#43 Philosophophil

Montag, 23. Mai

So kann Frühling sein: hell, warm und trocken. Die Schwalben sind mittlerweile in Braunschweig angekommen, sie kreisen auch wieder über dem Achteck im Handelsweg. Der Platz zwischen den beiden Riptide-Räumen ist gut belegt mit Gästen, im Riptide selbst sitzt bei dem wundervollen Wetter niemand, der dort nicht auch arbeitet. Jasmin balanciert abenteuerlich auf einem Barhocker und wischt die Scheiben hinter den Plattenspielern, Franzi geht ans Telefon. Es ist Chris, der André sprechen will, sagt Franzi Jasmin über den Tresen hinweg. Jasmin ist ebenso ratlos wir Franzi mit der abgedeckten Sprechmuschel: André hätte eigentlich da sein sollen. Aber da am Samstag die BS-Visite war und das Riptide dort caterte, wähnt Jamsin André bei irgendwelchen Aufräumarbeiten. „Gestern haben wir nur ein bisschen sauber gemacht“, sagt Jasmin. Für den Abbau fehlte die Kraft. Franzi dreht sich weg und spricht mit Chris, während Jasmin von der BS-Visite erzählt: „Das war gut, ich habe selber nur die Hälfte der Ausstellung gesehen.“

Serge unterbricht Jasmin. Er kommt ins Riptide gestürmt und spricht sie an, sei kenne sich doch mit medizinischer Versorgung aus. Serge hat etwas ins Auge bekommen und macht sich Sorgen, die Jasmin zwar zu zerstreuen in der Lage ist, es aber nicht kann: Serge ist mit ihrer eigentlich beruhigenden Diagnose nicht so recht beruhigt. Er kommt gleich wieder ins Café, stellt sich dieses Mal an die Theke, bestellt einen Kaffee und wischt sich im Auge herum. Ich spreche ihn auf seinen Regie-Job beim Theater Fanferlüsch an. Micha gesellt sich zu uns, wie verabredet: Gestern noch wehte ich an ihm vorbei und sagte mehr im Scherz „bis morgen“, heute macht er den Scherz wahr. Er bestellt sich eine Hausmarke und legt zwei Plakate auf die Theke. So geht das hier: Wer hinter der Theke steht, nimmt die Plakate entgegen und klebt sie bei nächstbester Gelegenheit unter die Theke. Von vorn sichtbar, versteht sich. Kathi, Jasmin und Serge lassen sich über die schlechte Gestaltung der Plakate aus. Man könne gar nicht ausmachen, um was für eine Art Veranstaltung es sich handele, geschweige denn, wer überhaupt der Veranstalter sei. „Das Datum ist viel zu klein“, befindet Kathi. „Muss nicht der Urheber am Rand vermerkt sein?“, fragt Serge. Damit etwa bei verbotenen Inhalten nachverfolgbar sei, wer zu belangen ist. Micha nimmt einen Schluck von meiner Hermann-Brause Melone-Limette und verzieht das Gesicht. Immerhin: Er lacht. „Ich hab aus Versehen deine Flasche erwischt“, stellt er korrekt fest. Und teilt meine Meinung, dass die Brause enorm künstlich schmeckt. Wie nichts, was es in der Natur gibt, finde ich, mag den Geschmack aber gern. Micha spült mit Hausmarke nach. Eines der Plakate ziert ein Gehirn mit lauter Zahlen darauf. Serge ist davon überzeugt, dass das Gehirn wirklich so funktioniert: in Reihe verknüpft. Ich merke an, dass ich es mir nicht so schön vorstellen kann, wenn alles wieder auf Null ist. „Dann ist dunkel“, sagt Serge, und Micha widerspricht: „Vielleicht auch ganz hell und Tanz.“ Serge fragt: „Das willst du lieber? Eine Belohnung für ein dunkles Leben?“ Ich werfe ein, dass das die protestantische Sichtweise ist, und entfache damit eine Diskussion über Religionen und Spiritualität.

Derweil kommt André ins Café. Er trägt eine Kunststoffkiste, stellt sie vor der Theke ab und sagt zu Jasmin und Kathi, als müsse er sie um Erlaubnis bitten: „Ich bring hier mal ne Kiste rein.“ Jasmin versteht die Anmerkung anders: „Und was sollen wir damit machen?“ André bleibt die offensichtliche Antwort schuldig. Kathi kommt aus dem Achteck und triumphiert: „Zwei Crêpes!“ Sie verschwindet grinsend in der Küche und überlässt Jasmin die Entscheidung, was sie mit der Kiste machen soll. Die Kiste indes bleibt nicht alleine: André bringt weitere ins Café. Und sieht dabei deutlich erschöpft aus. „Geh schlafen“, schlägt Micha vor. Ich weise André auf das Café-Sofa als Möglichkeit dafür hin. „Heute nicht“, wehrt André ab. „Ich wusste ja, dass der Mai heftig wird.“ André öffnet den kleinen Schrank neben dem Eingang, holt einen Blechbehälter und den Hundenapf heraus und legt eine Decke hinein. Alles in einem Tempo, das in etwa seinem Erscheinungsbild entspricht.

Serge hat seinen Kaffee ausgetrunken und steht rauchend am Eingang, Raze alias Dominic geht an ihm vorbei ins Café. Raze bestellt sich ein alkoholfreies Bier: „Ich habe mir eine alkoholfreie Woche verordnet, aber am Wochenende muss ich spielen, das wird nix.“ Jasmin reicht ihm das Bier und grinst: „Das wird dann doch eine Herausforderung.“ Micha spricht Raze auf die buchgroße „ISAM“-CD von Amon Tobin mit dem Fotos von Tessa Farmer, die auf der Theke steht, an. „Ich hab die Rezension gelesen und gleich gewusst, dass das was für dich ist“, sagt Micha. Raze gibt ihm Recht. Da verdunkelt sich die Sonne: Lukas ist von seinem Platz im Achteck aufgestanden und steht mit angewinkelten Armen bei Serge in der Tür. „Hier ist was los“, ruft er tadelnd. „So schönes Wetter und alle sind drinnen.“ Er auch, merke ich an, als er vor mir hinter der Theke steht. „Ich will nur kurz Mails checken“, sagt Lukas und checkt kurz Mails.

Jasmin hat sich der inzwischen beachtlich aufgestapelten Aufgabe angenommen und entdeckt in den Kisten leere Flaschen, Flaschenöffner, ein auf rätselhafte Weise untrennbar in ein Bierglas gestecktes Weinglas und mit einem erfreuten Aufschrei quittierend eine angefangene Packung Tabak. Raze lacht: „Ein Kumpel hat in seinem Auto unterm Sitz letztens einen Raider gefunden.“ Es dauert bei uns allen eine Weile, bis wir den Ekelanteil dieser Nachricht erfassen. „Der muss sogar vom Vorbesitzer sein“, fährt Raze fort, „denn er hat den Wagen erst drei, vier Jahre.“

Über den Film „The Tree Of Life“ erreichen Micha und Raze erneut das Thema Spiritualität, Serge ist inzwischen nicht mehr dabei. Die Frage ist, was kommt, wenn das Licht ausgeht. „Neues Licht“, schlägt Micha vor. Raze meint: „Dann ist Feierabend.“ Micha kennt Raze besser: „Dann gibt’s noch ein Feierabendbier.“ Das Bier, das niemals leer wird, mutmaße ich. Raze grinst: „Dazu kann ich noch ein paar Sachen sagen, wenn ich mehr Bier intus hab.“ Sein „spielen“ am Wochenende ist überdies ein Auflegen, wie Raze erläutert. Er meint, dass es zurzeit sehr schwer sei, Sachen aufzulegen, die nicht sowieso schon jeder kennt, egal, in welchem Genre.

Vom Auflegen erzählt auch Svante, der eigentlich ins Riptide kam, um Flyer zu verteilen, nun aber Platten entdeckt. „Wildstyle“ steht groß auf seinen Flyern, und ich entdecke neben dem Datum 3. Juni das vertraute Logo vom Sauna-Klub im Hallenbad Wolfsburg. Doch zum Sauna-Klub gehört er nicht: „Wir machen dort nur die Partys.“ Hip-Hop-Partys nämlich, „es gibt ja keine mehr“, meint Svante, „und da dachten wir, es besteht überregional Bedarf“, deshalb lege er die Flyer in Braunschweig aus. Svante ist Wolfsburger, der in Braunschweig studiert und ohnehin fast täglich hier ist. Er ist Mitglied im Wordclass Soundsystem, zusammen mit Der DJ und Der fette MC. Das Soundsystem ist wiederum Bestandteil der größeren Crew Wordclass. Bislang kannte ich in Wolfsburg nur die Arabia Mafia und die Crew um Nizza, die Wordclass-Crew ist mir noch nicht untergekommen. „Wir sind nicht so aktiv“, ist Svantes Erklärung. „Die Leute wohnen in Bayreuth, in Hamburg – wir versuchen, das nach unseren Möglichkeiten zu machen.“ Zum Beispiel ein Hip-Hop-Festival im Kulturzentrum Hallenbad im Herbst und die Wildsytle-Party einmal im Quartal. „Wir versuchen, das überregional zu etablieren, dass es eine Marke wird, wie es sie im Moment in dem Bereich nicht gibt“, sagt Svante. Die Arabia Mafia und Nizza kennt Svante natürlich auch, nicht nur das: „Nizza hat sein Album draußen, ‚Der Club der dopen Dichter’ – das ist das Professionellste, was es aus Wolfsburg gibt im Hip Hop“, schwärmt er. „Ich bin auf dem Hiddentrack mit drauf, mit einem Rap.“ Svante erzählt von dem Video zu dem Album, bei dem alle möglichen Hip-Hop-Künstler aus Wolfsburg mitmachen und bei dem jeder seine Passage selbst gestaltet hat. „Da sind alle einschlägigen Locations aus Wolfsburg drin“, berichtet er. Das Wordclass Soundsystem arbeite überdies selber an einer CD. Und er erzählt überraschenderweise von der Lokalpolitik in Wolfsburg, an der er selber Teil hat, als Mitglied der Piratenpartei. Wir unterhalten uns noch eine Weile über Politik in Wolfsburg, auch über den falschen Oberbürgermeister Rolf Schnellecke bei Facebook, auf den sowohl die Politik als auch die Medien seiner Meinung nach mit zu wenig Humor reagiert haben. Dann müssen wir beide los.

Inzwischen hat sich das Riptide einigermaßen geleert, Micha verteilt irgendwo in Braunschweig weiter Flyer und Plakate, Razes Bier ist längst alle, Serge bei sich nebenan, André weg. Jasmin und Kathi haben ihre raumgreifende Aktion beendet, bei der sie ellenlange schwarze Tücher zusammenlegten. Ohne Vinyl gehe ich nicht: Als ich in den Musikmagazinen über „Beileid“, das neue Mini-Album von Bohren & Der Club Of Gore, gelesen habe, dass sie nämlich nicht nur erstmals überhaupt einen Sänger darauf haben, sondern dass das auch noch Mike Patton ist, was allerdings nicht mehr so sehr verwundert, wenn man weiß, dass Patton die Bohren-Alben in den USA vertreibt, derselbe Grund also, weshalb Patton plötzlich bei den Young Gods singt, und dass Bohren außerdem im Vorfeld eine 12“ herausgebracht haben, an den von Dieter Bohlen produzierten Smokie-Sänger Chris Norman gemahnend „Mitleid Lady“ betitelt, und dass es diese auf 1000 Stück limitierte 12“ ausschließlich bei Konzerten zu kaufen gab, da habe ich sofort im Internet geguckt, ob die noch irgendwo zu bekommen war, und dann im Riptide angerufen. „Könnt ihr die bestellen?“, habe ich André gefragt. Sein „Nein“ war eines der schönsten Neins überhaupt: „Die haben wir hier stehen.“ Was mache ich mir überhaupt für Sorgen. Und dann scheint auch noch die Sonne so schön. Und die Schwalben kreischen.

Matze Bosenick
www.krautnick.de

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