Pünktlich zur Frühstückssaison im Café Riptide kam auch die Sonne wieder hervor, brachte Wärme mit sich und veranlasste die Leute dazu, draußen im Achteck der Handelswegpassage zu sitzen. So auch an diesem Donnerstagnachmittag. „So ab ein, zwei Uhr kommt die Sonne in die Passage, es wird ja jetzt auch jeden Tag etwas mehr“, freut sich André, der im Café hinterm Tresen steht. Chris und Marco sind auch da, an ihren üblichen Plätzen: Marco in der Küche und Chris am Computer. Beide kommen ab und zu hervor und begrüßen Gäste und Freunde.
Das Frühstück ist die neueste Einrichtung im Riptide. Montags bis donnerstags hat das Café seit dem 1. April ab 10 Uhr geöffnet, freitags bis sonntags ab 12 Uhr. Die Gäste nehmen das Angebot erfreut an. „Es sind noch Ferien, uns fehlen noch etwas die Schüler, aber ja, die Gäste sitzen draußen und frühstücken, wir hatten schon volle Tische und Stühle, man hört Hmmms, Ooohs und Aaaahs, wenn man vorbeigeht“, berichtet André. Neun verschiedene Frühstücke hat das Riptide im Angebot, darunter auch das augenzwinkernde „Lemmy-Frühstück“ – „Kaffee, Kippe, Whisky“, wie André erklärt. „Das wurde sogar schon zwei-, dreimal bestellt.“
Mit LPs von Able Baker Fox und 108 kommt Björn zum Tresen. „Zahlst du bar oder mit Gutschein?“, fragt ihn André wissend. „Mit Gutschein, bitte“, antwortet Björn. André rechnet zusammen und stellt fest, dass nur noch ein kleiner Betrag übrig ist. „Willst du den Rest für einen Kaffee übrig lassen oder soll ich ihn dir auszahlen?“ Björn überlegt kurz und sagt: „Ich spar’s mit für einen Kaffee.“ André bringt den Betrag auf dem grünen Riptide-Gutschein auf aktuellen Stand und reicht ihn Björn zurück, zusammen mit den beiden LPs. „Die ‚Forever Is Destroyed’ von 108 hab ich mir bewusst ausgesucht, die andere kenne ich nicht“, sagt Björn. Chris und André kleben hin und wieder Rezensionen aus Musikmagazinen auf die jeweiligen Platten in den Fächern, bei Able Baker Fox stammt der Ausriss aus uncle*sallys. „Das liest sich gut und das Cover sieht gut aus“, sagt Björn. Die Band ist ein Nebenprojekt von Nathan Ellis, dem Sänger von The Casket Lottery. „Bei denen ging es mir auch schon so, dass ich die über das Cover entdeckt habe“, erzählt Björn. Vorher in die Platte reingehört hat er nicht: „Die kauf ich mir so, mit Gutschein tut’s nicht so weh.“ André überreicht ihm die Tüte mit den beiden LPs, Björn grüßt und geht.
André hat eine „Braunschweiger Zeitung“ dabei, vom Mittwoch. „Da ist ein Bericht über das Emmapeel-Konzert vom Samstag drin“, sagt André. Der Titel des Artikels lautet „Minimalistische Songs über Roboter und Libellen“. „Soweit ich weiß, ist es das erste Mal, dass die über uns berichten“, sagt André. Da war die „Wolfsburger Allgemeine Zeitung“ schneller, die hatten bereits mehrere Ankündigungen für Veranstaltungen im Riptide veröffentlicht. André freut sich, dass auch die „Braunschweiger Zeitung“ auf das Riptide aufmerksam geworden ist.
„Wie ist denn die ‚Altar’-LP von SunnO))) & Boris?“, fragt Valle. „Die erste Seite ist so zurückhaltend wie SunnO))), die zweite geht nach vorne weg wie Boris“, erklärt André. Valle ist neugierig, hat aber noch mehr Fragen: „Habt ihr was von Primus da?“ André verneint, „aber wir können dir alles bestellen.“ Und Shellac? „Von denen haben wir eine ganze Menge da“, sagt André. Valle ist zufrieden. Bevor er sich jedoch für „Altar“ entscheidet, lässt Valle sich von André zwei CDs von Boris zum Reinhören geben. „Hier ist das Programm wie in meinem Stammladen in Magdeburg“, erzählt Valle erfreut. „Ich hab hier sogar eine Platte von Merzbow gesehen.“ Den krachigen Japaner hat er mal live gesehen, auf einem Festival. „Da haben sie vorher gesagt, Eltern mit Kindern müssen raus, es wird laut und schlimm, und es wurde laut und schlimm.“ Valle schnappt sich die beiden Boris-CDs und hört rein. Nach einer Weile kommt er zurück, entscheidet sich für die „Altar“-LP und fragt André und Chris, der sich gerade auf seinen Feierabnd vorbereitet: „Habt ihr eine Idee, was heute Abend in Braunschweig los ist?“ André überlegt: „Viele gehen in die Silberquelle, das ist ein Pavillon, ein ehemaliger Kiosk, das ist mitten im Goldenen Dreieck, da sind lauter Clubs, in denen die Leute dann hängen bleiben.“ Valle hat aber mehr Lust auf Konzerte. „Da ist heute Abend nichts, nicht mal im Nexus“, sagt André. Und fragt Chris: „Legst du heute nicht auf?“ – „Eigentlich sollte ich heute Abend auflegen, aber das wurde verschoben; ich bin morgen im Lindbergh“, sagt Chris. Im „Subway“ steht für Braunschweig nur ein klassisches Konzert. Valle grinst: „Das ist eher nicht so das, was ich suche.“
Stefan vom Online-Sportportal „Gandula“, das sein Büro im Handelsweg gegenüber vom Riptide hat, stellt eine leere Astra-Flasche auf den Tresen zurück. „Ich muss los, heute ist Donnerstag, da ist wieder Werbeagenturabend“, sagt er. Gandula berichtet über sämtliche Sportsparten in Braunschweig und lebt natürlich auch davon, dass ihm die Vereine ihre Informationen zusenden. „Rot-Weiß ist sehr aktiv, Udo Sommerfeld von den Linken ist da Vorsitzender, die schicken uns alles, auch über die Besucherzahlen vom Osterfeuer, und genau das wollen wir auch“, berichtet Stefan. „Wir wollen so viele Beiträge haben, dass sich die Startseite vier- bis fünfmal am Tag ändert, und da haben wir noch Luft“, sagt er. Sein Werbeagenturstammtisch, auf den er sich gerade freut, findet wöchentlich statt, „das ist aber keine Pflicht, manchmal sitzt man da auch nur zu zweit“, sagt er. „Jetzt ist das Wetter gut, da kommen die Mädels auch mit raus, wir setzen uns dann auf die Terrasse.“ Schöne Aussichten also. „So, ihr Lieben“, winkt er in Richtung Tresen, „ich muss los!“, und geht.
„Willste’n Wolters?“, fragt André den in den Platten stöbernden Detlef. Der bejaht, und André sagt: „Ist wichtig, Wolters hatten wir vorher nicht.“ Detlef grinst und erklärt: „Ich bin öfter hier, hab immer nach Wolters gefragt, aber sie hatten nur Astra – deshalb hat er mich gleich gefragt, ob ich ein Wolters will.“ Detlef bevorzugt Vinyl, hat auch einige CDs und bezeichnet sich nicht als Sammler. „Ich muss nicht alles von einer Band haben, wenn ich einiges gut finde“, sagt er. „Vinyl wird nie sterben“, sagt er überzeugt. „Das hab ich auch damals schon gesagt, als man Vinyl totgesagt hat.“ Er freut sich darüber, dass derzeit viele junge Leute wieder nach Vinyl fragen. „Das ist ein viel bewussteres Hören“, findet er. Und erzählt: „Ein Freund hat mir eine Kiste mit 100 LPs geschenkt – der hat wohl beschlossen, keine Musik mehr zu hören.“ Für ihn sei es spannend, in diesen Platten herumzustöbern. Seine eigenen würde er aber auch dann nicht ausmisten, wenn er eine Platte nicht mehr hört. Zum Beispiel mit „Gone To Earth“ von Barclay James Harvest, das ist das Album mit „Hymn“. „Ich verbinde etwas ganz persönliches damit, die kann ich nicht weggeben“, sagt er. Auch, wenn er sie heute langweilig findet.
Spricht man den Bandnamen „of Montreal“ französisch oder englisch aus? „Das ist eine gute Frage“, lacht Johannes. Er hat sich deren neue CD „Skeletal Lamping“ zum Reinhören ausgesucht. Darauf gestoßen ist er über Last.fm, „da wurde ich damit gescrobbelt“, sagt er. Und erklärt: „Bei Last.fm wird die eigene gehörte Musik aufgezeichnet, es wird registriert, dass man den Titel, den man gerade hört, im Repertoire hat, das ergibt eine Zusammenschau des eigenen Musikgeschmacks.“ Über Algorithmen werden nun Leute errechnet, die einem ähneln, die sogenannten Nachbarn, und über deren Geschmack bekommt man Empfehlungen, was einem auch noch gefallen könnte – wie bei ihm und of Montreal. „Das ist spannend, aber es bedeutet auch, dass man ein Stück seiner Seele preis gibt.“ Johannes verschwindet in Richtung CD-Player.
Mit einigen LPs und einer Single kommt Martin an den Tresen. „Darf’s noch etwas sein?“, fragt André. „Ja“, sagt Martin, „ich hätte gerne noch – drei, vier, fünf…“ André ergänzt: „Fünf Hüllen!“ – „Genau“, sagt Martin. Er seufzt. „Es gibt schon so Süchte!“ Eine der LPs, die er sich gekauft hat, ist inzwischen selten geworden, die „1968“ von Rainald Grebe & die Kapelle der Versöhnung. „Die habe ich nur auf CD, aber ich habe keinen Player in der Wohnung und kann die nur im Auto hören“, erzählt Martin. „Auf Konzerten haben sie gesagt, die gibt’s auf Vinyl nicht mehr, nur noch Restbestände bei Versänden“, sagt er. Umso mehr freue er sich, die im Riptide gefunden zu haben.
Es ist allmählich Abend geworden. Draußen treffen sich Ale und Matthias an einem der Tische. Matthias sieht das Riptide zum ersten Mal. „Und ich bin viel zu selten hier“, meint Ale. „Eigentlich sollte ich jeden Abend herkommen.“ Beide sind in der Redaktion des Online-Portals „Unser-Braunschweig.de“, das Nachrichten und Informationen sammelt und veröffentlicht, die nicht in der Presse zu finden sind. Ale bestellt bei André einen Milchkaffee, Matthias ein Astra. „Rotlicht oder Urtyp?“, fragt André. „Was ist da der Unterschied?“, fragt Matthias. Etwas mehr als 1,5%. „Dann nehme ich lieber das Urtyp“, mein Matthias und erzählt: „Im Intershop in der DDR hatten sie 100%igen Wodka aus Russland – da kann man alles draufschreiben, Wodka, Bier, Wein, egal, 100%, das ist purer Alkohol!“ Ale hat die Erklärung: „Das ist zu 100 Prozent Wodka, ohne O-Saft, keine Alcopos, so meinten die das!“ Alcopos mit all dem Zucker machen noch schneller betrunken als purer Wodka. „Deshalb bekomme ich auch immer Kopfschmerzen, wenn ich Wein trinke und Schokolade esse“, meint Matthias. „Aber ich habe meine Mischung gefunden: Champagner und Herrenschokolade.“ Mit 98%igem Schokoladenanteil. Ale: „Ja, da ist wieder zu 98% Schokolade drin, der Rest…“ Sie lachen.
Am vollen Nachbartisch sitzen unter anderem Mitglieder der „Bumsdorfer Gerüchteküche, Keyboarder Ben und die Köche Roland und Axel. Bei der Gerüchteküche, die am 14. Mai in der KaufBar stattfindet, wird unter anderem Marc D. dabei sein, der Sänger der Wolfsburger Punkband Die Weltenretter. Die spielen am Samstag in Wolfsburg im Delphin-Kino, zusammen mit John Doe und den Runaway Boys. „Und morgen sind sie im Heidberg“, sagt Axel. Dort teilen sie die KJZ-Bühne mit den Tanzenden Kadavern aus Braunschweig und Nullbock aus Salzgitter. „Die Weltenretter sind in Ordnung“, sagt Roland. „Ich freue mich aber auch auf das Trottelkacker-Tribute.“ Das steigt am 10. Oktober im Sauna-Klub in Wolfsburg. Roland will seine Band Lump unbedingt dabei haben. „Mal sehen, ob wir das schaffen, wir orientieren uns gerade etwas um“, sagt er. Sie verabschieden sich.
Hayo und Dennis besuchen André bei der Arbeit. „Wir wollen ein paar Bierchen trinken und den Abend verbringen“, sagt Hayo. Er ist Singer-Songwriter und kombiniert Soul mit Hip-Hop, nachzuhören auf seiner Myspace-Seite. „Die habe ich aber noch nicht so lange, erst seit September, und ich komme sehr selten ins Netz“, sagt er. Gemeinsam mit André feiern er und Dennis jetzt den Feierabend, draußen, in der lauen Frühlingsnacht, im Achteck des Handelswegs.
Matze van Bauseneick
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