Donnerstag, 8. Oktober 2020
Die erste Veranstaltung im neuen Riptide steht an! Man würde sich nur dann noch mehr darüber freuen, wenn die allgemeine Hintergrundsituation angenehmer wäre. Aber dennoch: Hardy Crueger und Till Burgwächter läuten die Weihnachtszeit ein, indem sie am Donnerstag, 29. Oktober, ab 19 Uhr im Riptide aus ihrem gemeinsamen Buch „Braunschweig‘sche Weihnacht“ ausgewählte Geschichten vortragen. Das Buch gibt es zwar schon seit einem Jahr, Weihnachten aber schon länger und auch immer mal wieder, da wird das Buch also immer aktuell sein, und vergnüglich ist es ohnehin, noch mehr, wenn man die beiden Autoren dabei live erlebt. Erstaunlich gut passen die zwei unterschiedlichen Charaktere mit ihren ebenso unterschiedlichen Stilen jedenfalls zusammen. Und Weihnachten im Oktober, was soll‘s, das Süßzeug dazu gibt‘s eh schon was länger im Supermarkt. „Alternative X-Mas“ ist schon mal ein treffender Titel dazu.
Dabei war doch gerade erst Sommer, so etwas in der Art zumindest. Es kommt mir wie gestern vor, als ich mich mit meiner Mutter und ihrem Gatten auf dem Magnikirchplatz in der Sonne traf. Ausnahmsweise einmal um die Mittagszeit herum, an einem meiner seltenen Urlaubstage; üblicherweise arbeite ich zu solchen Uhrzeiten in der Woche, daher wusste ich nicht, dass es anderen auch so ergeht, wenn ich vor dem Riptide sitze, und zwar den Handwerkern, die im Auftrag des Eigentümers das hübsche Fachwerkhaus, in dem das Riptide untergebracht ist, noch hübscher machten. Das erfolgte mit einem zwischenzeitig die Genfer Konventionen missachtenden Lärm, den ein Arbeiter mit einer Kreissäge und sein Kollege mit einem Presslufthammer verursachten. Da das Riptide-Publikum allgemein wohlerzogen ist, nahm auch niemand zeternd daran Anstoß, wenngleich Gespräche an den Tischen vorübergehend alternierend verstummten oder in Lautstärke den Arbeitenden überlegen zu sein versuchten. Aber Arbeit ist Arbeit, das weiß man auch in seiner Freizeit. Dennoch, als die beiden aus der Einstürzende-Neubauten-Coverband einmal besonders nachhaltig dröhnten, erschallte im Anschluss der lautstarke Ruf „Ruhe! Ich hole die Polizei!“ – und zwar von einem Kollegen eines anderen Gewerkes zwei Gerüstebenen höher. Lauter war dann nur noch das Gelächter der Gäste an den Tischen.
Oder als ich kürzlich an einem lauen Abend in der Stadt unterwegs war und mich merkwürdig fühlte, weil es, wenn ich den Altstadtmarkt passiere, nicht mehr passiert, dass ich von dort aus ins Riptide einkehre, als mir Christian radfahrend entgegenkam und mich auf eine Veranstaltung in der Einraumgalerie gegenüber des alten Riptide hinwies. Die Zeiten sind schwer für die kleine Galerie, sagte er, nicht nur des Virus‘ wegen: „Es fehlt der Magnet.“ Doch Stecky mache aus Tante und Onkel Puttchen einen würdigen Nachfolger, dessen Anziehungskraft lediglich von ebenjenem weltbekannten Virus geschmälert würde. Kurz darauf gab es in der Galerie dann sogar wieder eine Lesung, aber unter ganz besonderen Bedingungen: Weil in dem winzigen Raum zusätzlich zum Autoren nur maximal zwei Gäste mit gleichzeitiger Anwesenheit die Infekstionsschutzbestimmungen einhalten können, hatten Interessierte draußen Schlange zu stehen und schickte Marcel, der Vortragende, die jeweiligen zwei Zuhörer nach einer Weile wieder vor die Tür, für die nächsten zwei, denen er sich dann temporär widmete. So machte er aus der Pandemie eine Performance, indem er die erforderlichen Einschränkungen ins Konzept einband, und generierte damit etwas Neues.
Das erzählte er mir vorhin auf dem Wochenmarkt im Östlichen, als ich für Schepper einkaufte, bei dem ich dann anschließend noch Arni traf. Eigentlich wollten wir zusammen ins Riptide schlendern, doch kam etwas dazwischen und ich spaziere nun allein durch den warmen Herbstregen. Trotz der schon fortgeschrittenen Stunde brennt bei der Busenfreundin gegenüber vom Riptide noch Licht, ich kehre ein, schließlich sind dies neue Nachbarn, die ich noch nicht kenne. Mein Anliegen trage ich Fatma und Mara vor, und sie lachen: „Wir haben da gerade Pommes gegessen“, erklärt Mara, und Fatma ergänzt: „Wir gehen öfter rüber.“
Mara hat noch etwas zu erledigen, Fatma und ich setzen uns auf die gemütlichen Sessel im Laden. „Wir sind schon seit sechs Jahren hier im Viertel“, berichtet Fatma. „Wir sind ein Mädelsteam, logischerweise, weil wir Damenunterwäsche verkaufen.“ Das könnten doch Männer ebenso? „Das wäre ungewöhnlich“, sagt Fatma nachdenklich und schüttelt den Kopf. Sie fährt fort: „Wir sind spezialisiert auf große Cup-Größen, das ist unser Konzept, und wir sind große Fans vom Magniviertel.“ Sie ist begeistert davon, dass sie „eine ganz tolle Nachbarschaft“ haben, zu der nun eben auch das Riptide gehört. Sie nickt: „Wir haben uns sehr gefreut, als es hieß, das Riptide kommt – das Viertel wird immer schöner, immer bunter.“ Die große Außensitzfläche mit dem fließenden Übergang zu Barnaby‘s Blues Bar und Das kleine Café gehöre dazu, und: „Das Riptide bringt auch ein bisschen andere Leute mit rein.“ Das sei das Besondere am Magniviertel, „eine tolle Vielfalt“.
Im alten Riptide war sie nur selten, das war „eine andere Ecke, es lag nicht auf dem Weg“, sagt sie, und Mara, die eben zurückkehrt und sich auf den dritten Sitz hockt, erzählt, dass einige aus dem Team einzeln da waren, sie selbst zum Beispiel, weil es in der Nähe der HBK gelegen war. Anders jetzt, da sie sich nach Feierabend Pommes gönnen, „und wir waren mit dem Team auch schon mal drüben“, sagt Fatma, „das ist ein schöner Anlaufpunkt“. Die Schallplatten, die es dort außerdem gibt, sind indes nur für ein Teammitglied interessant, „die hat sich mit am meisten gefreut“, sagt Mara grinsend.
Männliche Verkäufer gibt es bei der Busenfreundin also nicht, aber wie sieht es mit männlichen Kunden aus? „Wenn sie für die Frau oder die Freundin einen Gutschein kaufen“, sagt Mara, kommen auch Männer mal in den Laden. Fatma winkt ab und betont: „Jede Person, die bei uns einen BH haben möchte, soll auch einen kriegen!“ Der Bedarf an großen BHs sei groß, doch „das Angebot in Braunschweig und Umgebung eher nicht“, so Fatma. Die üblichen Geschäfte seien in ihrem Sortiment „klassisch“, und Mara erklärt, dass es eben „nicht nur Frauen mit großem Umfang und großem Cup“ gebe, sondern auch „mit kleinem Umfang und großem Cup, und das findet man in normalen Läden nicht“. Also – beispielsweise Größen wie 70H? Fatma staunt: „Damit kennen sich nicht mal alle Frauen aus.“ Da habe ich zu Hause wohl gut zugehört.
Fatma ist die Chefin der Busenfreundin, das Team besteht aus fünf Frauen, eine hat gerade erst zum 1. Oktober angefangen. „Wir sind alle Studenten“, erklärt Mara. Mitten in der Krise eine Neueinstellung, nicht schlecht. „Es ist ein Platz freigeworden“, sagt Fatma, weil eine Kollegin studienbedingt wegzuziehen droht, zwar erst später, aber weil die Ausbildung für neue Mitarbeiterinnen lang dauert, bis sie allein umfassende Beratungen vornehmen können, baut Fatma rechtzeitig vor: „Wir denken ans nächste Frühjahr – positiv denken!“ Bis jetzt ist die Busenfreundin eben positiv durch die Krise gegangen, und würde es auch weiterhin, sofern es nicht zu neuerlichen Einschränkungen kommt. Das Team unterwirft sich da von sich aus harten Auflagen, betont Fatma: „Wir tun alles, was wir können, dass es gut weitergeht.“ Denn Mara weiß: „Es ist schwierig, mit Beratung Abstand einzuhalten.“ Fatma nickt: „Das ist eine körpernahe Dienstleistung.“ Man helfe etwa bei Anpassungen oder beim Verschluss des BHs, da blieben Berührungen nicht aus. Doch soll aus der Busenfreundin keine Infektion ergehen, unterstreicht Fatma.
Chris erzählte mir im Frühjahr, dass er sich freute, dass ihn die Nachbarn schon wie angekommen fühlen ließen, obwohl das Riptide noch gar nicht eingezogen war, und machte dies unter anderem daran fest, dass die Busenfreundinnen für ihn schon mal Pakete annahmen. Fatma zuckt mit den Schultern: „Das gehört dazu“, findet sie lächelnd. „Wenn man grad nicht da ist oder erst später aufmacht – das ist gute Nachbarschaft.“ Und Mara grinst: „Ist ja für uns auch gut“, meint sie, dass das Riptide nun gegenüber residiert, „mehr Leute, die denken: Vielleicht passe ich da rein!“
Nun wollen die beiden aber ihren Feierabend antreten, wir verabschieden uns voneinander, sie schließen hinter mit die Tür ab. Auch im Riptide brennt gemütliches Licht, sogar draußen unter dem Schirm sitzen noch einige Leute im Herbstwind. In der Kiste mit den Übrigbleibseln des Record Store Days finde ich tatsächlich noch die Neuauflage der U2-Single „11 O‘Clock Tick Tock“, die es damals nur als 7“ gab und auf keinem Album, außer auf der „Under A Blood Red Sky“-Liveplatte, und jetzt als 12“ im Gatefold und auf blauem transparentem Vinyl, mit zwei bislang unveröffentlichten Livetracks aus jener Zeit als B-Seite. Teurer als ein Album, aber man ist ja Sammler.
Außerdem fischt Rosa noch meine Bestellung aus dem Lager: „Das Cabinet des Dr. Caligari“, die Interpretation des Soundtracks zu diesem Stummfilm, der nunmehr 100 Jahre alt ist, von Toundra, der Postrockband aus Spanien, als Doppel-LP mit CD drin. Die Entdeckung von Toundra war vor einigen Jahren ein magischer Moment: Wir saßen im Tegtmeyer, dem veganen Restaurant, nicht der Punkkneipe, und da lief instrumentale Rockmusik. Die uns allen gefiel, deshalb fragten wir nach einer Weile Timo: „Was ist das?“ Mit Kennerblick verriet er: „Toundra.“ Nächstes Stück. Wieder geil. Die Hälse reckten sich an den Tischen, wieder die Frage: „Und das jetzt?“ Timo grinste: „Immer noch Toundra.“ Auch der nächste Song gefiel allen, wieder die Frage, von wem das denn nun sei, wieder die Antwort: „Toundra“, seinerzeit das vierte Album mit dem Spanischen Titel „IV“. Nicht nur für mich war dieser Moment der Beginn einer Liebe, die in dem Flamenco-Projekt Exquirla gipfelte, einem nach meinem Empfinden der besten Alben des neuen Jahrtausends. Nun also Caligari, ich bin gespannt. Außerdem ist auch Scheppers Bestellung da, die ich für ihn mitnehmen will, Nick Mason‘s Saucerful Of Secrets, „Live At The Roundhouse“.
Auch mit Abstand ist das Riptide voll, von oben kommen Gäste herunter, um ihre Rechnungen zu begleichen, es ist viel los, zum Glück und mit einem kräftigen Schlucken. „Die Leute benehmen sich hier ganz gut“, wischt Rosa Bedenken beiseite. Fürs Draußensitzen dürfte es künftig vielen zu kalt sein, aber Rosa gibt zu bedenken: „Ein paar draußen brauchen wir, weil wir drinnen keinen Raucherbereich haben.“ Und außerdem gibt es ja auch immer ein paar Hartgesottene und auch gar nicht mehr so kalte Winter. Rosa bestätigt: „Ich bin auch im Winter gern draußen, wenn die Sonne scheint.“ Sie drückt mir meinen Milchkaffee „mit Kuhmilch“ in die Hand, den ich samt Keks neben der Schale mit den Klaue-Benefiz-Buttons zu mir nehme. Weil so viele Leute dem Riptide in der Not halfen, unterstützt das Riptide nun den nächsten hilfebedürftigen Laden, und das ist nun die Klaue, der Nachfolger des Punkrock-Tegtmeyers. Einige Stellflächen weiter sind in einem Karton Monkeejuice-Stickermags zu erwerben, gestaltet von Dennis Gabbana und Ly Da Buddah. Drogenbunte Aufklebermagazine von Drum-And-Bass-DJs. Harter Stoff! Den probiere ich nächstes Mal, für heute habe ich nun ebenfalls Feierabend.
Matthias Bosenick
www.krautnick.de
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