Donnerstag, 8. Dezember 2022
So neigt sich nun dies Jahr dem Ende entgegen. Ein anderes Jahr als die beiden davor, mit immer noch Corona als Thema zwar, aber mit weniger Einschränkungen, dafür aber mit einem Krieg, der sich wiederum auf den Alltag hier auswirkt. Dadurch ergeben sich neue Einschränkungen, während man gerade noch einigermaßen aufatmet, dass andere Einschränkungen zusehends weniger erforderlich werden. Dennoch gibt es trotz allem viel „endlich!“ in diesem Jahr. Für mich beispielsweise, dass Andrea und ich das im Februar 2019 erworbene Ticket für die Drei Fragezeichen live in Hannover im November 2022 einlösen konnten, nach drei Verschiebungen seit dem ersten angesetzten Termin, der exakt am ersten Tag des ersten Lockdowns hätte stattgefunden haben sollen – endlich! Oder dass ich mit Guido wieder auf „Tour irgendwohin in Deutschland, wo wir beide noch nie waren“ war, allerdings nicht nach einer Coronapause, sondern, weil uns das Leben nach 16 solcher Touren Anderes abverlangte und unsere Pause sogar 13 Jahre dauerte. Dennoch eben: endlich!
Und also nehme ich mir vor, für diesen Monat den Menschen, denen ich im Riptide begegne, als Frage zum Jahresabschluss zu stellen: Was war 2022 endlich möglich?
Bevor ich dazu komme, nehme ich aber noch einen neuen Nachbarn in Augenschein, und zwar Rooks & Rocks, den Herrenausstatter nach Maßanfertigung in der Kuhstraße 1. Nicolai nimmt einen Kunden Maß, besser: bei ihm, und zwar an den Hosenbeinen unten, die knöchelfrei bleiben sollen, wie der Kunde erklärt. Statt Maß nehme ich derweil auf einem der riesigen Ledersofas Platz und versinke förmlich darin. „Die Sofas waren ursprünglich in Hamburg in unserem Hauptstore, die haben wir zur Eröffnung hergenommen“, erzählt mir Nicolai, während sich der Kunde hinter dem Vorhang wieder umzieht und bevor die beiden miteinander zusätzliche administrative Aufgaben bewältigen. Auf dem Tisch vor der zweiten Sofagruppe liegen Coffeetablebooks über Mode, neben mir sind auf Regalen Schuhe und an Stangen Jacketts aufgereiht, im Raum stehen Sitzgruppen für die Maßberatung parat, an den Wänden sind kunterbunte Socken dargeboten, zudem in Regalen weitere Accessoires der gehobenen Herrengarderobe.
Der Kunde verlässt zufrieden das Geschäft und Nicolai, der „angehende Filialleiter“, wendet sich strahlend an mich. Im Februar 2020 eröffnete Rooks & Rocks in Braunschweig, erzählt er, „kurz vor Corona, und dann war auch erstmal zu wieder“. Was hat es aber mit Hamburg auf sich? Nicolai selbst ist nicht aus Hamburg, sondern gebürtiger Braunschweiger, genau wie Sergio, ein Freund, der wiederum mit den drei Betreibern der Hamburger Hauptstelle von Rooks & Rocks befreundet ist, und der hatte die Idee, das dort 2012 ins Leben gerufene Konzept auch für Braunschweig auszuprobieren. Nach einer kurzen Marktanalyse, ob es hier überhaupt eine Kundschaft gibt, war man sich einig, es zu versuchen, denn hier seien „hochwertige Geschäfte und Unternehmen“ ansässig, „in denen schick getragen wird“, so Nicolai, „das wird unterschätzt, in Niedersachsen sowieso“. Dabei stellt Volkswagen nicht einmal die Hauptkundschaft, weil dort zusehends häufiger „casual“ zugelassen sei und durch mehr und mehr Homeoffice die Mitarbeitenden ohnehin nicht mehr zu einem uniformen Outfit gezwungen seien. Also eher Hemd und Sneakers statt Zwei- oder Dreireiher, sagt Nicolai, und freut sich: „Aber auch dafür gibt es immer noch Kunden.“
Nun sei Rooks & Rocks „eine feste Anlaufstelle für hochwertige Garderobe geworden“, stellt Nicolai erfreut fest. Ein Vorzug seines Unternehmens sei, dass es „eher im nachhaltigeren Bereich“ aktiv sei als Anbieter von Anzügen von der Stange. Nicht nur, weil man als Kunde aufgrund höherer Qualität seltener neu kaufen und weniger wegwerfen würde, sondern auch in Bezug auf die Materialauswahl: Eine Schurwolle-Polyester-Mischung etwa bestehe hier aus „hiesiger Schurwolle“ kombiniert mit einem Polyester aus italienischer Fertigung, die Recycling betreibt und etwa alte PET-Flaschen zu Kunstfasern umwandelt. „Oder Bambus als vegane Alternative“, führt er an und überreicht mir ein Buch mit Stoffproben, die sich anfühlen wie Seide. Zum Wohlfühlen: „Der Anzug soll einem selber gehören“, sagt Nicolai, „man soll durch den Kleiderschrank greifen und überlegen: Wie finde ich eine Möglichkeit, mir selbst zu begründen, das auch in der Freizeit zu tragen?“
Aus diesem Grunde gestaltet Nicolai auch den Besuch in Rooks & Rocks als „Event“, indem er etwa „Bier und Whisky“ anbietet – mit einem zusätzlichen Hintergedanken: „Das lockert auf“, denn wenn Kunden in einem für sie ungewohnten Umstand maßgenommen werden sollen, neigen sie bisweilen dazu, sich steif und unentspannt zu positionieren, „nicht natürlich“, so Nicolai, wie es fürs Maßschneidern erforderlich sei. „Ein kühles Bierchen kann entgegenwirken, dass man entspannt ist“, betont er.
Mit der Wahl des Magniviertels als Standort ist Nicolai zufrieden: „Wir sind glücklich mit der Lage.“ Er zählt auf: „Die Vielfalt, das Kunterbunte, Leute jeder Herkunft, jeder Einstellung, und dass es harmonisch dabei hergeht.“ Im Riptide ist er gern zu Gast, nickt er, „definitiv“, und: „Meine Verlobte ist gefühlt ständig im Riptide.“ Außerdem ist er Plattensammler, „vielfältig“, wie er aufzählt: Pink Floyd, Metallica, Jethro Tull, Iron Maiden, also „Classic Rock, Melodic, klassischer Heavy Metal“. Und mit „Wish You Were Here“ als liebsten Album von Pink Floyd.
Nun ist Nicolai der Erste, der meine Frage gestellt bekommt. Seine Antwort passt zum Thema Musik: „Events“, dass endlich wieder Festivals stattfinden können. „Klar“, wirft er ein, „immer noch fahren Leute nach Hause und haben den Coronatest positiv und bei Festen ohne Einschränkungen muss man immer noch aufpassen, aber sie sind wieder möglich.“ Er selbst indes hat diese Option noch nicht wahrgenommen, da die meisten Festivals im Sommer stattfinden, und das ist gleichzeitig die „Hochsaison“ für Hochzeiten, und das wiederum ist die Festivität, die ihm die Hauptkundschaft stellt. „Aber meine Schwester war beim With Full Force und plant, da auch nächstes Jahr wieder hinzufahren“, erzählt er. Eine schöne Mischung, Maßanzüge und Rock’n’Roll, finde ich, und Nicolai entgegnet: „Die Beatles und die Rolling Stones sind auch im Anzug aufgetreten.“ Das sei zwar „eine andere Zeit“ gewesen, aber dennoch. Und er zeigt mir auf seinem Notebook ein Foto von James Hetfield mit einer Armani-Tragetasche in der Hand, also einer etwas anderen Garderobe, als viele seiner Fans vermutlich tragen würden.
Nicolai selbst trägt ebenfalls gern Anzug, weil gute Schnitte für ihn auch Bequemlichkeit bedeuten, „klar, anders als ein Hoodie“. Außerdem verweist er auf die Italienische Messe Pitti Immagine Uomo, auf der Modelle in buntesten Farben gezeigt werden, also einen Umbruch in der Anzugmode markieren. Er berichtet ergänzend von einem Kunden, der einen Tweed-Anzug fürs M’era-Luna-Festival kaufte: „Ein bisschen ‚Peaky Blinders‘, ein bisschen Goth“, lächelt Nicolai. Und daraus leitet er einen Teil des Konzeptes von Rooks & Rocks ab: „Wir sind nicht der spießige Verkäufer nebenan, zu dem man nur im bestimmten Look hinkommen kann, sondern der coole Schneider, der einem ein Bier hinstellt und sagt: Los geht’s!“
Los geht’s jetzt auch für mich, auf ins Riptide. Ich verabschiede mich von Nicolai und schlendere in Richtung Magnikirchplatz. Der liegt nun im trüben Winterdämmerlicht, die Markstände gruppieren sich wie frierende Wildtiere. Vor der Kirche röhrt ein Motor, den ein mit Lichterketten behängter Weihnachtsmann an einem aufgrund seiner Dekoration nicht näher identifizierbaren Fahrzeug aufheulen lässt. Vorsichtshalber stelle ich keine Fragen, sondern betrete das Café. Chris ist da, aber eigentlich nicht mehr, wie er mir erzählt. Für die Antwort auf meine Frage hat er trotzdem Zeit: „Dass man sich mit Freunden im jeweils aktuellen Rahmen wieder treffen konnte, reclaim the streets“, sagt er. „Ich habe dieses Jahr zum ersten Mal seit Jahren mit Gästen Geburtstag gefeiert“, fügt er strahlend hinzu. „Das war ganz ungewohnt – schön ungewohnt.“
Bei Dominik bestelle ich mir einen Milchkaffee und setze mich wieder ans Fenster zur Straße. An den goldgelb gedimmten Lampen ist eine Lichterkette angebracht, es muss auf Weihnachten zugehen. Auch die Bäume auf dem Magnikirchplatz tragen Lichterketten als strahlende Früchte. Das Café ist gut besucht, ich setze mich zu Kati, Steffen und ihrer zweijährigen Tochter, um ihnen als nächstes meine Frage zu stellen. „Wir haben mehr Ausflüge gemacht“, sagt Steffen spontan. „Nicht mehr als vor Corona“, wirft Kati ein. Steffen zuckt mit den Schultern: „Es war ein Arbeitsjahr für uns, deshalb haben wir nicht so viel gemacht.“ Kati grinst: „Eltern von kleinen Kindern machen allgemein nicht so viel.“ Steffen überlegt: „Kati hat den Arbeitsplatz gewechselt, ich hab für die Verbeamtung gearbeitet.“ Er deutet auf die Tochter auf seinem Schoß: „Wir konnten der Kleinen mehr bieten, den Musikgarten, für die war das klasse, da lernen Kinder mit Klanghölzern, Trommeln und so.“ Kati ergänzt: „Einmal die Woche trifft man sich, mit einer Musiklehrerin.“ Steffen seufzt: „Es war letztes Jahr geschlossen.“
Die beiden Eltern erzählen, dass ihres ein „Coronakind“ sei: „Schwanger bei Corona, geboren bei Corona“, so Kati. „Und sie ist damit aufgewachsen, dass die Leute alle eine Maske tragen“, sagt Steffen. Es habe lang gedauert, bis die Tochter auch mal Fremde mit vollständigem Gesicht zu Gesicht bekommen habe. „Und es gab viel weniger Treffen mit anderen Eltern“, sagt er. Kati wirft ein: „Aber Riptide ging immer!“ Er nickt: „Stimmt, im Winter Burger holen, im Sommer hier sitzen.“
Am Nachbartisch hocken Nico, Oleg und Julian zusammen. Deren Antwort fällt ernüchternd aus: „Arbeitslos sein“, sagt Nico. „Trinken unter der Woche, ohne schlechtes Gewissen“, sagt Julian. „Das war aber auch 21 so“, sagt Oleg. Nico deutet auf Julian: „Du bist fast fertig mit deinem Studium!“ Und Oleg sagt abschließend: „Da fallen mir wirklich nur sarkastische Antworten ein!“ Die er indes nicht verraten mag, leider. Stattdessen fordert er Nadia, die neben ihm steht, auf, die Frage zu beantworten, doch sie wird zur Kasse gerufen: „Ich muss arbeiten“, ruft sie offenkundig erleichtert und verschwindet.
Dann begebe ich mich ins schummrige Obergeschoss, in dem eine fast sakrale Stimmung herrscht. In der Nähe der gemütlichen Butzenfenster wartet Tina auf das Getränk, das Dominik ihr bringt. „Wieder ohne Maske und Test frei in der Gegend rumzusitzen“ war ihr in diesem Jahr endlich möglich, sagt sie. „Das konnte man vorher auch“, zuckt sie mit den Schultern, „aber jetzt mit weniger Einschränkungen.“ Sie sinniert: „Aber viele andere Sachen auch, die mir gerade nicht einfallen.“ Das Maskentragen wird uns vermutlich noch etwas erhalten bleiben, auf freiwilliger Basis, stelle ich fest. „Das kann jeder für sich entscheiden“, stimmt Tina zu, „aber es soll nicht verurteilt werden, wofür er sich entscheidet.“ Sie nippt an ihrem Getränk, blickt sich im Raum um und lächelt: „Wir haben gerade noch gesagt, wie schön das hier ist – es ist echt gut geworden.“ Auch ihre Tochter sei gern Gast im Riptide: „Es ist schön, dass das für alle in Ordnung ist und sich keiner doof vorkommt.“
Die Coronaeinschränkungen beschäftigten auch Christina, Sibel und René am Tisch diagonal gegenüber. „Es war endlich möglich, ohne Test und ohne Maske wie 2019 wieder zusammenzusitzen, im Sommer draußen“, führt Sibel als erstes an. René blickt auf andere Themen: „Ich konnte mir ein neues Auto finanzieren.“ Er lacht: „Davor bin ich eine 20 Jahre alte Möhre gefahren, der jetzt ist drei Jahre alt, im Vergleich ein Raumschiff!“ Er fürchte ständig, dass etwas kaputtgeht, „bei so viel Elektronik“. Das verstehe ich, mein Auto wird nächstes Jahr 20 und ich hüte mich vor einem jüngeren Fahrzeug. Christinas Antworten seien „offensichtlich“, glaubt sie: „Endlich auf den Weihnachtsmarkt“ sei darunter, und aktuell: „Endlich schuldenfrei“, ihr BAföG ist abbezahlt. Außerdem konnte sie endlich die Ausbildung machen, „die ich mir schon lange gewünscht habe“, und zwar die Pole-Dance-Choreografen-Ausbildung. Nebenberuflich ist Christina nämlich Pole-Dance-Trainerin im Studio T-Tanzstück hier in Braunschweig, und sie schwärmt von Nele Sehrt, einer Diplom-Psychologin, die dem Sport Pole Dance mit ihren Ideen „weltweit“ entscheidende Konturen verlieh. Diese Expertin kam auf Einladung von Christinas Studio nach Braunschweig und bildete das Team dort aus: „Die ist inspirierend, eine ganz tolle Frau“, sagt Christina mit leuchtenden Augen. Dieses neue Wissen gibt Christina nun bei T-Tanzstück weiter: „Im Dienstagskurs sind noch Plätze frei.“ Dominik serviert den dreien nun Burger, Pommes, Wedges und Getränke, ich setze mich an den Tisch gegenüber.
Auch hier bringt Dominik soeben Getränke, Ellen und Annabell greifen dankbar zu. Die beiden sind 20 und 21 Jahre alt und von den Lockdowns ganz anders beeinträchtigt gewesen als ältere Leute, wie ich beispielsweise. „Party zu machen, ohne schlechtes Gewissen zu haben“, ist entsprechend Ellens spontane und erleichterte Antwort. Annabell ergänzt: „Zum Weihnachtsmarkt ohne irgendwelche Bänder – generell ohne Masken irgendwo hin.“ Ellen nickt: „In unserem Alter war Corona sehr prägend.“ Das schlechte Gewissen sei drückend gewesen, auch wenn sie wisse, dass auch vor den Lockerungen alles möglich gewesen sei, „es wurden uns ja keine Fesseln angelegt, aber es war ein ungutes Gefühl dabei – jetzt konnte man wieder normal neue Leute kennenlernen“. Annabell seufzt: „Man kommt aus der Schule und gleich Corona, das war schlimm.“ Ellen weiß: „Das sind die prägendsten Jahre!“ Da mag ich mich auch gar nicht hineinversetzen, wie ich damit umgegangen wäre. In der Heide hätte man sich vermutlich heimlich irgendwo im Wald zum Feiern getroffen, merkt da eh keiner. Ich überlasse die beiden nun ihren Getränken.
Die Treppe herunter, begegne ich Nadia und spreche sie erneut auf die Frage an. „Man konnte endlich wieder in den Club gehen, ohne Maske zu tragen“, sagt sie sofort. War sie denn mit Maske im Club? „War ich, war Scheiße“, antwortet sie, „aber man wollte trotzdem die Clubkultur unterstützen.“ Neben sie gesellt sich Dominik und Nadia reicht den Staffelstab weiter, er möge doch bitte die Frage beantworten. Dominik denkt kurz nach und sagt: „29!“ Will er jetzt auch die Frage dazu wissen? Er grinst, bejaht und antwortet: „Das Booze Cruise Festival in Hamburg, das geilste Festival der Welt.“ Zwei Jahre lang musste er darauf verzichten, jetzt war er wieder dort. „Ein Punkrockfestival, mein Highlight“, sagt er. Und hat schon wieder die nächsten Bestellungen auf dem Tablett.
Für mich ist jetzt Zeit zu gehen, hinaus in den Nieselregen, durch das einmal mehr stimmungsvoll erhellte Magniviertel. Trotz Energiekrise. Auch das ist möglich, mit sparsamen Leuchtmitteln. Bald klart es auf, der letzte Vollmond des Jahres erhellt die Nacht, die dieser Tage ja bereits um 17 Uhr beginnt. Zumindest mit der Tageslichtlänge geht es in zwei Wochen wieder aufwärts, das ist sicher. Mit dem Rest hoffentlich auch bald wieder. Einiges ist ja jetzt schon wieder möglich.
Matthias Bosenick