#185 Diese verrückte Welt!

Donnerstag, 23. Februar 2023

Das ist ja wieder wie früher: Ich komme ins Riptide und Niclas sitzt am Fenster, trinkt Kaffee und schmökert. Seit dem Umzug des Cafés aus dem Handelsweg habe ich ihn nicht mehr gesehen, seinerzeit war er zumeist bei Nachbar Serge untergebracht, aber dessen Antiquariat gibt es seit vergangenem Sommer auch nicht mehr. Der Wegzug des Publikumsmagneten Riptide aus dem Handelsweg riss ein Loch ins dortige Geschehen, erzählt Niclas. Tatsächlich führen mich meine Wege ebenfalls nicht mehr in die alte Hood, dafür lerne ich die neue besser kennen.

Zum Beispiel den neuen Nachbarn Cartina, angesiedelt nur wenige Meter vom Riptide entfernt im Ölschlägern 38. „Ich mache Bilderrahmungen, habe viele schöne Deko und Geschenkideen“, eröffnet mir Inhaber Carsten, als ich seine Räume betrete. Im hinteren Bereich ist seine Werkstatt untergebracht, und um zu ihm zu gelangen, passiert man den Bereich mit Stoffsäckchen, Kissen, Stoffbahnen, Tassen, Brettchen, Postkartenaufstellern und vielem mehr. Die Handarbeiten fertigte seine Frau Martina, die Rahmungen übernimmt er selbst: „Ich rahme alles, was man sich vorstellen kann – oder auch nicht“, grinst er. Denn aktuell hat er etwa ein Rentiergeweih und eine mexikanische Flagge in Arbeit. Ein – Rentiergeweih…? „Der Kunde hat das zumindest gesagt“, sagt Carsten und deutet auf das mehrendige Hornexemplar, das in der Werkstatt zur Rahmung bereitliegt.

Nicht nur private Auftraggeber hat Carsten, auch die Braunschweiger Museen, „Landesmuseum, Schlossmuseum, Photomuseum“, zählt er auf, „da dürfen wir Passepartouts schneiden“. Liegt bei letzterem die Kombination aus Bild und Rahmen sehr nahe, trägt bei den anderen die räumliche Nähe zur unkomplizierten Auftragserteilung bei: „Die geben ihre Bilder nicht aus der Hand“, stattdessen tritt er den kurzen Weg in die Einrichtungen an. Nicht nur deshalb schwärmt Carsten von der Lage: „Wir fühlen uns superwohl hier im Magniviertel, für uns ist das der beste Standort, ich wüsste nichts woanders in der Stadt.“ Die Cafés, den Wochenmarkt und das Riptide mit den Schallplatten führt er an, und „im Sommer sitze ich gerne draußen“. Auch der Anwohner-Mix gefällt ihm, von jungen bis alten Nachbarn, „das ist gut so“. Heute „ist der Markt da“, weiß Carsten, „meine Frau geht da immer hin“.

Den Laden Cartina betreiben Carsten und Martina – damit erklärt sich der Name von selbst – seit 18 Jahren. Dabei ist die Geschichte seiner Unternehmung eigentlich viel älter, Carsten berichtet vom Urgroßvater, der als Fotograf einen Laden am Hagenmarkt hatte und nach mehreren Umzügen über den Waisenhausdamm und anderen Standorten quasi gegenüber landete, wo jetzt Bilder.Rahmen.Rache residiert – Carsten heißt selbst Rache mit Nachnamen, das andere Geschäft gehörte einst seinem bis noch vor wenigen Jahren aktiven Vater, dessen letzte Mitarbeiterin das Geschäft übernahm, weshalb der Sohn sich eben mit Gattin hier selbständig machte. Und sein Portfolio erweiterte, nämlich um die Geschenkartikel und textilen Arbeiten. Was sich gut ins Magniviertel füge, findet Carsten: „Das Viertel ist ein bisschen Handwerk, kleine inhabergeführte Geschäfte, Künstler.“

Mit diesen Spagat zwischen Rahmen und Handarbeit passt Cartina auch zum Konzept des Riptide, das als Plattenladenladen und Café ebenfalls zwei Bedürfnisse bedient. Carsten selbst kam überdies vor einigen Jahren wieder zurück zur Schallplatte: Ein Freund, den er davor lang nicht gesehen hatte, räumte bei sich zu Hause auf und wandte sich an ihn: „Ich habe Schallplatten!“ Die nahm Carsten ihm gern ab, legte sich auch wieder einen Plattenspieler zu – „und ich habe im Riptide etwas erworben“. Er grinst: „Der Kitzel der Jugend.“ Wobei er einräumt, dass sich junge Leute heute beim Musikkonsum vorrangig beim Streaming bedienen: „Die holen sich das aus dem Netz.“ Obgleich auch seine 27jährige Tochter einen Plattenspieler besäße, „aber das ist nicht ihr Ding“. Ein „Nischenprodukt“ wie die Schallplatte sei „das, was das Viertel ausmacht“, deshalb findet Carsten: „Das Riptide passt am besten hierher.“ Und ähnlich, wie Kaffeetrinker dort möglicherweise nebenbei eine Platte entdecken, verhalte es sich auch mit seinen Kunden: „Die Leute kommen zum Rahmen und finden eine Kleinigkeit – oder umgekehrt.“

Nun verabschiede ich mich und schlendere hinüber in den Plattenladen, in dessen Cafébereich ich Niclas sitzen sehe und mich ihm anschließe. Die Dämmerung setzt ein, es ist heute nieselbedingt ohnehin trübe, die wohliggelb glimmenden Lampen in den Fenstern erzeugen eine warme Atmosphäre. „Ich habe im Park auf einer Bank gesessen und bin hier, um mich aufzuwärmen“, sagt Niclas. Chris tritt zu uns und nimmt meine Bestellung entgegen, ich hätte gern einen Burger, doch Chris bittet um Geduld: „Die Küche öffnet erst ab 18 Uhr.“ Ach ja, in einer Stunde erst! Dann belasse ich es vorerst beim Milchkaffee, den Chris mir kurz darauf strahlend bringt.

Meine Hoffnung, dass Niclas mich in puncto Handelsweg auf den neusten Stand bringen könnte, zerstreut er jedoch – er hat dort selbst nicht mehr die feste Anlaufstelle, seit Riptide und Serge weg sind und die Corona-Lockdowns das Leben dort eindämmten. Jakob, den jungen Weggefährten aus der früheren Riptide-Serge-Zeit, sieht Niclas gelegentlich, etwa bei spontanen Jazzsessions im B in der Kaiserstraße, und dabei fällt mir ein, dass ich Jakob jüngst im Universum an der Kasse sah, aber nicht erkannte, weil ich ihn dort nicht erwartete, nur dachte: Der sieht ja aus wie Jakob, und Micha bestätigte mir hinterher, dass er das wirklich war. Bärbel von BS Kunst sowie Autorin des Buches über das Savoy, dessen Leiterin sie seinerzeit auch war, erzählte mir kürzlich, als ich sie in der Postagentur in der Goslarschen Straße traf, dass die Künstlergruppe 0rplid aus den früheren Räumen des Riptide nach nebenan in Serges vormaliges Antiquariat übersiedelte. Dafür ist im alten Riptide jetzt wieder ein Café eingerichtet, Juan & Jane, erzählt Niclas, ein Café, das es bereits in der Roonstraße gibt, welch Zufall, gab sich doch Serge den Namen Roon. An das Café ist eine Rösterei angeschlossen, aber Niclas kennt es bisher nur vom Vorbeischlendern.

Jetzt interessiert mich natürlich, wo Niclas sich stattdessen aufhält. Vorgestern, so erzählt er mir, übersah ich ihn im sympathischen und schmackhaften Il Siciliano in der Wendenstraße, als ich auf dem Weg ins Hermans ein Plakat für die fünfte Burning-Beats-Party mit Rille Elf zur freundlichen Anbringung vorbeibrachte. Ein fester Ort ist dies aber auch nicht für ihn: „Unterschiedlich, immer mal hier, ansonsten – …“ An sich setze er sich tagsüber seltener in Cafés, aber das Riptide „lässt sich verbinden mit meiner Tätigkeit bei Rewe im Schloss“, da arbeitet er nämlich parallel zu seinem Fernstudium an drei Tagen pro Woche vormittags. Besonders im Sommer findet er es mittags „entspannt“ im Riptide, abends hingegen verbringe er viel Zeit in der Baßgeige am Eulenspiegelbrunnen, „da bin ich früher schon gerne hingegangen“. In der Pandemie indes „habe ich mich vor der Haustür eingerichtet“, was im Bültenweg bedeutet, dass er McMurphy’s, Quartier und „Euse“, also Eusebia, frequentierte, wo auch überall Freunde von ihm arbeiten. Bald war ihm das aber doch zu eng: „Ich habe meinen Radius wieder erweitert“, jetzt ist er einmal mehr häufiger in der Baßgeige anzutreffen, er motiviert sich sogar bei schlechtem Wetter dazu, den Weg anzutreten. Ihm gefällt auch, dass die Jazzmusik dort „einen Lautstärkepegel hat, der Gespräche erlaubt“, so Niclas. Und: „Ich treffe da eigentlich immer jemanden, ich muss mich nicht verabreden.“ Wie wir beide hier.

Melissa schreitet die Reihen der Sitzenden ab. „Alles okay bei euch?“, fragt sie Niclas und mich, und wir bestätigen dies mit Blick auf unsere noch halbvollen Kaffeetassen. Und bei ihr? „Nö“, entgegnet sie und schreitet weiter. Chris hat jetzt Feierabend und verabschiedet sich von uns. Meine bestellte dreiseitig bespielte Doppel-LP auf blauem Vinyl von Yo La Tengo, „This Stupid World“, habe ich bereits: Onkel und Tante meines Patenkindes holten sie am Wochenende für mich ab, als sie zur Stippvisite hier eingekehrt waren. „Die ist gut“, findet Chris, und ich kann nur zustimmen, von Yo La Tengo gibt es kein schlechtes Album.

Und dann war da noch die Geschichte mit der Single von Guido Schmidt, von der ich zufällig las: Auf der Webseite von Guidos Pizzeria, die ebenjener Guido Schmidt eröffnete, stand in einem eingescannten Zeitungsartikel vom 15. Februar 2004, dass er Singles aufnahm, und zwar ein Elvis-Tribut mit Tony Marshall, im Artikel Toni Marschall genannt, sowie eine eigene, „Hey Amigo“. In diesem Internet nun konnte ich dazu aber nichts finden, lediglich eine unter dem Namen Regina veröffentlichte Single, „The Requiem For Elvis“ aus dem Jahr 1977, auf deren Cover zwar „produced by Tony Marshall“ steht, der Name Guido Schmidt hingegen gar nicht. Auch von „Hey Amigo“ war nichts zu finden. Und wie es der Zufall will, starb Tony Marshall genau einen Tag nach meiner Recherche, die ich überhaupt nur deshalb startete, weil ich herausfinden wollte, seit wann es Guidos Pizzeria gibt; im Text feierte sie 2004 das dreißigjährige Bestehen, Nils, der dort arbeitet, meint aber, die Pizzeria sei bereits älter als 50 Jahre. Einen Hinweis zur Single bekam ich dann doch – und zwar von Chris, der meinte, sie einmal in den Händen gehalten zu haben, und zwar bei André, und der schrieb mir daraufhin, dass er tatsächlich die „Hey Amigo“-7“ besitzt, in rotem Vinyl und mit dem Foto von einem auf einem Oldtimer vor Guidos Grillbar sitzenden Guido Schmidt darauf, nicht aber die mit Tony Marshall. „Hey Amigo (Ha Ha Ha)“ und „So wie du“ heißen die beiden Lieder ganz genau, „Lemke Musikproduktion“ aus Salzgitter ist zudem vermerkt. Ein Teilerfolg also, jetzt ist nur noch der Bezug zu Tony Marshall ungeklärt. Und zu Elvis, der wiederum am selben Tag Geburtstag hat wie André, da ist immerhin ein Kreis geschlossen.

Chris winkt, Niclas und ich bleiben noch, ich bestelle mir bei Nadia den Burger und ein Wolters, Niclas bekommt ein Glas Rotwein. Bei meinem zweiten Wolters schließt Niclas sich an, worüber Melissa erstaunt ist, als sie uns die Getränke bringt: Sie sieht Niclas enorm selten Bier trinken. Bevor wir nach Stunden intensiver Gespräche aufbrechen, verrät mir Niclas noch, dass Nadia und Melissa das Riptide zum Ende des Monats verlassen werden, und das steht ja schon nächste Woche an. Beim Bezahlen sprechen wir die beiden darauf an, was inzwischen übrigens wieder einfacher ist, weil der Spuckschutz nicht mehr Gäste und Angestellte trennt. „Barcelona“ ist Nadias nächstes Ziel, verrät sie, und dann beginnt sie eine Ausbildung zur Physiotherapeutin. „Es fällt schwer“, das Riptide zu verlassen, sagt sie wehmütig. Melissa beginnt ein „duales Studium“, sagt sie, im sozialen Bereich. Zweimal arbeiten beide noch im Riptide, „am Dienstag haben wir unsere letzte Schicht“, sagt Nadia, und Melissa ergänzt: „Gemeinsam.“ Melissa ist schon seit 2017 im Riptide tätig, „ich war schon im Handelsweg“, genau wie Max, ein weiterer langjähriger Kollege, der jedoch kurz vor den beiden das Riptide verließ. Von den Altgedienten aus Handlesweg-Zeiten ist somit nur noch Rosa dabei. Das mag nach fliegenden Wechseln klingen, aber: Wer erst im Magniviertel einstieg, kann heute auch schon seine fast drei Jahre auf dem Buckel haben. Die Zeit fliegt. Melissa und Nadia versichern uns, dass wir uns in Braunschweig trotzdem wieder über den Weg laufen werden, und darauf bauen wir.

Niclas und ich bestimmt auch, zweimal in dieser Woche ist ein schönes Signal dafür. Im Nieselregen verabschieden wir uns, er in Richtung Norden, ich in Richtung MokkaBär. Wie Niclas in der Baßgeige: ohne Verabredung Leute treffen. Oder eben wie Niclas und ich heute im Riptide.

Matthias Bosenick

www.krautnick.de
Fakebook

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