Donnerstag, 9. Januar 2025
Wie, Schnee? Wer kann denn damit rechnen, dass es im Winter schneit? Man hat es ja beinahe vergessen, wie schön die Welt aussieht, wenn sie unter weißem, gefrorenem Wasser verborgen ist. Da ignoriert man es auch, wenn der Schnee bei lediglich um die null Grad fällt und sich eher wie sehr kaltes Wasser anfühlt, denn schön bleiben diese heiermanngroßen Flocken ja trotzdem. Die ja überdies ein Indiz für Gefrierpunkttemperaturen sind. Egal: Im Schneefall durchs Magniviertel spazieren, unter den hübschen Lichtern, auf den Magnikirchplatz gucken, die Lampions und historisch anmutenden Straßenlaternen genießen; die einzige verbliebene Wochenmarktbude sendet ihr warmes Licht auf den verschneiten Platz, vom Fuchs Blau gegenüber setzen die Dekoleuchten pinkviolette Markierungen. Wie schön das alles aussieht!
Zum Glück ist es ja im Riptide warm und trocken und außerdem ähnlich stimmungsvoll beleuchtet. Heute setzen wir unseren MokkaBär-Stammtisch fort, den wir nach der Schließung des Cafés am Frankfurter Platz eben ins Riptide verlegten. Olli ist schon da und sitzt neben einem Lautsprecher, dessen Existenz an dieser Stelle Fragen aufwirft. „Siggi spielt“, erklärt uns Chris, der um die Theke herumgeschlendert kommt und uns zum erfolgreich erfolgten Jahreswechsel begrüßt.
Siggi also, der eigentlich Simon heißt und aus einem Dorf bei Braunschweig kommt, als Siggi The Kid seine Indie-Rap-Karriere startete und zu Corona-Zeiten seine Debüt-EP mit dem beneidenswert großartigen Titel „38666“ herausbrachte. „Der geht gerade durch die Decke“, freut sich Chris für ihn. Dies sei daher wahrscheinlich die letzte Möglichkeit, den Musiker „so klein“ zu erleben, denn sein nächster Braunschweiger Auftritt im Oktober in der Eule kostet bereits das dreifache von dem heutigen Eintritt. „Ich arbeite seit drei Jahren mit ihm zusammen“, erzählt Chris. Im Juli 2021 hatte Siggi nämlich seinen ersten größeren Auftritt im Café Riptide, nachdem er einen Plattenvertrag mit Chris‘ Label Riptide Recordings abgeschlossen hatte. Jetzt arbeitet Siggi mit Undercover zusammen und bekommt eben die größeren Locations. Und mehr Aufmerksamkeit: Als Siggi bei Spotify loslegte und Chris sich mal die monatliche Hörer-Zahl anguckte, lautete die 119 – heute sind es 82.000, so Chris. Er staunt: „Er hat Songs mit über 500.000 Plays – für einen kleinen Rapper aus Braunschweig, alter Schwede!“ Im Sommer habe Siggi in Berlin „zweimal die Waldbühne ausverkauft“, trumpft Chris auf, und lügt damit auch nicht: Siggi trat im Vorprogramm von Herbert Grönemeyer auf, der den Braunschweiger auch auf seinem Label Grönland Records unterbrachte.
Jetzt wird Chris‘ Aufmerksamkeit von anderer Seite eingefordert und ich setze mich zu Olli an den Tisch. „Ich hab letztes Jahr angefangen, nicht mehr keinen Sport zu machen“, schlägt er den Bogen zu unserem letzten Treffen an dieser Stelle. Damit habe er sich die guten Vorsätze zum Jahreswechsel gespart, indem er schon vorher damit begonnen hat, etwas zu verändern. Gute Idee überhaupt, seine Motivation, Dinge in seinem Leben zu verbessern, nicht vom Kalender abhängig zu machen, sondern vom Impuls, von der Erkenntnis der Notwendigkeit, von der Befähigung. Sollte man mal einen Podcast drüber machen.
Veränderungen stellte ich in den zurückliegenden Zeiten auch im Magniviertel so einige fest: Aus einer Fußball-Kneipe wurde die Badsha-Bar, die OG Tacos existieren bereits nach wenigen Wochen nicht mehr und im Kleinen Café ist nicht mehr Kerstin die Wirtin. Es heißt jetzt auch Das Magni Café, den Bindestrich im Sinn. Das erfuhr ich, als meine kleine Schwester Miriam aus Kiel im Dezember zu Besuch war, das Riptide eine geschlossene Gesellschaft bewirtete und wir ans andere Ende des Magnikirchplatzes auswichen, um im Magni-Café Pfefferminztee und Milchkaffee zu uns zu nehmen. Wir hörten, dass der Barista andere Gäste auf Englisch ansprach, und fragten ihn auf Englisch, ob das hier so erforderlich sei, was er lachend auf Deutsch verneinte und nachschob, dass er Französisch ebenfalls spräche. Mit meinen zusammengekratzten Brocken in seiner Muttersprache brachte ich ihn zum Lachen und er uns danach die Getränke. Crêpes, dies zur Vollständigkeit, gibt es hier immer noch – schließlich beherbergte das Café vor Kerstin die Crêperie, und diese Tradition bleibt erhalten.
Crêpes gab’s auch auf dem Weihnachtsmarkt, den Andrea und ich zwischen den Jahren einmal zusammen besuchten, wo wir uns aber anderweitig ernährten. Heißer Met zum Beispiel geht ja immer, die Schwedenschale hatte ich davor schon ausgiebig verköstigt. Zudem blieben wir, ebenfalls wie immer, am Warmies-Stand hängen und umschwärmten dort die plüschigen Elefanten. Verkäufer Dirk versicherte, er beantworte uns jede Frage, und ich fragte ihn spontan, wie man den Bass von Jason Newsted auf „… And Justice For All“ hörbar machen könne, was uns aus dem Stand in ein intensives Gespräch über Musik und Kultur strudeln ließ. Am Ende erfuhr ich, dass eigentlich Marc von den Boardjunkies den Stand betreibt und dass Dirk gelegentlich Security im Kufa-Haus macht. Für dort verabredeten wir uns einfach mal pauschal und fanden kaum ein Ende unseres Gesprächs, was Andrea daran zweifeln ließ, dass Dirk und ich uns vorher wirklich und wahrhaftig gar nicht gekannt hatten.
Da ich das Glück habe, mit zwei Schwestern gesegnet zu sein, besuchte ich die andere, Melanie, vor einer Woche nachträglich zu Weihnachten in Bonn, das halten wir seit mehr als einem Jahrzehnt so. Dieses Mal mit plus eins auf der Gästeliste: Sie wurde Ende November Oma und ich durfte jetzt meinen allerersten Großneffen auf dem Arm halten. Altwerden ist komisch. Jedenfalls besuchten wir dieses Mal die Bundeskunsthalle, kurz für Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, auf der Museumsmeile; das ist der Bau mit den drei markanten Kegeln auf dem Dach, in und auf dem wir in den zurückliegenden drei Jahrzehnten schon so manche Stunde verbrachten. Dieses Mal mit drei Ausstellungen gleichzeitig: „Tanzwelten“ über die Welt der Tänze, „Save Land. United For Land“ über Renaturierung und Landnutzung sowie „Mark Dion. Delirious Toys – Die Spielzeug-Wunderkammer“ über, genau, Spielzeug. Am Ende fragte ich im Museumsshop, ob es dort auch den Katalog zur letzten Ausstellung von Fotokünstler Gregory Crewdson gebe, die in Wien in der Albertina stattgefunden hatte. Den hatte ich mal in Kopenhagen in Den Sorte Diamant entdeckt, den ich eigentlich nur der Architekturweise wegen besucht hatte, in die Fotoschau gestolpert und gleich begeistert war. Zwar hatte ich mir da auch ein Buch mitgenommen, war aber offen für ein zweites von ihm. Tatsächlich bestätigte die Verkäuferin, das Buch im Bestand gehabt zu haben, aber gegenwärtig nicht mehr vorrätig, und verwies auf die Möglichkeit, dass es im Shop des Kunstmuseums auf der anderen Seite des Museumsplatzes noch erhältlich sein könnte. Ich hatte mich gerade im Foyer zu Melanie gesetzt, als die Shopverkäuferin mit einem Papierprogramm wedelnd auf mich zugelaufen kam: Das nämliche Kunstmuseum zeigt ab Oktober eine Retrospektive über Gregory Crewdson. Was ein Zufall! Und unser Zusatz-Programm für Weihnachten 2026 steht damit auch schon fest. Den Katalog fand ich übrigens tatsächlich im Kunstmuseumsshop, vielmehr: Patrick, Freund meiner Schwester, hatte das bessere Auge als ich.
Im Riptide wirft Lea nun ein Auge auf unseren Tisch und nimmt Bestellungen auf. Olli hat bereits ein Wolters vor sich stehen, ich bleibe bei meinem etablierten Standard: Falafel-Burger mit Mozzarella, dazu Pommes mit Mayo und ein Dubai-Wolters, so viel Luxus gönne ich mir mal. Der nächste am Stammtisch ist Uwe, der unser chorartiges „Frohes Neues“ mit „Ja“ pariert, „auch allen, die ich noch nicht gesehen habe“ anfügt und das auf uns zwei blickend mit „dürften alle sein“ zutreffend abschließt. Er bestellt sich bei Lea einen Cappuccino, lässt sich von ihr die Gebäckauswahl aufzählen und erweitert seine Bestellung um einen Streuselkuchen.
Bevor ich ins Riptide schneite – ja, der uralte Witz muss sein, oder? –, hatte ich das Glück, Fabian, den Chef der Wirtschaftskanzlei Kaptan in der Schloßstraße 2, dieses Mal persönlich anzutreffen. Bei meinen diversen vorherigen Versuchen, sein Unternehmen als neuen Riptide-Nachbarn kennen zu lernen, war ich auf freundliche Kollegen und Angestellte getroffen, die kaum weniger freundlich auf ihn verwiesen hatten. Und auf einen jungen kurzhaarigen schwarzen Dackel war ich getroffen, der um meine Beine herumgesprungen war. Umso verwunderter war ich vorhin, als der herumspringende junge schwarze Hund plötzlich Locken hatte.
Die Erklärung dazu sollte Fabian mir später geben, zunächst bat er mich in sein Büro und ließ den kleinen wuscheligen Hund bei seinen Kollegen in dem geräumigen Raum am Eingang zurück. „Ich bin im Finanz- und Immobilienbereich tätig, aufgeteilt auf mehrere Firmen“, erläuterte Fabian zum Auftakt. Als da sind: Die Bezugsdirektion Kaptan mit dem Exklusivpartner Zurich, also eine Versicherungsagentur, die Wirtschaftskanzlei Kaptan, „der klassische Makler, vorrangig im Neubaugeschäft“, die KPTN Projekt-GmbH, „die handelt mit Grundstücken und Immobilien und baut Häuser, um sie zu verkaufen“, und außerdem die Dienstwerk GmbH, „die habe ich neu gegründet im Sommer letzten Jahres, die ist im Handwerksbereich unterwegs, vorrangig im Gründsegment, an schlechteren Tagen wie diesen auch im Innenausbau, Bodenbeläge“. Eine Menge Holz! Der gebürtige Braunschweiger begann seinen beruflichen Weg „im Finanzsegment, dann kamen Immobilien dazu, durch das Netzwerk, das sich ergab“, erklärte er. Danach hatte er die Kanzlei gegründet und parallel auch privat „Häuser aufgekauft und vermietet“ sowie Grundstücke gekauft und mit ihnen gehandelt. Noch mehr Holz!
In der Schloßstraße residiert Fabians Büro ungefähr seit 2015, „angefangen habe ich in der Humboldtstraße, mit 17 – ich habe ganz jung angefangen, ich bin jetzt 38 Jahre jung“. Eine kaufmännische Ausbildung hatte er um eine zweite Ausbildung „im Finanzbereich“ ergänzt und war dann mit dem Büro in die Langedammstraße umgezogen, „und dann hierher – so kommt das, und es macht Spaß“, schloss er strahlend. „Zwischen vier und fünf Leute“ arbeiten mit ihm hier, und außerdem: „Wir geben immer die Möglichkeit, Jahrespraktikanten einzustellen“, häufig im Rahmen eines Fachabis, und zwar, so betonte er, „nicht für Kaffee und das WC, sondern, um ihnen einen Eindruck zu verschaffen“. Ein ehemaliger Praktikant, so freute er sich, „ist in der Branche hängen geblieben bislang, schön“.
Auf das Magniviertel war Fabian aus pragmatischen Gründen gekommen: „Wir wollten einen guten Standort haben in der Innenstadt, das Magniviertel mit der Schloßstraße“ – dabei breitete er in gespielt mondäner Geste die Arme aus – „ist eine der besten Adresse in Braunschweig.“ Er strahlte: „Ich bin supergerne hier, rausstolpern, zum Nachbarn gehen, Kaffee trinken, etwas essen.“ Für das Geschäft selbst sei die Lage gar nicht so relevant, da er auf Laufkundschaft angesichts eines 2000 Personen umfassenden Mandantenstammes gar nicht angewiesen sei, auch wenn er sich über jeden hereinkommenden Passanten freue, „das ist nicht der Grund, warum wir hier sitzen, sondern weil ich die Stadtnähe mag und die Abwechslung“. Kurioserweise hatte er es ins Riptide auf seinen Streifzügen durch die Nachbarschaft noch gar nicht geschafft und nahm es sich nun für die nächste Pause vor. Ihm sei berichtet worden, wie belebt das Magniviertel früher gewesen war, so Fabian, dann sei es „relativ still“ gewesen und seit jüngerer Zeit „anders belebt, das ist richtig schön“.
Länger wollte ich Fabian nun nicht von seinem Feierabend abhalten, und als er die Bürotür öffnete, wedelte das schwarzgelockte Pudeljunge prompt herein. „Das ist unser Bürohund, vom Kollegen“, erklärte Fabian. Paul heißt der Wirbelwind, „er ist noch ganz jung“, ebenso der andere Bürohund, den ich bereits kenne, der Dackel Emil der Assistentin, die gerade nicht am Platz war. So kommt kam es also zu den Locken am Kurzhaar – es handelte sich um zwei junge Hunde! „Wir halten uns hier jung“, sagte Fabian grinsend. Für meinen nächsten Besuch versprach er mir einen Kaffee und unterstrich sein Vorhaben, demnächst im Riptide einen zu trinken.
Also verabschiedete ich mich von Fabian, seinen Kollegen und Paul und trat auf das Kopfsteinpflaster. Direkt gegenüber der Wirtschaftskanzlei Kaptan sah ich, dass Julia und Jörg in ihrem Woonwinkel beschäftigt waren. Julia schloss die Tür auf, erklärte: „Eigentlich haben wir Urlaub“, deutete auf die entsprechende Notiz an der Scheibe direkt vor meiner Nase und lachte abwinkend: „Weißt du ja, selbst und ständig!“ Wir wünschten uns ein gutes Jahr und verabschiedeten uns, ich ließ die beiden in Ruhe weiterarbeiten.
Der nächste, der ein frohes neues Jahr wünscht, ist jetzt Henning, der bereits angekündigt hatte, dass er sich für den MokkaBär-Stammtisch verspäten würde, weil er noch seine durch die Wohnung wandernde Waschmaschine zu beaufsichtigen hatte. Bei Lea bestellt er sich einen Pfefferminztee, Olli legt mit dem nächsten Wolters nach. Henning gerät darüber ins Grübeln: „Ich weiß auch nicht, warum ich so vernünftig bin.“ Uwe lässt sich von meinem Burger dazu verleiten, den seinerseits auszutesten, wählt aber Cheddar statt Mozzarella und zusätzlich Ketchup zur Mayo. In Cheddar, so erzählt er, war er mal auf einem Schulaustausch nach Portishead, das ganz in der Nähe der Käsestadt liegt. Als fünfter gesellt sich dann Stefan zu uns, wünscht uns ein frohes neues Jahr und widmet sich Lea. Und dem QR-Code auf dem Klemmbrett, auf dem man die Speise- und Getränkekarte einsehen kann, sofern man, anders als Stefan, ein Smartphone besitzt, der deshalb bedauernd feststellt: „Mit der Karte kann ich nichts anfangen.“ Er überlegt kurz und schießt ins Blaue: „Habt ihr Fritz-Orange?“ Gleich sein erster Schuss ist ein Treffer, Lea bringt sie ihm.
Um uns herum beginnen bald die Vorbereitungen für das Konzert, ein Musiker mit Instrumentenkoffer beginnt, seine technischen Mitbringsel neben unserem Tisch abzustellen, Chris und Lea räumen Tische und Stühle vor der Bühne weg, Dennis beginnt seine Schicht und unterstützt sie dabei. Es ist längst dunkel geworden, abermals erfreue ich mich an den schönen Lampen im Café, an der warmen Atmosphäre, an der sympathischen Runde und dem Zuhausegefühl hier. Als gute Gäste wissen wir aber auch, wann wir die Tafel besser aufheben, und nachdem auch Siggi eintrifft, räumen wir das Feld für ihn. Ich bestelle noch schnell das neue Album „Gone Dark“ von Human Impact bei Chris, dann stehen wir fünf draußen auf dem Gehweg.
Die meisten von uns müssen ins Westliche, Henning hat die Gegenrichtung einzuschlagen und verabschiedet sich als erstes. Vor der Aegidienkirche trennt sich auch Uwe von uns, wir anderen drei, also Stefan, Olli und ich, schlendern gen Westen. Schnee schwebt auf uns herab, wir können festhalten: Der Winter fiel in diesem Jahr auf einen Donnerstag.
Matthias Bosenick