#152 Licht und Liebe im Altewiek

Mittwoch, 27. Mai 2020

Es ist hell. Viel heller als das Café am alten Standort im Handelsweg. Das fällt tatsächlich erst heute so richtig auf, weil heute der erste Tag ist, an dem auch Riptide-Chef Chris seine neuen Räume mit nichtabgeklebten Fenstern zu sehen bekommt, nach all den Monaten, die er hier bereits mit zahllosen Helfern verbrachte, um trotz der Beschränkungen wegen des Covid-19-Virus‘ sein Vorhaben in die Tat umzusetzen, den allseits geliebten Hybriden aus Café, Plattenladen und Veranstaltungsort wegen des nicht verlängerten Mietvertrags im Handelsweg an diesem neuen Standort im Magniviertel an den Start zu bringen. So viel Arbeit, Kampf, Aufwand, Turbulenzen, Verzögerungen, Unabsehbarkeiten, aber auch Hilfe, Unterstützung, Beistand, Zuspruch, Tatkraft und vor allem Liebe begegneten Chris in dieser Zeit, und in dieser Sekunde fällt alles in einem Punkt zusammen, kumuliert sich in einer Mischung aus Euphorie und Erschöpfung: Chris öffnet die Tür und lässt den ersten geladenen Gast ins neue Café Riptide am Ölschlägern.

Die tatsächliche Eröffnung findet eigentlich erst morgen statt, doch heute bedankt sich Chris mit einem Pre-Opening bei allen, die ihm in den zurückliegenden Wochen zur Seite standen. Seine letzte Tat, bevor er seine Freunde in Empfang nimmt, ist, die Kleberückstände vom kommunalen Baustellenschild an der Scheibe links neben dem Eingang abzuwischen. „There’s A Crack In Everything“, steht auf der Scheibe unter seinem Putztuch, und weil damit nicht das Glas gemeint ist, setzt sich das Zitat auf der Scheibe rechts vom Eingang fort: „That’s How The Light Gets In.“ Chris erklärt: „Das ist von meinem Lieblingssänger.“ Er hält kurz mit dem Wischen inne: „Ich habe zwei Lieblingssänger, einer lebt, einer ist tot, und das Zitat ist von dem Toten.“ Von Leonard Cohen nämlich, aus dessen Lied „Anthem“ aus dem Jahr 1992. Locker übersetzt bedeutet es für ihn: „Jedem Ende wohnt ein Anfang inne“, das Ende im Handelsweg begünstigt den Anfang im Ölschlägern. Und außerdem klingt dieses Zitat weit hoffnungsvoller als das von Neil Young im alten Riptide, wenngleich das mehr Rock’n’Roll ist: „It’s Better To Burn Out Than To Fade Away“. Am Ölschlägern nun geschieht weder-noch, hier findet eine dritte Option statt: Neubeginn.

Oder Fortführung: „Wahnsinn, richtig cool“, schwärmt Sören mit einem Glas Sekt in der Hand. „Ich hab vorher mal durch die Scheibe geguckt“, erzählt er und befindet mit Blick auf die ihm vertrauten Elemente: „Mitgebracht, den Laden hier, echt cool!“ In der Tat fühlt es sich vielerorts im neuen Riptide an wie im alten. Unzählige Details fanden den Weg ins Magniviertel, etwa die „3“-Kerze an der Theke, die nun auch bald zehn Jahre alt wird. Diese Theke wiederum ist ein Novum, das sich erheblich unterscheidet: Der einstige mit Glaswänden abgetrennte und nach oben offene und damit nutzlose Lichthof des früheren Outdoor-Ladens ist verschwunden, damit mehr nutzbare Fläche entstanden, das Loch im Dach mit Fensterluken transparent gehalten und die von einem Spot angestrahlte Discokugel direkt über den Köpfen des Thekenteams angebracht.

Ist das schön, die vertrauten Gesichter wiederzusehen, zumindest zur Hälfte, denn Rosa, Melissa, Imke und Max sind maskiert, so wie auch wir Gäste es sein sollen, zumindest beim Betreten und Verlassen des Sitzplatzes, an dem wir für den Genuss von Speisen und Getränken selbstredend auf den Mund-Nasen-Schutz verzichten dürfen. Auf einem Blatt an einem Klemmbrett verewigen wir Gäste uns namentlich, mit Chris‘ Hinweis, dass er diese Listen nach 14 Tagen ohne Coronafall vernichten wird, und desinfizieren unsere Hände an einem daneben aufgestellten Mittelspender.

Daneben, das ist schon der nächste bemerkenswerte Platz im neuen Riptide: Zum Ölschlägern hin besteht es aus einer Fensterfront, an der ein breiter Sims angebracht ist, auf dem Gäste Getränke und Speisen abstellen und einnehmen können. Blumentöpfe und „Abstand“-Schilder verzieren diese Reihe, in recycelten Bierflaschen installierte spulenförmige Lampen strahlen ein atmosphärisches warmes Licht ab, das indes an diesem sonnigen Tag noch lediglich dekorativ wirkt. Das erinnert mich an einen Pubbesuch in Dublin 1998, als ich mit Guido eine Rundreise um Irland machte. An einem Tag strömte der klassische Regen auf uns herab, und weil uns deshalb nicht so sehr nach touristischen Erkundungen war, begaben wir uns im gleichsam touristischen Viertel Temple Bar in eine Kneipe und setzten uns mit frisch gezapftem Guinness an eben so eine Fensterbank. Wir hatten es warm und gemütlich, während wir den Blickkontakt zu verregneten und neidischen Passanten aufnahmen und kryptische Postkarten verfassten. Es floss einiges an Guinness, weil an dem Tisch hinter uns die Leute damit begannen, Instrumente auszupacken und wie zufällig miteinander zu musizieren, und viele später eintretende Gäste schlossen sich dem an, inklusive einem, der zu einem der Lieder aus der anderen Ecke des Pubs zu singen begann. Auch hier im Riptide nimmt man durch die Fenster automatisch den Blickkontakt zu den Magniviertelflaneuren auf, und die werfen interessierte und neugierige Blicke zurück.

Gegenüber dieser Fensterreihe findet im Riptide ebenfalls Musik statt, jedoch nicht live, denn dort sind die Plattenkisten eingerichtet. Neuveröffentlichungen der zurückliegenden zwei Monate sind noch nicht darunter, da bislang nicht klar war, wann das Riptide wieder öffnen würde und wo Chris die Platten bis dahin lagern könnte. Zudem hätte er dann Investitionen ohne die Aussicht auf einen Verkauf getätigt. So ganz ohne Neues geht es aber auch für Chris nicht, schließlich entdecke ich etwa „Alles in Allem“ unter den Neuerscheinungen, das pressfrische Album der Einstürzenden Neubauten. Es geht also weiter!

Mehr und mehr Gäste trudeln ein, einer bringt Brot und Salz mit, und allen bietet Rosa Getränke an, wahlweise weißen Sekt oder die rote Edelgard: „Das ist ein neues Getränk“, erklärt sie, „Sekt mit Erdbeeren und Waldbeeren.“ Und leider lecker. „Marc, von wem bist du noch der Tischler?“, nimmt Chris beim Begrüßen des nächsten Gastes einen Running Gag auf. Die Umstehenden wissen, dass Marc einst einem Verwandten in Florida für ein halbes Jahr als Tischler aushalf, der während dieses Zeitraums einen Auftrag bei einem bekannten Musiker bekam, nämlich bei Lenny Kravitz. „Er wurde extra eingeflogen“, fehlinformiert uns Chris. Marc grinst abwinkend: „Er bauscht es immer so auf!“

Zu diesen anderen gehören inzwischen auch Sarah und Sascha, die mit Marc und Chris als Haupthelfende quasi eine Hausgemeinschaft im neuen Riptide bildeten. „Wir sind zu 99,9 Prozent fertig“, informiert Chris. Und erzählt, dass gestern sein Facebook- und Instagram-Account stillgelegt wurden: „Ich habe gerade geschrieben: ‚Morgen Eröffnung‘ – gehackt!“ Wegen der Formalien, die er beim Reaktivieren zu erfüllen hat, kann es daher dauern, bis der offizielle Riptide-Kanal wieder online ist. Ausgesprochen ungünstiger Zeitpunkt.

Wie schon beim alten Riptide, nähte Frau Schneider auch für das neue wieder Vorhänge, und zwar die dunkelgrünen unterhalb der Plattenregale. „Da sind kleine Krokodile drin“, verrät sie. Chris habe sich darüber gefreut, als sie ihm die zeigte: „Dabei habe ich eigentlich nur die Nähmaschine ausprobiert.“ Man muss wissen, wo sich die vier Reptilien verstecken, sonst sieht man sie nicht, weil sie wirklich winzig sind. „Dafür muss man nur geradeaus nähen, die Maschine macht die Muster automatisch“, erklärt Frau Schneider. Das Gerät vollführt nämlich beim Aufbringen der Naht einige Zickzackbewegungen, aus denen dann die Silhouetten von Krokodilen entstehen. Frau Schneider blickt sich im Café um: „Es ist super geworden, gefällt mir gut“, sagt sie. „Irgendwie fühlt es sich größer an“, überlegt sie, und weiß: „Es ist natürlich auch größer.“

Denn das neue Riptide erstreckt sich auf insgesamt drei Etagen, von denen zwei für die Gäste offen stehen und die dritte Büro und Personalräume beherbergt. Das ist die wohl größte Überraschung am neuen Standort, dass im hinteren Winkel eine Treppe nach oben führt. Dort hängt nun auch der Kronleuchter aus dem alten Riptide, der einzige Ort mit ausreichend Deckenhöhe für dieses Schmuckstück. Oben blickt man durch eines der Fenster auf das Glasdach über der Theke und in der anderen Richtung durch doppelte Butzenscheiben auf den Ölschlägern. Das alte Riptide-Sofa steht dort, als Schlusspunkt langer Tischreihen, auf denen sich die alten von Chrisse Kunst gestalteten Lampen wiederfinden. Mit den Sitzecken und der Fensterreihe von unten hat sich die Zahl der Plätze offensichtlich erheblich erhöht, ohne dass es trotz geringer Deckenhöhe eng wirkt. Gemütlich, das auf jeden Fall, und warm einladend.

Deshalb sitzen Louisa, Denise und Benny am Tisch in der hintersten Ecke, gegenüber dem Sofa. „Ich find’s total schön“, strahlt Benny, und widerspricht unbeabsichtigt Sören: „Ganz anders als vorher, niedrige Decke, Fachwerk, der Magniviertel-Charme – ich bin begeistert!“ Louisa nickt: „Mehr Platz, aber trotzdem ultragemütlich.“ Benny blickt auf die Wandfarbe: „Das Rot ist cool.“ Dunkler als im Handelsweg, aber das Rot von dort aufgreifend; so verhält es sich auch mit dem Grün der Plattenkistenvorhänge. „Ich war schon mal hier, als es noch leer war und die Wände schon rot waren“, erzählt Louisa und staunt: „Es ist noch viel gemütlicher, als ich gedacht habe!“ Sie schwärmen von den Fenstern auf beiden Seiten des Geschosses und von der Atmosphäre, die sich dadurch hier oben ergibt. „Ich bin gespannt, wie es draußen ist“, sagt Louisa mit dem Wissen um die Sitzplätze auf dem Magnikirchplatz. „Die Lage ist cool“, bestätigt Denise, und Benny ergänzt: „Es gibt einen fließenden Übergang zu Barnaby’s Blues Bar – der Magnikirchplatz ist ein neuer Hotspot in Braunschweig!“ Das findet Denise ebenfalls: „Von der Lage ist es kein Downgrade.“ Benny bestätigt: „Es ist mindestens gleichwertig!“ Das Sofa aus dem alten Riptide hätten sie überdies beinahe nicht wiedererkannt: „Es kommt hier mehr zur Geltung“, findet Louisa, und Denise grübelt: „Damals sah’s größer aus.“ Benny grinst: „Es ist geschrumpft!“ Die drei stellen übrigens die Subway-Redaktion dar, erzählen sie. „Es gibt ein enges Verhältnis zu Chris“, sagt Benny, „er schreibt immer noch Plattenrezensionen für uns.“ Sie stoßen mit ihren Getränken an: „Auf das Riptide!“

Auf dem Weg zurück ins Erdgeschoss passiere ich einen Plüschbüffelkopf und das aus dem früheren Café bekannte Hirschgemälde. Neue und alte Hingucker bilden eine Einheit. An den Fensterreihen bildete sich unterdessen eine die erforderlichen Abstände einhaltende Gesprächsrunde, und Marc und Sarah baldowerten angesichts der berühmten sportlichen Aktivitäten auf dem Magnikirchplatz eine Aktion aus, die sie Chris unterbreiten: „Wir haben die Idee: das erste Riptide-Boule-Turnier!“, sagt Marc, und Sarah fügt an: „Es muss mir nur noch jemand beibringen.“ Der Vorschlag stößt bei Chris nicht nur auf offene Ohren, einen ähnlichen Gedanken hatte er auch schon.

Zu der Sitzrunde gehört Enno, der feststellt: „Ich muss mir noch eine Liste machen mit den Platten, die ich noch bestellen will, das konnte ich zwei, drei Monate nicht.“ Stimmt, ich hab hier noch zwei Alben abzuholen, die eintrafen, kurz bevor der Lockdown beschlossen wurde. Mir kommt Enno bekannt vor, und er mutmaßt, dass das von einem Online-Bild herrühren könnte, denn: „So habe ich Sascha kennen gelernt, er hat mich von einem Instagram-Foto erkannt“, erzählt er. „Ich hab unterm Dach was gemacht und Chris hat das gepostet.“ Neben uns kommt das Gespräch darauf, dass die neue Küche auch heute schon offen ist und dass erstmals im Riptide Pommes auf der Karte stehen. „Weil: gibt hier Fettabscheide“, weiß Enno, „aber nur für Pommes, nicht für Körperfett.“ Die Speisekartenneuerung ist ein Auslöser für Henning, sich bei Rosa einen Burger mit Pommes zu bestellen.

Sarah setzt sich zu Sascha an die Fensterreihe und stellt mit Blick auf den ihr gegenüber vor den Vinylalben sitzenden Marc fest: „Wir müssen die Platte noch kaufen.“ Sascha ist verwirrt: „Welche Platte?“ Sarah deutet auf den Tischler gegenüber: „Na, die Arbeitsplatte, die uns Marc empfohlen hat!“ Sascha lacht, denn der Blick in Richtung Marc hätte auch einer in Richtung der Schallplatten gewesen sein können.

Der Burger und die Pommes für Henning sind fertig, Rosa stellt ihm den rechteckigen Teller an seinen Platz am Fenster, neben Enno. Wie sind sie denn, die womöglich ersten Pommes, die im Riptide für Gäste zubereitet wurden? „Hm, ja, doch“, kaut Henning, „hmmm, lecker!“ Das erinnert Enno an einen Sketch von Loriot: „Der Mann isst.“ Die neuen Pommes sind also gut, sagt Henning, und stellt zudem erfreut fest: „Der Burger allerdings ist ganz vertraut!“ Diese Pommes nun sind nicht das einzig Neue auf der neuen Karte, und so manches Alte ist auch noch verfügbar, etwa Lemmys Frühstück, das aus Kaffee, Whisky und Zigarette besteht. „Ich muss Platten gucken“, sagt Enno nun und springt von seinem Platz auf. „Das habe ich seit Monaten nicht gemacht!“

Zwischen den turbulenten Gesprächen bietet Rosa immer wieder Getränke an, unter anderem den neuen Jägermeister Scharf. Mit überraschenden Folgen: „Marc hat grad nach dem ersten Jägermeister erzählt, dass er Lenny Kravitz‘ Emmy angefasst hat!“, kreischt Sarah. Henning lässt sich „ausnahmsweise“ auch auf ein Glas Jägermeister ein, ermahnt Rosa aber: „Wenn ich danach noch einen will: ähm, nicht.“ Sascha berichtet: „Heute bin ich richtig eskaliert: Bevor ich losgegangen bin, hab ich mein Handy zu Hause gelassen.“ Und Enno weiß: „Sogar der Fußboden ist aus Vinyl!“

Nicht weniger glücklich über den Neustart als die Gäste sind Rosa, Imke, Melissa und Max. Rosa bedauert nur, dass sie unter den Masken nicht erkennen kann, ob ihr Gegenüber lächelt, und strengt sich an, selbst so sehr zu lächeln, dass man sie auch über die Maske hinweg als freundlich auffasst. Max baut auf mehr Laufkundschaft als im Handelsweg und ist sich sicher, dass sich etwa Gäste von Barnabys Blues Bar bei den Pommes vom Riptide bedienen würden. Draußen auf dem Platz bestätigt ihm das Bernd, der Gast bei Barnabys ist: Er würde sich im Riptide Burger bestellen und die mit an die Tische der Blues Bar nehmen, denn „Peter hat nix dagegen“. Also die direkte Bestätigung von Max.

Und auch von Chris, der zu Peter längst freundlichen Kontakt aufgenommen hat, ebenso zu vielen anderen der neuen Nachbarn. „Die Blumendeko ist bei Nachbarn gekauft, bei Florentine“, bestätigt er und betont, dass ihm das wichtig sei, lokales Gewerbe zu unterstützen. Analog zum Handelsweg seien auch hier im Magniviertel dankenswerterweise keine Ketten vertreten, sondern „alles Überzeugungstäter“. Die Aussichten für einen gelungenen Neustart sind blendend, mehr Personal ist bereits eingestellt, das Interesse ist riesig, die Nachbarschaft offen, die Laufkundschaft zahlreich und die Sehnsucht nach Treffen mit Freunden im Café Riptide nicht nur wegen der Monate in der Kontaktsperre gigantisch. Und Chris ist sichtlich bewegt, dass alles so gekommen ist, wie es jetzt ist, mit Abschieden und Neustarts, mit Problemen und Lösungen, mit aller emotionaler Wucht, die damit einhergeht. Und: Ab morgen dürfen die ersten Gäste kommen, unter Einhaltung der Infektionsschutzregeln, und sich davon überzeugen, wie großartig das alte Café Riptide am neuen Standort ist.

Matthias Bosenick
www.krautnick.de
Fakebook

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