#34 Tief im Westen

Samstag, 14. August

Die dunklen Wolken tun uns heute den großen Gefallen, um den Ort des Geschehens, also Braunschweig, herumzuziehen. Das ist gut für alles, was an diesem Wochenende in Braunschweig geschieht, und es geschieht eine Menge: Die BBG-Open-Air-Nights am Dowesee, Das 12. Lammer Open Air, die Aktion „Okerwasser”, das LOT-Hoffest, Das Verlagsfest von Andreas Reiffer, Lord Schadts Geburtstag auf der Oker, das zweite Kulturschaufenster 38118 auf dem Frankfurter Platz, das Summer Special Barbecue im Café Riptide und das DFB-Pokalspiel der Eintracht gegen Greuther Fürth. Irgendwo ist auch noch ein Hoffest, berichteten mir Bekannte, auf einem der Braunschweig umgebenden Dörfer, aber man kann sich ja nicht alles so genau merken. Und erstrecht kann man nicht alles wahrnehmen, was so in und um Braunschweig geschieht. Zumindest ich kann das nicht, vielleicht ist es ja doch jemandem gelungen. Auf jeden Fall will ich immerhin zwei der Stationen ansteuern.

Die erste ist der Frankfurter Platz. Letztes Jahr gab’s da erstmals das Kulturschaufenster, bei dem auch die Riptide-Gäste Müller & die Platemeiercombo auftraten. Riptide-Gäste stehen auch dieses Mal auf dem Programm: Play-It-Again-Ben Büttner, der Pianist der Bumsdorfer Auslese, spielt Schlagzeug bei der Band Tatsache, und Toddn liest abends im Gambit aus der Historie des Viertels: von Arbeitern nämlich, die dort gewohnt haben. „Live im Westen“ heißt das Programm, vom dem ich immerhin Le’Band, Tatsache und Culture Pub live mitbekomme. Die Mischung im Publikum gefällt mir: Punks, Prolls – und alles dazwischen. Ein paar minderjährige Halbstarke posieren vor den Irishfolkern Culture Pub und überraschen mich damit, dass sie plötzlich mit Tapdance beginnen. Noch überraschender finde ich, dass sie den mit Streetdance kombinieren, indem sie aus dem Nichts einen Stuhl herbeizaubern, über dessen Lehne hinweglaufen und anschließend auf dem Boden vor den pogenden Punks Handstandüberschläge machen. Außerdem treffe ich viele Bekannte und Freunde, deren Bekannte sich für mich überraschend ebenfalls allesamt untereinander kennen. Dieses Braunschweig ist eben doch eine Erbse.

Das Barbecue im Riptide verpasse ich leider erneut, wie schon im letzten Jahr. Dafür bin ich einfach zu spät aus dem Haus gekommen. Auch Toddns Lesung verpasse ich leider, weil ich mich in der einsetzenden Dunkelheit dann doch auf dem Weg in den Handelsweg mache. Per SMS aus dem Stadion erfahre ich, dass es gegen Fürth noch 0:0 steht. Wo bleibt der Zauber der ersten Spieltage dieser Saison? In Richtung Innenstadt komme ich noch an Christiane Stegats „Spawn“ vorbei, dem illuminierten Froschlaich am Neustadtmühlengraben im Prinzenweg. Der dritte Lichtparcours macht Laune, besonders die Exponatdichte im Bürgerpark. An Wochenenden herrscht dort nachts ein herrlicher Kunsttourismus. Und die „Appearing Rooms“ von Jeppe Hein machen rund um die Uhr und allen Altersstufen Spaß. Vornehmlich kleinen Kindern, die wild tobend durch die Fontänenräume rennen. Da wird mal wieder ein nächtlicher Okerrundgang fällig, wie schon vor fünf und vor zehn Jahren. Mit Verweilen, Fotografieren und mit Leuten ins Gespräch kommen dauert das ungefähr vier äußerst angenehme Stunden.

Von der Breiten Straße biege ich in den Handelsweg ein und höre, dass dort gute Laune herrscht. Alle Tische im Achteck sind belegt, Kerzen illuminieren den Hof anheimelnd. Ganz anders sieht es im Café aus. Alle Tische und Stühle sind weg, lediglich das Sofa steht unterhalb der völlig leeren Wand neben einer Grünpflanze und einer Lampe. Dies soll heute Nacht die Tanzfläche sein. Auf der gegenüberliegenden Seite steht der DJ des Abends, Monsieur LeSupersexuel, und konzentriert sich auf das, was ihm seine Kopfhörer von den rotierenden Plattentellern übermitteln. Hinter der Theke begrüßt mich Sina, André kommt aus der Küche. Dort werkelt Lara an Kundenbestellungen herum. Alle drei tragen vorn DIN-A6-große Aufkleber. Die haben oben und unten einen goldenen Rand, wie im Breitwandfilmformat, und zeigen dazwischen getaggt den Namen des jeweiligen Trägers. „Das war Leif“, sagt André. Live? Bei einem Konzert? Oder was? „Nein, Leif, ein Stammgast.“ Ach so! Aber ich hab gleich einen neuen Namen für die meterlange Liste kurioser Namen: Leif Gig.

Ein Live-DJ-Set bereitet Monsieur LeSupersexuel derweil vor. Er heißt eigentlich Helge und verrät, dass er ein Schwager vom Riptide-Lesereihenveranstalter Frank Schäfer ist. Helges 60’s Beat Partys erfreuen sich im Riptide einiger Beliebtheit, auch wenn Helge ein bisschen beklagt, dass es für reine Soulmusikpartys in Braunschweig keine so richtige Szene gibt. Er schwärmt von Hamburg: „Da gab’s mal einen Club über dem Thalia-Theater, das Nachtasyl, das lag im fünften oder sechsten Stock und man musste zu Fuß die Treppen rauf.“ Dort seien Deko, Kleidung und Musik stilecht wie in den 60ern gewesen. Helge strahlt bei der Erinnerung daran. „Ein Kumpel hat damals in Hamburg gewohnt, einmal im Monat ins Nachtasyl war Pflicht“, erzählt er. Hier in Braunschweig beschallt er ansonsten bisweilen die Haifischbar mit amerikanischem Soul, Northern Soul, Beat und Garage aus den 60ern. Den Plan hat er sich für heute auch vorgenommen – „aber ich habe keine konkrete Playlist“, sagt er. Ob das Stück, das zurzeit auf dem Turntable turnt, auch das Eröffnungsstück ist, weiß er noch nicht, da will er sich vom Moment leiten lassen. Normalerweise habe er im Riptide außerdem immer einen Beamer dabei, der Fotos aus den 60ern an die Wände wirft, aber heute aus organisatorischen Gründen nicht. Am Nachmittag schon unterhielt Helge die Barbecue-Gäste, mit modernem und zeitgenössischem Indie-Sound. „Gegessen habe ich leider nichts, aber es hat gut gerochen“, bedauert Helge.

An der Theke bestellt sich Leif ein Astra. „Ich habe heute früh schon gearbeitet“, erzählt er. „Auf dem Wochenmarkt am Altstadtmarkt, am Bioland-Stand vom Lindenhof.“ Oh, dann müsste ich ihn ja gesehen haben, schließlich gehe ich da auch allsamstäglich einkaufen. „Ich mache das seit zwei Jahren“, sagt Leif. Dann erstrecht, sage ich. „Wir müssen uns mal treffen“, sagt Leif und hebt die Hand zum Highfive. Aber gerne! Ich schlage ein und spreche ihn auf die Namensschilder an. „Willst auch eins haben?“, fragt er. Au ja. Leif holt einen weiteren Aufkleber aus seiner Tasche und setzt den Edding an. Er schreibt „MatZe“, setzt vorn und hinten je ein Sternchen dazu und ein „Yo!“ darüber. Dann zieht er die Folie ab, setzt den Aufkleber auf mein T-Shirt, streicht darüber, zögert ein bisschen, sagt dann entschuldigend: „Das gehört dazu“ und klopft mir einmal auf die Brust. „Danke, darauf hab ich schon gewartet“, sage ich. Leif macht viel in Street Art und Stencils, erzählt er und geht dann mit Getränk und Begleitern zurück ins Achteck.

Die Namensschildern fallen vielen Gästen auf, die sich an der Theke Getränke bestellen. „Was steht da drauf?“, fragt Nora Sina stirnrunzelnd. „Sina“, sagt Sina. „Hätte auch Linda heißen können“, meint Nora. „Nenn mich heute Klaus.“ Christian steht neben ihr und guckt mit verkniffenem Blick auf mein Schild. „Matze…?“, rät er. Stimmt. „So unlesbar ist es also nicht“, sage ich. Nora schüttelt den Kopf: „Er ist Künstler, er ist tag-geprüft.“ Aus der Küche tritt André hinter die Theke. „André!“, ruft Nora. „Ich bin nur deinetwegen hier.“ Sie erkundigt sich auch nach Chris, aber der hat schon Feierabend.

Die nächste Bestellung kommt vom DJ: „Hast du mal eine Gabel und Gaffa-Tape?“, fragt Helge Lara. Habe ich das gerade richtig gehört? Eine Gabel und Gaffa-Tape? Das ist wohl die kurioseste Bestellung, die ich im Riptide je gehört habe. „Du magst die Olsenbande?“, mutmaße ich. „Das auch, ja“, entgegnet er. „Dann hättest du noch einen stinkenden Käse bestellen müssen“, sage ich. „Das wollte ich nur leise sagen“, grinst Helge, „aber wofür ich das brauche, das bleibt mein Geheimnis.“ Er verrät es doch, als Lara ihm zumindest die Gabel überreicht und ihn bittet, sich wegen des Gaffa-Tapes an André zu wenden. Helge legt den Griff der Gabel mit den Zinken auf seinen Bauch gerichtet auf den Tresen und deutet mit einer Handbewegung an, wie er sie quer mit Gaffa-Tape festklebt. „Das wird mein Kopfhörer-Halter“, sagt er. Der Schleier ist gelüftet, ich bin baff. „Schön mit Rundung“, deutet Helge auf die Zinken, „da kann man den Kopfhörer reinhängen.“ Er nimmt die Gabel von der Theke und grübelt: „Was hat sie gesagt, André fragen wegen Gaffa?“ Hat sie.

Zwei Sekt bestellt Iris und deutet auf den untersten Boden der Vitrine: „Was ist das denn Putziges?“ Auf einem Silbertablett stehen gerade noch zwei winzige Alu-Förmchen mit kraterartigem Gebackenem darin. „Keine Ahnung, irgendwas Vanilliges“, sagt Lara. „Möchtest du eins?“ – „Nä“, sagt Iris und geht in Abwehrhaltung einen Schritt zurück. Lara ist verwirrt: „Eben waren sie noch putzig?“ – „Daran ändert sich auch nichts“, versichert Iris. „Aber essen? Nee.“ Ohne das zu begründen, aber mit einem breiten Grinsen nimmt sie ihre Sektgläser und geht ins Achteck. Ich finde, dass die Vanilligen gut aussehen. Wenn nicht gerade so viel los wär, würd ich eines bestellen. Zum Probieren.

Aber die Schlange der ihrerseits Bestellenden reißt gerade gar nicht ab, zum Glück. „Da ist jeweils 50 Cent Pfand drauf“, sagen Lara und Sina bei jedem Getränk, das sie an die Gäste ausgeben. Das wird ab sofort zu ihrem Mantra. Astra geht heute am besten, in Urtyp ebenso wie in Rotlicht. Die beiden mischen Weißweinschorlen und Mojitos. Sie greifen im Kühlschrank nach Wolters, Bionade, Schöffehofer Grapefruit, Fritz-Kola und Beck’s. Jeder geöffnete Kronkorken landet klackend in einem grünen Becher, um den ganz viele rote Gummibänder gewickelt sind. Sie drücken bei der Kaffeemaschine auf den Knopf für Cappuccino. Sogar der Bitte nach einer Zigarette kommt Sina nach. Lara ist müde, ihre Augen sind nur halb geöffnet. „Was ist los?“, frage ich. „Wenig geschlafen“, kommt die wenig überraschende Antwort. „Was war’s“, frage ich nach und mutmaße: „Der Mond?“ Der nimmt gerade zu und ist wegen der Wolken ohnehin nicht zu sehen, ist also zurzeit das unverfänglichste Argument für Müdigkeit. Sie nickt: „Genau, der Mond.“ Also nicht. „Ist schlimm grad, nicht?“, spinne ich weiter. „Ja“, sagt Lara. „Erst der Mond, dann die Sonne. Die wechseln sich ab. Du kommst da nicht raus. Das ist Scheiße.“

Rein kommt dafür Marc, mit einer großen Papprolle in der Hand. Die reicht er Sina über den Tresen und bittet sie, das Plakat aufzuhängen. André kommt aus der Küche und wird sofort neugierig. Er lässt sich vom Sina das Plakat geben, sieht es sich an und verspricht, es noch am Abend aufzuhängen. Worum geht’s? „Rock’n’Roll Wrestling Bash“, klärt Marc mich auf. Was? „Am 4. September in der Skateboardhalle Walhalla, ein Rock’n’Roll-Konzert mit Wrestling-Show“, erklärt er. GTWA nennt sich der Veranstalter, „das steht für Galactic Trash Wrestling Alliance“, sagt Marc. Und fügt berechtigt hinzu: „Das wird die skurrilste Show, die Braunschweig je gesehen hat, das schwör ich!“ Marc ist erster Vorsitzender von Walhalla und veranstaltet das Spektakel zusammen mit Carlos, dem Chef der GTWA. „Ein Mexikaner“, erklärt Marc. „Es wird einiges an Skurrilitäten zu sehen geben, zum Beispiel Fights wie Betty Poo gegen Boris The Butcher, Blutgesplatter und Pyrotechnik, mit Musik abgestimmt.“ Ui. Marc führt weiter aus: „Die Band spielt während des Wrestlings, die Moves sind auf die Musik abgestimmt.“ Für mehr Informationen verweist er auf die Internetseite und das mitgebrachte Plakat, „André wollte das gleich aufhängen.“ Jetzt zieht es Marc aber nach draußen zu seinen Getränken.

Draußen ist es rappelvoll. Wo hat man schon mal Gäste im Außenbereich ihres Lieblingscafés bereitwillig stehen sehen? Die Soul-Party hat sich eben einfach nach draußen verlagert, es sieht dort so aus, wie es drinnen aussehen würde, wäre es draußen kalt. Drinnen rotiert derweil der Ventilator am Eingang, Helge hat die ersten Tunes eingespielt, ein Gast stützt sich mit Getränk in der Hand auf die Holzabdeckungen auf den LP-Regalen. Am Tresen wimmelt es vor trinkfreudigen Gästen. Das Riptide ist längst bereit, zum Tanz zu bitten. In zwei Wochen bittet es außerdem zum Metal: Im Rahmen der Braunschweiger Kulturnacht gibt’s „Read ’em All“ mit Till Burgwächter, Axel Klingenberg und Helges Schwager. Zurzeit geht gottlob eine Menge in Braunschweig. Trotzdem verliert die Eintracht in dieser Nacht, 1:2 in der Verlängerung. Da mag man mit den Nürnbergern einstimmen, die da sagen: „Lieber Fünfter als Fürther.“

Matze Bosenick
www.krautnick.de

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