Dienstag, 14. März 2023
Vor zehn Tagen war ich bereits mit Andrea im Handelsweg unterwegs, an einem Samstag zu einer Uhrzeit, zu der dort die meisten Läden geschlossen hatten, also nicht mitten in der Nacht, sondern am sehr späten Nachmittag, um einen Blick auf das zu werfen, was mir Niclas vergangenen Monat aus des Riptides alter Hood so berichtete. Heute vertiefe ich diesen Blick, und stelle fest: Stefans Comiculture ist da wie gehabt, Marions Fifty-Fifty-Second-Hand-Laden gegenüber nicht mehr, dort residiert jetzt ein Geschäft namens Child Wald, also in der Benennung sprachlich ähnlich bunt wie das Greek Haus, in dem es Barfußschuhe für Kinder zu erwerben gibt. Helmuts Strohpinte ist noch da und erlebt wohl auch noch den 50. Geburtstag, Stecky betreibt weiterhin das Tante Puttchen und vermutlich auch den früheren Bierteufel gegenüber, über dessen Fenster immer noch das Schild von Café Drei prangt, das es schon ewig nicht mehr gibt. Birgits Schmuckwerkstadt38 ist ebenfalls noch da, und auch die Galerie EinRaum5-7, die am 24. März die nächste Vernissage begeht, nämlich zur Ausstellung „Eine Reise“ von Heike Sachweh. Serges Antiquariat sieht beinahe immer noch so aus, sein Name klebt noch im Fenster, aber bewohnt ist sein Raum jetzt von der Künstlergruppe 0rplid.
Und dann gibt es noch die beiden früheren Räume vom Café Riptide. Im Hauptraum ist jetzt das Café Juan & Jane untergebracht, und als wäre es eine Einstellungsvoraussetzung, trägt auch die Angestellte, die heute dort tätig ist und mich begrüßt, einen Namen mit J, nämlich Joana. Der Raum wirkt jetzt größer, weil die Zwischenwände fehlen, die im Riptide den Büroteil von Café und Plattenecke abtrennten. Wo einst das Sofa stand, steht auch jetzt wieder eines, ansonsten sind Caféhaustische und –stühle im Raum verteilt, Regale mit Kaffee, Taschen, Geschirr, Tüchern, Wein, Karten, Schokolade und mehr lockern die Einrichtung auf, ein Lichternetz prangt an der Wand links. Ein „kolumbianisches Café“ sei dies, erläutert Joana, das in der Roonstraße 5 bei der Paulikirche seinen Anfang nahm und hier vor Ort in der Zweigstelle demnächst einen eigenen Kaffeeröster bekommt. „Dann wird der Kaffee hier geröstet“, schwärmt Joana, und erläutert, dass die Betreiber ihren Kaffee derzeit noch andernorts als Gäste rösten lassen. Drei Kaffeesorten bietet Juan & Jane an, „alle etwas heller geröstet“, sagt Joana, „magenschonend“, mit einer Zitrusnote bei der hellsten Variante: „Das ist spannend, dass sie alle aus dem selben Herkunftsland und von der selben Farm kommen, aber durch die Röstung anders schmecken.“ Außer Kaffee gibt es hier noch „schöne Sachen“, sagt sie, und in der Tat, die entdeckte ich bereits.
Der Geist der Vorvormieter weht nach wie vor durch diesen Ort: „Es kommen in der Tat viele Leute, die sagen, dass sie noch das Riptide kennen“, erzählt Joana. „Ich war hier auch Platten kaufen“, setzt sie nach. Die Erst-Filiale in der Roonstraße verlege sich aus Engegründen auf „Kaffeeverkauf und to go“, erklärt sie, was, direkt am Park gelegen, für die Kunden perfekt passt, aber: „Hier ist mehr Platz und es ist gemütlich“, freut sie sich über die früheren Riptide-Räume. Wie die damaligen Mieter hat auch Juan & Jane ein vegetarisches und veganes Angebot an Frühstück und Kuchen, „auch nichtvegane Sachen, aber kein Fleisch“, betont Joana. Den Namen des Cafés mit der künftigen Rösterei erklärt sie mir noch: „Die Inhaberin ist Jane und der erste Kaffeebauer heißt Juan, das ist eine Hommage an diesen Kaffeebauern.“ Jetzt fordern Gäste ihre Aufmerksamkeit ein, ich verabschiede mich und schlendere durchs Achteck nach gegenüber in die frühere Rip-Lounge.
Dort hat sich Die Witte Friseurhandwerk eingerichtet, und schon von außen durch das Fenster sehe ich zwei Leute drinnen an einem Tisch sitzen und Getränke zu sich nehmen, auch hier ist also die Caféanmutung erhalten geblieben, auch wenn sich das Grundthema komplett veränderte. Nicht nur das, erläutert mir Inhaberin Verena, die gerade mit Stammgast Christian den Feierabend zelebriert: Die einstigen Toilettenräume sind komplett umstrukturiert, einst eigens eingezogene Wände entfernt und neue eingezogen, eine eigene Gasheizung ist installiert. „Eine Menge Arbeit“, weiß Christian, und Verena nickt: „Das war’s wirklich!“ Er schwärmt: „So ein schöner Friseursalon!“ Das freut sie: „Ja, der ist schön“. In nur knappen vier Wochen machte Verena ihren Salon bezugsfertig: „Wir haben alles neu gemacht.“ Andere Wandfarben sind da nur eines von vielen Merkmalen: Die beiden sitzen quasi neben einem enorm ausgepolsterten Frisierstuhl mit angeschlossenem Waschbecken, dahinter reihen sich Regale auf, auf denen Handwerkzeug aufgereiht ist, zwischen denen sich ein Kühlschrank einen Platz behauptet und die ein Kaffeeautomat krönt. Dem Empfangstresen an der Tür zur Seite stehen zwei weitere Stühle mit Spiegeln davor und einem Werkzeugwagen zwischen sich. Nach den früheren Riptide-Toiletten fragt heute niemand mehr, sagt Verena, aber das war noch anders, als der Raum vorübergehend von BS Kunst bewohnt war und die Künstler Veranstaltungen ausrichteten, „da wurde nach den Toiletten gefragt“. Das Café Juan & Jane hat ein eigenes WC – und zwar das gleiche, mit dem auch das Riptide 2007 begann, nämlich im Haus schräg gegenüber, für das man am Tresen einen Schlüssel erbitten muss. Wie damals im Riptide, bevor die Rip-Lounge an den Start ging.
Seit zwei Jahren frisiert Verena nun unter dieser Adresse, und das verdeutlicht mir einmal mehr, wie lang es her ist, dass ich mich überhaupt im Handelsweg aufhielt. Es handelt sich bei ihrem Salon um Umzug und Neugründung gleichzeitig, denn Verena betrieb davor zehn Jahre lang „mit einem Compagnon um die Ecke“ einen Salon, dessen Mietvertrag jedoch auslief, was beide Beteiligten zum Anlass nahmen, sich separiert neu zu erfinden, „freundschaftlich“, wie Verena betont. Und da sie einen „großen Kundenstamm“ mitnahm, ergibt sich für die neue, eher abgelegene Lage ein großer Vorteil: „Ich brauche keine Laufkundschaft.“ Im Gegenteil, es ist sogar nicht nur ratsam, sondern erforderlich, bei Verena Termine zu vereinbaren, die Vorlaufzeit ist immens. Spontan behandle Verena Kunden „sehr selten“, höchstens, wenn zufällig jemand gerade absagte. Einen solchen Umstand nutzt sie jetzt, um mit Christian bei Sekt zu entspannen.
Entspannen sollen sich die Kunden in ihrem Salon ebenfalls, betont Verena: „Nicht: ‚Ich muss zum Frisör‘, sondern sich freuen, dass sie wiederkommen.“ Christian nickt, „sie schneidet die Haare ganz toll“, findet er außerdem, „mein Mann und ich folgen ihr seit 20 Jahren“, wo auch immer sie ihre Zelte schon aufschlug, Hannover, Wolfsburg, Einbeck. „Ich war viel als Trainerin unterwegs“, erklärt sie. Und jetzt eben im Handelsweg, gegenüber von Juan & Jane, was ihr gut gefällt, „manche Kunden rennen auch mit Farbe auf dem Kopf rüber“, lacht sie, und sie weiß: „Im Sommer wird’s hier noch schöner.“ Ach ja, die Zeiten im Achteck!
Ihren Feierabend sollen die beiden jetzt aber ohne mich weitergenießen, und ich möchte nach neuen Bewohnern der alten Riptide-Räume nun Nachbarn der neuen Riptide-Räume im Magniviertel kennenlernen. Pizzeria und Bistro Salentino liegt in der Langedammstraße 9, also angenehm auf dem Weg, da kehre ich ein. Mit mir betritt Linh das Restaurant, vor sich einen Kinderwagen. Sie ist die neue Betreiberin des Salentino, zusammen mit ihrem Mann Elias. Das überrascht mich jetzt, sind die beiden doch die Inhaber des Café Lineli neben Barnaby’s Blues Bar. Sie stellt den Kinderwagen unter der Freitreppe ab und wir setzen uns an den Tisch daneben. Die Freitreppe führt auf eine höhere Ebene, auf der Tische den Blick vom Rizzi-Haus über Ohlendorf bis zur Baustelle ermöglichen, und von dort aus geht es eine weitere Ebene höher mit Blick auf die Schlossarkaden. „Wir haben das Salentino am 15. Oktober übernommen“, erzählt sie. „Wir wollten im Magniviertel bleiben, weil wir es hier sehr schön finden.“
Der Übergang verlief ohne Brüche, erzählt Linh: „Wir haben das Konzept einfach übernommen, auch den Pizzabäcker und die Rezepte.“ Sie grinst: „Auch wenn manche in Bewertungen schreiben, dass die Pizza seit dem Besitzerwechsel anders schmeckt – das stimmt nicht!“ Lediglich den Service optimierten die beiden Neuen, „da sind wir sehr geübt durch das Lineli“. Sie selbst findet die „Pizza superlecker“, deshalb „haben wir die Karte komplett übernommen, es ist alles beim Alten“, mit der Einschränkung, die derzeit überall gilt: „Wir mussten die Preise erhöhen.“
Die Vorbesitzer und Gründer des Salentino betrieben es für mindestens acht Jahre, erfuhr Linh von ihnen, „und davor war hier wohl ein Café drin“. Stimmt, ich erinnere mich, dass ich hier vor Ewigkeiten mal in einem Café saß. Das Salentino war ein klassischer Familienbetrieb, doch „die sind zurück nach Italien gegangen“, erzählt Linh, aus wiederum familiären Gründen und schweren Herzens. Linh sinniert: „In Italien bin ich viel zu wenig gewesen, bisher nur im Norden.“ Eine Weintour durch das Land wollen Elias und sie dereinst planen, „wenn er größer ist“, sagt Linh und deutet auf den sieben Monate alten und fröhlich lächelnden Nachwuchs im Kinderwagen.
Das Magniviertel finden Elias und Linh schön, sagt sie, „wir sind sogar hier hergezogen“, das sei ungemein praktisch auch mit dem Kinderwagen. „Wir freuen uns schon auf den Sommer, wenn es wieder voller wird.“ Mit dem Riptide verbindet sie, dass sie das Lineli gleichzeitig eröffneten, quasi mitten im ersten Corona-Lockdown. „Und ich war früher im Handelsweg ein paarmal“, erzählt sie. Jetzt nimmt man sich mal gegenseitig Post an, Elias bringt gelegentlich Pommes aus dem Riptide mit. Und man teilt sich den Magnikirchplatz als Draußensitzfläche, zwischen dem Riptide und dem vietnamesisch-afghanischen Café Lineli liegt nur Barnaby’s Blues Bar. Die Kombination ist einzigartig, überdies: Das Vietnamesische bringt Linh mit, Elias das Afghanische, und Linh lächelt mit Blick auf den gemeinsamen Nachwuchs: „Das wird lustig mit unserem Sohn.“ Sie fügt an: „Als Löwe in der Löwenstadt geboren, im Tiger-Jahr!“ Linh hat nun zu tun, der Sohn fordert ihre Aufmerksamkeit ein. Eine Pizza genehmige ich mir, eine mit Salsiccio, und dann begebe ich mich ins Riptide.
Es dämmert, erleichternd spürbar später als noch vor einem Monat, die Boccia-Spieler lassen metallisches Klacken über den Magnikirchplatz schallen, im Riptide ist es wieder so angenehm kuschelig beleuchtet. Dennis steht an der Theke, Dominik schreitet die Treppe aus dem Obergeschoss herab. „Dominik und ich sind fast jeden Abend hier“, erklärt Dennis, denn Nadia und Melissa ließen eine Lücke in der Besetzung klaffen, als sie Ende Februar vom Riptide aus zu neuen Ufern aufbrachen. Zurzeit absolvieren daher einige Bewerber Probearbeiten, „von denen wie zwei, drei, vielleicht mehr, einstellen, auf Minijobbasis erstmal“, sagt er. Gegenwärtig übernimmt Chris allein die Schicht von vormittags bis 17 Uhr, die Küche ist täglich von 11 bis 14 und von 18 bis 21 Uhr warm. Die Position als Personalchef, von der Chris einst sprach, hat Dennis nach wie vor inne, auch wenn ihm das Wort „Chef“ darin nicht gefällt, daher ist er über die Mitarbeitervorgänge informiert: „Ich habe die Entwicklung verfolgt, ich tausche mich mit Chris aus“, erklärt er. „Wir versuchen, uns jetzt für den Sommer zu wappnen, deswegen stellen wir jetzt schon ein, damit wir die Leute fitkriegen für den Sommer.“ Und der Sommer beginnt schon bald: Ab 1. April ist die Außenfläche wieder frei, ab 1. Mai ist das Riptide auch sonntags wieder geöffnet. Dennis‘ Aufmerksamkeit ist nun anderweitig gebunden, ich nehme ihm ein Wolters aus der Hand und setze mich an die schmale Tischreihe an den LP-Fächern.
Woanders ist heute kaum Platz im Riptide, das gefällt mir gut, überall sitzen Gruppen von Gästen zusammen. Ich nehme mir die Zeit, durch die Platten zu stöbern, und entdecke dort die neue EP von Die Müller-Verschwörung, „Versuch und Irrtum Vol. I: Alles auf Plan B“, die ich aber schon habe, weil direkt bei Müller bestellt, also dem Bandchef, nicht der Drogerie. Dafür finde ich eine andere LP, die ich mitnehmen mag: „9th & Walnut“, zwar frisch von den Descendents, aber mit einst verlorenen Demos aus den Siebzigern, jetzt erst neu veröffentlicht. Nicht nur musikalisch eine Pflicht für mich – seit ich Beute-Opa von einem Milo bin.
Und überhaupt richtet das Riptide wieder Sachen aus, kürzlich traf ich Kai, der gerade vom ersten Whiskey-Tasting zurückkehrte und in rauchig-torfigsten Tönen schwärmte, von der Auswahl, der Darbietung und der fröhlichen Gemeinschaft. Der nächste Termin ist schon für den 30. März angesetzt. Vorher, nämlich schon am 15. März, findet die sogar bereits ausgebuchte Quiznight statt, am 24. März kommt Jan Off nach einer eigenen Veranstaltung zur After-Show-Party vorbei, Cosmo Thunder, den ich schon für das Kurt-Magazin interviewte, gibt am 12. April mit Slair und Timo Laue ein Konzert – und am 19. April steht schon die nächste Quiznight auf dem Zettel. Das sollte die Denksportgruppe Nowak unbedingt erfahren!
Matthias Bosenick