#07 Weiche Juwelen

Vormittags regnete es ein wenig, nach fast zwei Wochen Sonne. „Das ist das erste Mal seit Wochen, dass wieder Leute drinnen sitzen“, sagt Chris. Mittlerweile hat der Regen nachgelassen, inzwischen setzen sich schon wieder Gäste nach draußen, unter die typischen grauen Wolken Ostfalens. André nimmt die Bestellung auf. „Eine Latte Macchiato“, bestellt Maren. „Und die neue Portishead auf Vinyl.“ Sie bekommt beides nach draußen gebracht. „Sehr wohl, die Dame“, sagt André galant und reicht ihr erst das Heißgetränk und dann das heiß ersehnte Album „Third“.

„Ab Juni haben wir unsere Schanklizenz“, berichtet André. Das bedeutet, dass es auch Alkohol im Café Riptide geben wird. „Donnerstag, Freitag und Samstag soll dann hier Start in die Stadt sein“, sagt er. „Aber eine Nachtbar soll es nicht werden.“ Welche Art Alkohol es geben wird, ist noch nicht klar. „Wir machen das aber wie mit der Limonade: etwas spezieller.“ Dabei fällt ihm ein: „Ich hab mir letztens Kartoffelchips mit Biergeschmack gekauft – darauf hab ich eigentlich schon lange gewartet.“ Die gäbe es wohl limitiert als Special zur Fußball-EM. „Doof finde ich aber, dass da ‚alkoholfrei’ drauf steht“, grinst er. „Der Geschmack geht so, ein bisschen wie abgestandenes Bier.“

Im Spitzen Winkel zwischen Vinyl-„A“ und den Tonträger-Abspielgeräten steht ein silbergrauer CD-Anhör-Tower. „Den haben wir neu von einem Indigo-Mitarbeiter aus Braunschweig bekommen“, sagt André. Fünf CDs kann man sich dort über Kopfhörer anhören. „Da sind lauter Indigo-CDs drin“, beispielsweise Ja König Ja und Kettcar.

Währenddessen kümmert sich Chris um notwendige Formulararbeiten, kommt aber immer wieder aus dem Bürobereich hervor. Er erzählt von zwei Schülern, die kürzlich im Café waren, um Crêpes zu essen, und neben ihnen bezahlte ein weit älterer Kunde eine LP. Der eine fragte den LP-Käufer: „Bist du DJ?“ Der Kunde erwiderte ein fragendes „Nö?“ Der Schüler fragte dann: „Und warum kaufst du dir die LP?“ Der Kunde, nach einem kurzen Stutzen: „Zum Hören?“ Und der Schüler, verwundert: „Aber die gibt’s doch umsonst im Netz?“

Außerdem berichtet Chris von neuen Radio-Abenteuern. Nach dem Ausflug nach Hamburg zum Internet-Radiosender Byte.FM folgt am Sonntag ein Interview bei Radio Okerwelle. Von 11 bis 12 Uhr stellt sich Chris den Fragen von Andreas Last in dessen Sendung und spielt auch ein bisschen Musik. „Das ist dann live, keine Aufzeichnung“, sagt Chris. Ein wenig mulmig ist ihm bei dem Gedanken daran, „aber ich werd’s überleben.“ André gefällt die Sendung, die hört er auch gerne. „Das ist für Sonntag Morgen genau das Richtige“, findet er. „Last hat einen guten Geschmack.“ Am Sonntag wird André aber nicht dabei sein, wenn Chris das Café Riptide präsentiert. „Ich habe Bauaktion“, sagt André. Er wird Steckdosen nach draußen verlegen, für Licht sorgen, eine Box installieren. „Ein bisschen den Außenbereich pflegen, den ganz nett machen.“ Jetzt, wo es so lange warm und sonnig war und der Sommer erst vor der Tür steht.

„Einen Cappuccino mit Soja-Milch“ bestellt Ben. Auf seiner linken Hand steht „True“, auf dem Arm darüber „Confessions“. „Das ist eine Single von den Silvertones, einer Reggae-Band“, erklärt er. Auf der Arminnenseite steht „fight racism“. „Da stehe ich zu“, sagt Ben. „Aber das Lied handelt davon, dass der Sänger seine Freundin schlecht behandelt und betrogen hat, das jetzt öffentlich bereut und sie zurück haben will.“ Ihm gefalle diese Doppeldeutigkeit. Ben veranstaltet Reggae- und Ska-Konzerte in der Funzel, dem B58 und dem Nexus. Für den 6. Juni hat er dort K-Mob und die Skamones gebucht. Das Café Riptide mag er: „Als ich das erste Mal hier reingekommen bin, ist mir das Herz aufgegangen.“ Schwärmend blickt er sich um. „Das ist der richtige Laden zur richtigen Zeit am richtigen Ort.“

Chris legt die bestellte Dreifach-LP von den japanischen Bands Boris und Merzbow für einen Kunden ins Regal zurück und muss dann ein Paket mit Platten versenden. „Unsere Band Gregor Samsa ist gerade in Italien auf Tour“, erklärt er. „Denen sind die eigenen Platten ausgegangen.“ Bevor er sich auf den Weg zur Versandstation macht, erwähnt er noch die neue CD der Einstürzenden Neubauten, „Jewels“. „Für das Album machen die keine Werbung“, sagt Chris. „’Soft Marketing’ heißt das, die ist plötzlich einfach im Laden zu haben.“ Blöd für alle Supporter, die die Stücke in Phase drei als Bonus herunterladen durften, dass die nun nicht mehr exklusiv sind.

Audrey bestückt ihre Fadenmut-Vitrine mit neuen Gegenständen, die sie alle selbst hergestellt hat, Buttons, Taschen, Beutel und mehr. „Die verkaufen sich überraschend gut“, freut sie sich. Parallel verkauft sie ihre Sachen auch im Internet. „Hier vor Ort ist der Geschmack ganz anders, da verkaufe ich andere Sachen als im Netz“, erzählt sie. In Braunschweig gingen Katzen gut. „Die Kunden hier mögen es verspielt, schrill.“ Sie ist froh, dass ihre Kunst so gut angenommen wird. „Rosa kommt immer gut“, lächelt sie. Und lieber einen individuellen Gegenstand als zwei von der Stange, das macht den Charme ihrer Accessoires aus.

Als Minimal Trash bezeichnet Jörn die Musik von John Zorn, bei dem er über Mr. Bungle landet. Für ihn sei das kein Free Jazz. „Ornette Coleman ist Free Jazz“, sagt er. Aber Mr. Bungle hört er nicht mehr. Stattdessen gerne Primal Scream und Hard Bop: Duke Ellington, Charles Mingus, Thelonious Monk. Und Miles Davis? „Mit Miles bin ich durch“, winkt Jörn ab. Er beobachtet, wie Chris, eben zurückgekehrt, Platten sortiert, und zeigt auf eine 10 Inch. „Wir haben früher immer die alten Shellac-Platten geworfen, die flogen gut“, grinst er. „Das würdest du heute aber nicht mehr machen“, sagt Chris gespielt empört. Er schwärmt von verschiedenen Vinyl-Formaten, von 12 Inch angefangen bis 3 Inch, und präsentiert Anschauungsmaterial. „Die Split-Single von Fantômas und Melt-Banana gibt es als 5 Inch“, zeigt er. Die CD sieht noch sonderbarer aus: „Das ist eine eckige Baby-CD, die kann nicht einmal jeder Player abspielen.“ Chris schwärmt von The Locust aus San Diego, „die haben eine quadratische Platte rausgebracht, schwarz-weiß kariert, darauf kannst du Schach spielen.“ Und vier Singles, die man zusammenpuzzeln kann.

Man hört deutlich, dass Jörn aus dem Norden kommt, aus Schleswig-Holstein. Seine Frau ist beruflich von Kiel nach Süddeutschland gezogen und von dort aus wieder weiter in den Norden, eben nach Braunschweig. Und Jörn immer mit. „Ich dachte mir: Was mache ich in Baden-Württemberg? Wirste Erfinder“, erzählt er. Als Produktdesigner befasse er sich mit Handhabungs-Vereinfachung, einige Patente gingen auch schon auf seine Kappe. Von Schleswig-Holstein kann Jörn nur schwärmen, besonders von den Landkommunen, die es nicht nur um Ton Steine Scherben gab und gibt. Er erzählt von der Fuckin’ Kius Band und von zahlreichen Geschichten mit Holgi und Rötger. Wie Holgi mit seinem Porsche immer Rötger dabei beobachtete, wie der an seiner Horex bastelte, und wie er sagte: „Na, bröselst du wieder rum?“, und er erzählt vom legendären Rennen und davon, dass immer noch Leute kommen, die danach fragen.

Allmählich hat Jörn aber Lust auf eine Zigarette und geht raus. Inzwischen scheint längst wieder die Sonne und wärmt die draußen sitzenden Gäste. Bereit für den Sommer.

van Bauseneick
www.krautnick.de

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