#184 Ristorante Corrente di Ritorno

Dienstag, 17. Januar 2023

Ach ja, frohes neues Jahr! Das ist ja auch schon wieder alt, so Mitte Januar. Ein Vierundzwanzigstel des neuen Jahres ist um. Und es geht nahtlos so weiter, wie das alte endete, wer hätte das erwartet: Die Wirtschaftskrise hat den Planeten im Griff, alles wird teurer, nur die Löhne und Gehälter wachsen nicht mit, wie es sich für eine amtliche Inflation gehört, und schon ist der Salat kredenzt. Das betrifft selbstredend auch das Riptide, das wie der Rest der Welt hoffte, sich allmählich aus der Corona-Krise herausarbeiten zu können, und nun vor der nächsten schier unbezwingbaren Aufgabe steht. Der Chris mit guter Laune und angemessenen Maßnahmen begegnet: „Wir haben heute die Happy Hour eingeführt“, erzählt er mir, als ich ihn zu seinem Feierabend von ebenjenem abhalte und wir uns an den schmalen Tresen zwischen Eingangslobby und Plattenecke lümmeln.

Zuvor bestellte ich mir bei Nadia meinen stets beliebten Bonanza-Burger, dieses Mal mit Feta, und nahm ihr das dargereichte Wolters direkt aus der Hand, um es am Fensterplatz mit Blick aufs schummrige Magniviertel zu genießen; um mich herum die Sitzplätze bestens belegt. Die Weihnachtsdeko fehlt einfach, meinethalben könnte man das ganze Brimborium gut und gern die zwei Monate nach dem Fest der Liebe weiterglühen lassen. LED macht’s erschwinglich, doch in der Energiekrise ist jeder Lichtschein zu teuer. Zu sparen hat man nun wirklich überall, nur nicht an Feuerwerkskörpern. Oder an Fußballtickets. Erinnert sich noch jemand an die Weltmeisterschaft der Herren in Qatar? Tatsächlich gab es für mich einen bemerkenswerten Moment, als Andrea und ich eines samstags in der Stadt unterwegs waren und Marokko gerade im Viertelfinale zehn Minuten vor Schlusspfiff gegen Portugal eins zu null führte. Wir holten uns Bowls bei Dean & David, verdrückten uns in der Ecke und dort die Speisen, schalteten das mobile Telefon lautlos zur Restspielbetrachtung ein und hörten, dass zwei junge Frauen am Nachbartisch ebenfalls auf ihrem Smartphone das Spiel verfolgten und in Jubel ausbrachen, als der Pfiff den Sieg bestätigte und damit einen Stapel an Premieren untermauerte: Das erste Land aus Afrika, das erste Land aus Arabien, dessen Fußballnationalmannschaft der Herren jemals bei einer Weltmeisterschaft das Halbfinale erreichte. Später begegneten wir einer der beiden Frauen an der Kasse wieder und sprachen sie darauf an. Sie sei keine Marokkanerin, sagte sie, sondern aus Tunesien, andere Kollegen – sie deutete in die Weite des Raumes – indes schon, und die, mit der sie das Spiel guckte, sei anteilig Marokkanerin und Tunesierin. Mich freute, dass sie dann trotzdem zu ihren Nachbarn hielt, und sie strahlte: „Ach, Algerien, Tunesien, Marokko, das ist für mich ein Land.“

Da war sie happy, und heute ist nun also Happy Hour, wie mir Chris erzählt: „Dienstag bis Donnerstag von 19 bis 21 Uhr ist Long-Drink-Happy-Hour“, jeder Drink kostet dann nur fünf Euro. Außerdem für Dienstag und Mittwoch neu eingeführt ist das Konzept „Restaurant Riptide“, sagt Chris, denn: „Das sind wir offiziell, kein Café mehr, seit dem Umbau.“ Der Hintergrund ist, dass aufgrund winterlich und krisenbedingter gesunkener Nachfrage der unfassbar gute Mittagstisch in diesem Quartal ausgesetzt ist. Und: „Die Leute fragen, ob sie auch abends etwas essen können“, erzählt Chris. Aus familiären Gründen kann Koch Addi jedoch nicht an jedem Abend hier sein, aber er einigte sich auf zwei Tage pro Woche, an denen er auch spät noch seine Kunst ausübt. Heute ab 18 Uhr gibt es gebackene Aubergine mit Yoghurtdip und gerösteten Kichererbsen an Bulgursalat. Und ich bestelle einen Burger!

Der ist natürlich ebenfalls schmackhaft, und den bringt mir Dominik soeben an meinen Fensterplatz, der Chris und mir gegenüber liegt; ich danke, aber bleibe hier sitzen und bei unserem Gespräch. Addi kommt zum Rauchen an uns vorbei, begrüßt mich und sagt grinsend: „Halt den Chef nicht von der Arbeit ab!“ Aber er hat doch Feierabend? Addi schüttelt den Kopf: „Der Chef hat nie Feierabend.“ Und entfleucht auf den dunklen Magnikirchplatz.

Chris hat noch weitere Maßnahmen im Köcher, mit denen er das Riptide nach Corona und in der Krise mit neuem altem Leben füllen will: „Die Quiznight kehrt zurück und wir bieten ein Whiskytasting an.“ Termine hat Chris zwar bereits im Auge, aber noch nicht fest geplant: „Zeitnah“ solle beides stattfinden, sagt er. Die Quiznight müsse er erstmals selbst planen und ausrichten, und für das Whiskytasting sei Bedingung, dass es ausreichend Voranmeldungen gibt. Die Krise ermögliche es ihm nämlich leider nicht, im gewohnten Maße in Vorleistung zu gehen und schon mal Getränke zu erwerben. Die finanziellen Puffer schmelzen, selbst bei diesen heute wieder einsetzenden Minusgraden, und das wirkt sich außerdem auch darauf aus, dass Chris nicht im gewohnten Umfang Schallplatten-Neuheiten ins Regal stellen kann, was sich zwangsweise auf seiner Auswahl niederschlägt. Als nächstes kündigen die Label-Riesen Universal und Sony zudem Preiserhöhungen für Vinyl an – bis zu sieben Euro im Einkauf, und Chris sieht kommen, dass dann alle anderen nachziehen: „Katastrophe!“

Auf Eis liegen derzeit hingegen zwei beliebte Aktionen des Café – Restaurant! – Riptide: Die Musikfilmreihe Sound On Screen im Universum-Kino und Konzerte. Für Sound On Screen gibt es momentan keine Pläne, zuletzt trat die Reihe im November im Rahmen des Filmfests in Erscheinung, bei dem es die Sound-On-Screen-Edition gab. Die angekündigte Band, die noch nie in Braunschweig spielte, spielt auch in naher Zukunft nicht hier, bedauert Chris: „Ich bleibe am Ball, aber es liegt erstmal auf Eis.“ Natürlich verrät er mir nach wie vor nicht, um welche Band es sich handelt.

Einen Off-Topic-Erfolg vermeldet indes Chris glücklich: Ein Gremium, dessen Mitglied er ist, setzte bei der Stadt durch, ein autofreies Magniviertel auszurufen. Mit Ausnahmen für Lieferverkehr und Parkmöglichkeiten im Parkhaus für seit einigen Jahren im Verwaltungssprachgebrauch Bewohner genannte Anwohner, betont er. „Es gab schon Probetage“, berichtet er erfreut, und bald soll es losgehen: Autos raus aus dem Magniviertel, das Quartier wird zur radfahrerfreundlichen Fußgängerzone.

Nun nimmt Chris aber endgültig seinen Hut und ich meinen Burger ein. Sicher, der ist kalt, und Chris meinte vorher noch, dass kalte Pommes nur morgens und besoffen schmeckten, was ich heute allerhöchstens mit ausreichend Bier bewerkstelligen könnte, und doch liegt er gottlob falsch: Die Kartoffelerzeugnisse aus Addis Küche sind auch kalt ein Genuss, fest, knackig und an Chips erinnernd, wie Fritten ja auch anglophon heißen. Die besten kalten Pommes, die ich je gegessen habe, sage ich Addi, doch der winkt ab: „Kalte Pommes sind nie gut.“ Quatsch! Auch der Burger mit der Fetascheibe lässt sich als dicke Stulle vorzüglich genießen.

Zuvor besuchte ich selbstredend einen neuen Nachbarn im Magniviertel, dieses Mal das kleine Geschäft Belle Epoque direkt neben dem Indian Grocery Store von Nikhil, Am Magnitor 6. Der kleine Raum ist hell erleuchtet, überall liegen in den unterschiedlichsten Vitrinen Schmuckstücke aus, Ketten, Ohrringe, Armbänder, dazu Accessoires wie Taschen und Fliegen. Dana tritt aus einem kleinen Werkstattraum hervor, begrüßt mich und räumt für mich ein Päckchen von einem Stuhl, „das ist für einen Nachbarn“, aha, typisch Magniviertel. Als ich ihr mein Anliegen schildere, bittet sie mich, das Gespräch dann doch besser auf Englisch zu führen, da ihr Deutsch zwar für den Alltag bestens geeignet sei, nicht jedoch für solch ausufernde Austausche. Kein Problem!

Dana teilt sich den Laden mit einer Freundin, Prya, „sie ist auch Künstlerin, aus Indien“, erzählt sie, weilt aber zurzeit in Brasilien. „Wir teilen uns den Shop, aber nicht unter dem Namen von meiner oder ihrer Marke“, so Dana. Ihre Marke ist Dana Bossatta, das ist das verweiblichte italienische Wort für Dackelhund und nicht etwa ihr Nachname, und Pryas Marke ist Urban Tattva. Dazu später mehr, Dana holt aus: Sie ist Juwelierin aus Lettland, die quer durch Europa reiste und sich Wissen aneignete, vornehmlich in Italien, „forse è possibile a parlare italano anche“, sage ich schön falsch, und sie antwortet schnell ebenfalls auf Italienisch, kehrt dann aber doch zu Englisch zurück; in Italien also und auch in Frankreich war sie, um ihre Kenntnisse zu vertiefen, über Gravur in Florenz etwa, dazu über Filmschauspielerei in Rom, ganz überraschend, und sie lacht, als sie das erzählt. Und zuckt mit den Schultern: „Um einen Grund fürs Reisen zu haben, musst du etwas erfinden.“ So etwa, dass sie in Paris ihre Gravur-Fertigkeiten vertiefte, indem sie dort ein Praktikum absolvierte.

In Paris ergab sich auch der Umstand, dass Dana jetzt hier lebt, seit fünf Jahren schon: Sie lernte ihren Partner kennen, der einen Job in Braunschweig bekam, und sie traf mit ihm die Entscheidung, sich erstmals in ihrem Leben sesshaft zu machen: „Okay, let’s see, this is Braunschweig.“ Die erste Zeit lernte sie die für sie neue Sprache, arbeitete zu Hause und verbesserte ihre Webseite. Dann suchte sie ein Lokal für ihre Kunst, „das ist nicht einfach, es gibt nicht viele kleine Läden, die zu vermieten sind und zentral liegen“, stellte sie fest. Die jetzige Lösung bot ihr dann Prya an, die sie im Deutschkurs kennenlernte: „Wir haben gemeinsame Leidenschaften: Schmuck, Kunst und so.“ Prya hatte an dieser Adresse bereits den Laden Hummingbird, in dem Kunden ihre getöpferten Stücke selbst bemalten. Der lief nur ein Jahr, dann entschloss sich Prya, nach Brasilien zu gehen, und da sie diesen fabelhaften Raum nicht aufgeben wollte, bot sie Dana an, sich ihn mit ihr zu teilen: „Sie sagte: ‚Ich gehe da hin, wir machen etwas Anderes aus dem Raum, let’s try‘ – Belle Epoque was born.“ Dummerweise geschah dies vor fast drei Jahren, genau zu Beginn der Pandemie. Im Sommer war Prya einmal zu Besuch, „aber sie bleibt noch für einige Jahre in Brasilien“, erzählt Dana. Sobald sie dann aber zurückkehrt: „Wir werden sehen, was wir machen.“ Mit dieser Lösung ist Dana ausgesprochen glücklich. Auch wenn sie sich nicht so entfalten kann, wie sie gern möchte: „Ich bräuchte zehnmal so viel Platz“, lacht sie, „aber es ist besser als mein Keller mit den Spinnen.“

Im Angebot hat Dana neben Schmuck auch Accessoires, etwa die Fliegen, „die sind noch aus meiner Pariser Zeit“, erklärt sie. Zurzeit arbeitet sie viel mit Holz und gestaltet Ohrringe, aber ihr Schwerpunkt ist Metall: „Ich habe den Fokus auf Gravuren, der feine florentinische Stil.“ Prya hingegen sei Designerin, sie macht die Schmuckstücke nicht selbst, sondern hat in Indien Handwerker, die sie nach ihren Vorlagen erstellen. „Sie unterstützt Woman Work in Indien“, erklärt Dana, Frauen, die etwa kleine Accessoires, Portemonnaies oder Schals herstellen, und zwar nach alter Kunst: „Pryas Ziel ist die Unterstützung, das Handwerk nicht aussterben zu lassen, die alte Idee zu modernisieren, um das Handwerk am Leben zu halten“, so Dana. Und regelmäßig schickt Prya neue Ware ins Braunschweiger Lager.

Sobald sie Feierabend hat, ist Dana mit ihren familiären Verpflichtungen befasst, aber: „Wenn ich kann, gehe ich ins Riptide und habe einen Drink, besonders im Sommer“, strahlt sie. „Ich träume von den Momenten am Abend.“ Doch ihre Routine sieht vor, dass sie nach Ladenschluss heimkehrt zu ihren sechsjährigen Zwillingen. Die erfordern gelegentlich auch tagsüber ein spontanes Einspringen von ihr, weshalb sie dann den Laden vorübergehend schließen muss: „Meine Öffnungszeiten sind nicht sehr kundenfreundlich“, lacht sie, „aber ich tu, was ich kann, ich bin allein hier und ich hinterlasse immer eine Notiz an der Tür.“ Die ja direkt benachbart mit der des indischen Shops gelegen ist, sehr zu Pryas Überraschung und Freude, wie Dana berichtet: „In Brasilien vermisst sie das.“

Braunschweig ist nun Danas erster fester Ort, an dem sie lebt, und das bereits seit fünf Jahren. „Das ist mir nie passiert“, sagt sie, „mal hier ein Jahr, mal dort zwei Jahre – ich mochte das.“ Sie arbeitete so an ihren Fähigkeiten, ihren Visionen – und ihren Sammlungen: „Ich habe einen großen Koffer an Abenteuern“, sagt sie strahlend. „Jetzt sitze ich hier, mal läuft das Radio, mal“, sie deutet auf den Plattenspieler neben sich. „Es ist viel Wiederholung“, stellt sie fest. Ob der Shop gut läuft, könne sie gar nicht abschätzen, da sie aufgrund der sofortigen Situation mit Corona und Krieg gar keine früheren Vergleichswerte habe. „Ich bin glücklich, wie es ist“, winkt sie ab, auch wenn sie wisse, dass für jeden und immer gilt: „Es könnte besser sein.“ Wichtig sei ihr das Feedback: „Ob die Leute mögen, was ich mache.“ Ihr Schmuck unterscheide sich nämlich von dem anderer Anbieter im Quartier, „und ich war unsicher, ob es hier überhaupt funktioniert.“ Zwar habe sie vielleicht weniger Kunden als andere Goldschmiede, „aber wenn sie gerne zurückkommen, bleiben sie, they stick to the style“, sie schätzen, dass ihre Stücke anders sind.

Außerdem liebt Dana das Magniviertel und den Magnikirchplatz. „Es ist ein schöner Platz, ich mag es, hier zu sitzen und zu arbeiten“, sagt sie. Die Straßen seien hübsch, ihr gefallen die kleinen Shops, und wenn sie nach Feierabend durch die Straße geht, liebt sie es, zu sehen, wie die Leute in den gastronomischen Etablissements sitzen, „gemütliche Orte“. Und als jüngst eine Freundin zu Besuch war, die zu beherbergen Dana zu Hause keinen Platz hatte, quartierte sie sie kurzerhand im Hotel Magni Boutique ein.

Wir unterhalten uns über Sprachen, Dana spricht von Lettland aus Lettisch und Russisch; für Bewohner kleine Länder, sagt sie, sei es überlebenswichtig, viele Sprachen zu sprechen, weil niemand deren Sprache spräche, und stimmt, das sagt man mir in Dänemark auch so. Sie spricht Italienisch fließend, noch Reste Französisch, hatte überlegt, einen Portugiesischkurs zu machen, und unterhält sich mit mir auf Englisch. Welche Sprache kann sie eigentlich nicht? Sie lacht und platzt heraus: „Deutsch!“ Der Feierabend drängt, Dana muss zu ihrer Familie. Den Spitznamen Dackelhund, erzählt sie noch, hat sie aus Italien mitgebracht, ebenso den Dackelhund, der noch immer bei ihr lebt. Dann verabschieden wir uns und ich überquere den Magnikirchplatz, um ins Riptide zu gelangen.

Dort nehmen ich nun nach Chris‘ Weggang und meiner Mahlzeit auch den Mantel und außerdem die Vinyl-Version des jüngsten Adventskalenders der Drei Fragezeichen mit, „Eine schreckliche Bescherung“. Beim Herausgehen treffe ich Jörg, der erzählt, dass er gerade mit den anderen Boccia-Spielern auf dem Platz aktiv ist. Tatsächlich, im Dunklen sieht man dunkle Gestalten mit Kugeln und hört das typische Klacken, wenn letztere aufeinandertreffen; bei ersteren weiß ich es nicht. Da muss ich dereinst also auch mal was länger zugucken. Und danach Addis Abend-Speisekarte durchprobieren.

Matthias Bosenick

www.krautnick.de
Fakebook

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