Dienstag, 10. September 2019
Eigentlich bin ich ja mit Karsten Weyershausen verabredet, und wie es sich gehört natürlich im Riptide. Und wie es sich ebenfalls gehört, ist das Riptide an diesem Dienstagnachmittag proppevoll. Nicht allein das Café, sondern auch das vorgelagerte Achteck mit dem Sonnensegel in der Mitte des Handelsweges, und das aus gutem Grunde, schließlich erinnert uns die Sonne heute daran, dass ja trotz niedriger Temperaturen eigentlich noch Sommer ist, und fordert uns freundlichst zum Draußensitzen auf. Uns: Als ich durch den Handelsweg streife und mir einen freien Platz suchen will, entdecke ich diesen an einem mehrfach zusammengeschobenen Tischensemble mit allerlei Bekannten drumherum. Das fasse ich sehr gern als Einladung auf.
Links vor dem Fenster sitzen Schepper und Jörg, die auf Scheppers Tablet gucken und sich dabei psychedelische Rockmusik aus den Sechzigern anhören. Vanilla Fudge scheppert aus den schmalen Lautsprechern des Apparats, und vermutlich ist dies auch genau der Sound, den die Band damals im Ohr hatte, als sie ihre Version von „Bang Bang“ auf Tonträger orgelte. Schepper und Jörg spielen selbst in einer noch unbenannten Band, zusammen mit Christoph improvisieren sie zunächst noch ausufernd vor sich hin. Alle drei haben jahrzehntelange Banderfahrung, erst kürzlich erwarb ich die LP „The Return Of The Fevertree“ von Jörgs alter Band Liquid Zoo aus dem Jahr 2000, und deren Mucke fügt sich nahtlos an das an, was eben aus dem Digitaltablett tönt. Beim Onlinegebrauchttonträgerkauf hatte ich Glück: Nicht nur war das Poster Teil der auf 1000 Exemplare limitierten Platte, auch steckten haufenweise Pressemeldungen zum Album im Sleeve.
Die weiteren Sitzenden sind: einer der vielen Stefans aus der Einraumgalerie gegenüber, Niclas, der den Platz schon bald mit Frust von der Einraumgalerie tauscht, Stecky vom Tante Puttchen nebenan und einer der noch viel mehr Stefans, die nicht zur Einraumgalerie gehören. „Ich habe schon gehört, dass es hier viele Stefans gibt“, sagt der Nichtgalerist-Stefan, und Galerist-Frust, der eigentlich auch Stefan heißt, erklärt: „Bei uns heißen alle Stefan, außer Peter, der heißt Nadine.“
Auch für Karsten findet sich noch ein Platz an dieser Tischgruppe, und mit seiner Sitzposition zwingt der Cartoonist und Autor die Riptide-Chefs Chris und André zu Schlangenlinien, wenn sie mit vollen Tabletts zwischen den Gästen und dem Café pendeln. Karsten bringt mir sein neues Buch mit: „Ist Götterspeise Blasphemie?“, fragt es im Titel, und der Untertitel ergänzt fatalistisch: „Und andere völlig unnütze Gedanken zu Dingen, die sowieso nicht zu ändern sind“. Dazu fällt Nichtgalerist-Stefan eine passende Frage ein, die er kürzlich irgendwo zu lesen bekam: „Schuldet mir der Taxifahrer Geld, wenn er rückwärts fährt?“
Erst am Freitag traf ich Karsten zufällig im Kufa-Haus, bei dessen erster Veranstaltung überhaupt. Was viele Braunschweiger noch gar nicht erfassen: Es gibt jetzt wieder ein neues FBZ, und zwar in einem Neubau an der Stelle des früheren Fire-Abend, also links unter der Brücke hinter dem früheren Jolly Joker, jetzt Jolly-Time, durch und dann rechts, direkt neben Coney Eisland, direkt am Skaterpark. Der Kufa-Verein teilt sich das Gebäude mit der WestAnd-GmbH, die darin einen kommerziellen Veranstaltungssaal für 800 Zuschauer betreibt, während die Kufa im vorderen Gebäudeteil kommunal gefördert soziokulturelle Aufgaben übernimmt und neben einem Bistro auch einen Raum für Shows mit bis zu 300 Gästen vorhält. Das soll mal einer auseinanderhalten, aber gut, die Zeit wird es bringen.
Mit dieser Einrichtungskonstellation wird zumindest eine Lücke gestopft, die seit 2002 besteht, seit nämlich das FBZ teilabgerissen und in ein Luxushotel umgebaut wurde, und spätestens, seit vor einigen Jahren auch das Meier und das Jolly Joker schlossen: Bands von mittlerer Größe, also irgendwo zwischen Jugendzentrum und VW-Halle, finden endlich wieder einen Auftrittsort in Braunschweig. Das schlägt sich schon jetzt nieder: Im Musikexpress sah ich eine Werbung für die Tour von Heather Nova, und da tummelt sich wie selbstverständlich zwischen Hamburg, Leipzig, Berlin und Köln auch wieder, wie früher, Braunschweig, eben mit dem WestAnd. Sieht gut aus, das. Am 2. November spielt sie hier, übrigens.
Chaotisch für die Braunschweiger gestaltet sich auch die Terminlage der Eröffnungen: Vor lauter offiziellen Daten rund um Ende September nahm kaum jemand wahr, dass die Show schon am vergangenen Wochenende losging. Im WestAnd wummerten Drums und Basses und lockten vorrangig eher ein jüngeres Publikum an, und das halte ich für einen gelungenen Schachzug, als erstes die Leute auf sich aufmerksam zu machen, die tatsächlich noch jedes Wochenende unterwegs sind, im Gegensatz zu den meisten Leuten, die seit 17 Jahren betrauern, dass es kein FBZ mehr gibt. Als Ergänzung dazu fand parallel im Kufa-Haus eine Reggae-Party statt, mit dem grandiosen Konzept, damit die Wurzeln von Drum And Bass freizulegen. Das Publikum beider Veranstaltungen mischte sich, und genau so soll es ja auch sein.
Beim Bier im Bistro des Kufa-Hauses erzählte mir Karsten bereits, was es mit der „Edition Wortmax“ auf sich hat, in der sein neues Buch erscheint. Bei Wortmax handelt es sich um einen Blog, den Autoren und Schriftsteller aus dem Bundesgebiet mit Literaturtipps füllen. Ursprung davon waren eine deutschsprachige Webseite für T.C. Boyle und ein Blog für Douglas Adams. Via Book On Demand nutzt Karsten die Edition Wortmax nun als erster aus diesem Kreise, um seine Texte in den Handel zu bringen. Aus Braunschweig und Umgebung sind außer Karsten noch bei Wortmax: Hardy Crueger, der beim Verlag Andreas Reiffer dieser Tage sein gemeinsames Buch „Braunschweig’sche Weihnacht“ mit Till Burgwächter herausbringt, Axel Klingenberg, der in Toddns Buchbauer-Verlag jüngst „Leben nach Mitternacht“ veröffentlichte, und Holger Reichard, mit dem Karsten die Bücher „Kerle im Klimakterium“ und „Stadt. Land. Flucht“ verfasste. Nun also „Ist Götterspeise Blasphemie?“, mit einem herrlich grünen Cover, das auch den anderen am Tisch gefällt.
Für Karsten ist nun aber der Zeitpunkt zum Aufbruch gekommen, für mich auch. Er zahlt an der Theke seinen Kaffee, ich meine Fritz-Karamell-Kola sowie die beiden bestellten Schallplatten, die eingetroffen sind: „South Of Reality“ als pinkes Doppel-Vinyl von The Claypool Lennon Delirium, Scheppers Lieblingsplatte des Jahres, und „Party In The Chaos“ in schwarzrotem Vinyl, eine 12“, die Jaz Coleman von Killing Joke mit dem italienischen Industrial-Duo Deflore aufnahm.
Dabei berichtet mir Chris von der Geburtstagsfeier des Universum-Kinos, das es als Filmfest-Einrichtung nun auch schon seit zehn Jahren gibt. Zu der Gala am vergangenen Wochenende war er eingeladen, weil das Riptide mit dem Kino die Musikfilmreihe Sound On Screen betreibt. Bei den vielen Ansprachen erfuhr Chris, dass das Universum als das erfolgreichste Doku-Kino in Deutschland gilt und dass eben Sound On Screen darin die erfolgreichste Reihe darstellt. „Wir wurden als einzige namentlich erwähnt“, freut sich Chris. Der nächste Film in dieser Reihe ist am 15. September zu sehen: „Wer 4 sind“ über die Fantastischen Vier, mit Jonny S als Aftershow-Show live im Riptide.
Chris nimmt das volle Tablett auf und hat es nun einfacher, die Gäste draußen zu erreichen. Er deutet im Weggehen auf die drei Farbfelder, die in Orange, Rosa und Grün die Riptide-Farben über der Theke aufnehmen, und drückt seine gute Laune motivierend mit „sieh auf das Regenbogenpony“ aus. In der Küche sind André und Iris beschäftigt: Sie ist seit Anfang September neu im Team, die Chefs arbeiten sie ein, und wenn sie draußen unter den Gästen umherstreift und Wünsche aufnimmt, merkt man ihr das Neusein gar nicht an.
Neben der Theke steht nach wie vor die Kiste mit den Jutebeuteln mit den zweifarbigen Aufdrucken, die mir nie so bewusst auffielen, bis ich darunter ein mir sehr vertrautes Motiv entdeckte: ein Katzenkopf im Golddruck auf Schwarz mit konzentrischen Kreisen im Hintergrund. Einen solchen Beutel bekam Andrea einst von ihrem Sohn geschenkt, der ihn auf dem tschechischen Fluff-Fest, einem Hardcore-Festival, entdeckte und dabei feststellte, dass diejenigen, die den Beutel angefertigt hatten, aus seiner Wahlheimat Leipzig stammten. Diesen Beutel nehmen wir mit Vorliebe mit, wenn wir uns beim Kaufmann oder auf dem Wochenmarkt mit Lebensmitteln eindecken, daher ist er mir immens vertraut, und umso merkwürdiger fühlte es sich an, diese vermeintliche Einzigartigkeit nun ausgerechnet in meinem zweiten Zuhause wiederzufinden, im Riptide nämlich. Chris klärte mich auf: Gestalter dieser Beutelserie waren zwei Brüder, die er schon seit Jahren aus der Hardcoreszene kennt und die in Leipzig unter dem Namen Floss Bros eigentlich einen Button-Laden betreiben. Was für ein paneuropäisches Pingpong!
Die Platten und Karstens Buch stecke ich aber in einen anderen Jutebeutel. Die ganze Runde bricht allmählich auseinander, der Nichtgalerist-Stefan muss seine Tochter bei ComiCulture abholen, dem Laden zwei Türen weiter, dessen Inhaber ebenfalls Stefan heißt, wo sie zurzeit Pokémon zockt. Sieh an, ich entsperre mein Mobiltelefon, auf dessen Display sofort Pokémon Go erscheint, und Stefan lacht, weil es sich auf seinem Apparat ebenso verhält. Seine Tochter spielt zwar das Kartenspiel, aber die Go-Variante übernahm er von ihr. Natürlich senden wir uns sofort Freundschaftsanfragen und Geschenke zu. Sein Profilname trägt die Nummer 42 als Appendix: natürlich mit dem Bezug zu Douglas Adams. „Die 42 taucht bei uns überall auf“, sagt Stefan. Dafür habe ich volles Verständnis. Nun muss ich aber los, meine nächste Verabredung wartet im Hermans, und ich bin schon viel zu spät. Bestimmt 42 Minuten.
Matthias Bosenick
www.krautnick.de
Fakebook