aus Lübeck kommt; stimmt wohl, hier gibt es nicht mal Meer oder Berge. „Meer haben wir ja selbst“, winkt Thomas ab. Heike meint: „Für andere ist Braunschweig oft ein unsichtbarer Punkt.“ Wenn man gefragt werde, woher man komme, werfe die Antwort meistens nur noch mehr Fragen auf. „Zwischen Berlin und Hannover“, verortet es Ronny dann immer, und Dirk empfiehlt: „Zwischen Jägermeister und VW.“ Lübeck sei aber auch nicht bekannter, finden die beiden Lübecker, und sie unterstreichen ihren Eindruck, Braunschweig habe Schönes zu bieten. Das hat es wohl, was besonders beeindruckt, wenn man berücksichtigt, dass die Innenstadt im Zweiten Weltkrieg zu neunzig Prozent zerbombt war. „Lübeck auch“, nickt Olga, und auch in Punkto Zonenrandgebietslage teilen beide Städte das gleiche Schicksal, stellt sie fest.
Aber nun drängt Dirk zum Aufbruch, die nächste Station wartet: „Das Limonella im Magniviertel“, verrät er. „Das gehört Hasib, der wird aber Hasi genannt, ein irakischer Künstler.“ So kann man also auch als Nochnichtteilnehmer bei Eat The World neue Etablissements in seiner Stadt entdecken: Dirk treffen.
Der Stapel Schallplatten, die Micha Chris zwecks Erwerbs in die Hand drückt, ist bemerkenswert hoch: Imperial State Electric, Madball, Brant Bjork, The Black Keys, Rose Tattoo und Nebula. Nur erstere kenne ich nicht: „Ehemals Hellacopters“, weiß Chris natürlich, und Micha nickt. Er ist regelmäßig im Riptide, wie er sagt: „Einmal im Jahr kommen wir aus Wolfsburg her.“ Er schwärmt vom Riptide: „Das muss man unterstützen, ein kleiner Laden, der Platten verkauft, das finde ich wichtig.“ Stimmt, in Wolfsburg gibt es keinen mehr, dafür aber immerhin kompetente Leute bei Saturn und Müller, dessen Braunschweiger Filiale überdies zufällig genau heute eröffnet, was man an den vielen orangefarbenen Luftballons in der Stadt gut erkennt. Micha ist aber auch lediglich gebürtiger Wolfsburger, seinen Lebensmittelpunkt verlegte er an den Bernsteinsee und wundert sich, dass wir den kennen. Nun, seit 1993 in Wolfsburg berufstätig und in Wesendorf aufgewachsen, da ist mir sowas nicht fremd. Und Chris auch nicht, der in seiner Kindheit viel Zeit „in der Ecke“ verbrachte, in Weißenberge. „Da gibt es doch irgendwo so ein Fischrestaurant“, grübelt Micha, und das kenne ich zumindest vom Vorbeifahren, denn wenn ich früher mit dem Fahrrad nach Groß Oesingen düste, passierte es, dass ich Teichgut passierte. „Genau, Teichgut, da gehen wir manchmal essen“, sagt Micha. Und erzählt von einem Oldtimertreffen in Weißes Moor, an dem er teilnahm. „Da habe ich erst über das Riptide gesprochen“, sagt er und fragt, ob wir einen Musiker kennen, der früher bei Protector war, „der hat auch schon hier gespielt mit seiner neuen Band“, The New Broncos nämlich. Chris ist platt, diese bandhistorische Verbindung war ihm nicht bekannt. Seine Augen leuchten, als er Micha von Protector in den Achtzigern erzählt. Live sind die einst Wolfsburger, jetzt Schwedischen Thrasher inzwischen wieder unterwegs, kürzlich erst im Kulturzentrum Hallenbad. „Da haben auch Destruction gespielt“, erzählt Micha. „Das war wie ein Klassentreffen.“ So wird es bestimmt auch beim „Open Arsch (Closed)“ am 19. Oktober, wenn Paule das alte Festival aus Rümmer wiederbelebt, mit allen Helden von früher. Und so war es auch beim Abschlusskonzert der städtischen Ausstellung „Soundtrack WOB“, was Micha beides verpasste. Halle 54 waren Headliner, und Micha weiß: „Da waren auch Olly Wiebel und Cesare, mit denen bin ich aufgewachsen.“ Stimmt, Olly war mit Intercool und Cesare mit Steamgenerator dort. Kleine Welt wieder. Und kleine Szene in Wolfsburg: Wenn dann mal etwas in der Richtung stattfindet, sind auch so gut wie alle da. Doch alle Schwelgerei ist endlich, Micha muss nun los. „Meine Hunde warten.“
Und à propos Wolfsburger Bands: Kürzlich durfte ich einmal mehr Bandfotos von Cryptic Brood machen – das Ergebnis des ersten Mals war auch in der „Soundtrack WOB“-Ausstellung zu sehen, als Rückseite des Albums „Brain Eater“ –, einem Death-Metal-Trio, dessen Drummer Steffen unter dem Label Lycanthropic Chants entsprechende Musik veröffentlicht und im Jugendhaus Ost Konzerte veranstaltet. Die neuen Fotos nun sollten in Braunschweig entstehen, am liebsten stilecht mit Friedhofsbezug, was sich aber als nicht durchführbar herausstellte, insbesondere, da wir alle viel zu pietätvoll an die Sache herangingen, als dass wir einfach stumpf vor Gräbern posiert hätten, die womöglich anderen etwas bedeuteten. Alternativ schlug ich daher den Handelsweg vor, auf den sich Steffen, Micha und Butzke leicht einließen. Unser erstes Ziel war das Tante Puttchen, weil die Inneneinrichtung so oldschoolig zu unserem Vorhaben passte, aber da kamen wir kaum hin, weil jeder von uns beim Eintreten in den Handelsweg aus Richtung Martino-Katharineum andere Bekannte und Freunde traf, auch aus Wolfsburg. Nach diversen Begrüßungen betraten wir das schön schummrige Tante Puttchen. Stecky zeigte sich sofort einverstanden, seine neue Kneipe als Kulisse für die Bandfotos zur Verfügung zu stellen, und nach der Session bei ihm suchten wir weitere Hintergründe in der Nachbarschaft, darunter auch Stefans Comiculture. Als wir uns zuletzt im Riptide häuslich einrichteten, deutete Steffen durch das große Fenster und stellte fest: „Da kommt meine Freundin!“ Und Micha bemerkte ebenso verdutzt: „Ja – mit meiner Freundin!“
Bei aller Pietät begleitete uns die ganzen Stunden über eines: Wortspielereien rund ums Schänden. Am Ende der Fotosession hatte ich erhebliche Schmerzen im Zwerchfell und erkannte das hohe Schändungsbewusstsein der drei Musiker von Cryptic Brood. Leider sind die analog entstandenen Fotos bis heute nicht fertig entwickelt, weil die Labore dank der Digitalfotografie zahlenmäßig ausgedünnt und somit überlastet sind. Das frustriert schon einigermaßen, schließlich sollte das Cover schon vor drei Wochen in den Druck gehen. Wo meine Filme sich derzeit befinden, ist dabei nicht mal zu eruieren: Es gibt dort keine Schändungsverfolgung.
Mitten im Sommer ist das Ende der Sommerpause auch schon wieder Thema, denn die nächste Staffel der Musikfilmreihe Sound On Screen im Universum-Kino steht bereits fest, erzählt Chris: „Es ist eine bunte Tüte dabei.“ Der Auftakt findet erstmals an einem Sonntag statt, am 15. September nämlich, dem Tag der Deutschlandpremiere von „Wer 4 sind“, dem Film über die Fantastischen Vier: „Das war der persönliche Wunsch der Band“, sagt Chris, „ich vermute, das war der Gründungstag, da hat die Band jedenfalls drauf bestanden.“ Sicher ist, dass das Quartett mit dem Film sein dreißigjähriges Bestehen begeht. Im Anschluss gibt Johnny S im Riptide ein Konzert. Der nächste Film ist am 17. Oktober „Goa – You Are Everything“: „Über die Musikszene, Indien, wo Leute auswandern, den ganzen Tag lang Goa tanzen und Drogen nehmen“, sagt Chris und winkt grinsend ab. Natürlich käme die Betrachtung der Gegend und der Szene nicht ohne Klischees aus, sagt er: „Aber das ist eine spannende Kultur, weltweit, auch in Braunschweig, im Brain gibt es regelmäßig Goa-Partys.“ Der Film falle etwas aus der Reihe, weil er sich nicht um eine konkrete Band oder einen Musiker dreht: „Aber das ist ein ganz toller Film, der ist uns wichtig.“ Nicht minder der dritte, am 8. November ist „Inna De Yard – The Soul Of Jamaica“ zu sehen, „ein ganz toller Film über Jamaica, Reggae und die sechziger Jahre“, sagt Chris. „Es gibt so viele gute Filme darüber, eigentlich keinen schlechten.“ Dabei macht er einen Ausfallschritt in die Büroecke und lässt recherchierend vernehmen: „In der allerersten Staffel hatten wir ‚Rocksteady – The Roots Of Reggae‘“, ruft Chris herüber. Außerdem liefen der „The Doors“-Film und die Dokumentation über die skandinavische Black-Metal-Szene: „So hat Sound On Screen damals angefangen.“
Auch veröffentlicht ist mittlerweile das Jahresrestprogramm des neuen Veranstaltungszentrums WestAnd, das demnächst eröffnet werden soll, und André fragt: „Gehst du auch zu Clawfinger?“ Ja, da habe ich mir sofort für den 4. Oktober zwei Tickets gekauft, schließlich will ich den ersten mittelgroßen Veranstaltungsort in Braunschweig seit dem Ende von FBZ und Meier gebührend begrüßen. Außerdem ist Clawfinger die einzige Band aus dem mir bislang bekannten WestAnd-Programm, die ich auch in meinem Plattenschrank finde; da hoffe ich auf eine künftig größere Überschneidung. Den vorderen Teil der Halle bespielt der Kufa-Verein, und ich freue mich, dass wir in deren Räumen mit Rille Elf gebucht sind, eine Party auszurichten, Ende Oktober: Kaum ist das Gebäude da, dürfen wir dort unsere Laptops aufklappen Und wie es sich gerade wieder fügt, findet einen Tag nach dem Clawfinger-Gig die 25. Indie-Ü30-Party im Nexus statt; da hoffe ich, dass sich das sich überschneidende Publikum nicht zu sehr verausgabt und trotzdem noch ins Nexus kommt. „Wer hat den die ausgebuddelt?“, wundert sich Chris über Clawfinger. „Seit ‚Nigger‘ und ‚The Truth‘ hat man doch nichts mehr von denen gehört!“ Das war 1993, das letzte Album ist von 2007 – man darf gespannt sein, was die Skandinavier dieser Tage auf die Beine stellen wollen.
Die Leute von der Einraumgalerie gegenüber haben Bedürfnisse: Frust fragt, wann er mal wieder mit Spülgut die Riptide-Spülmaschine benutzen darf. „Frag einfach, wenn es so weit ist“, sagt Chris. Frust nickt. „Dann frage ich jetzt mal.“ Guter Moment: „Jetzt passt es sogar“, sagt Chris. Frust dankt und kehrt nach wenigen Momenten mit einem roten Korb voller leerer Gläser zurück: „Dann frage ich doch mal.“
B.D.I. verstehe ich miss, als Christian die LP von Beady Eye bezahlen will. „Das ist Oasis light“, erklärt mir Chris, es sei die Band von einem der beiden Gallagher-Brüder . „Der Kaputte“, ergänzt Christian, und Chris entgegnet: „Jeder sagt, der andere ist der Kaputte.“ Jener andere hat die Band High Flying Birds, und Chris berichtet, dass es kaum Leute gibt, die beide mögen, „der eine mag das, aber das andere nicht“. Wir überlegen noch, wofür „BDI“ stehen könnte: Chris denkt an Satellitenabwehrprogramme und ich an Thrash-Punk-Bands, also SDI und DRI. Wir Kinder der Achtziger.
Meine Karamell-Kaffee-Fritz-Kola ist leer, die Sonne lacht, ich mag noch ein bisschen draußen sein und nehme folglich meinen Hut. Weit komme ich so schnell nicht, Serge bedeutet mir, Platz zu nehmen, aber das ist ja auch das Schöne an Braunschweig allgemein und am Handelsweg besonders. So möge es doch bitte auch noch viele Sommer lang bleiben.
Matthias Bosenick
www.krautnick.de
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