Freitag, 13. Januar
Das wird ein Fest! Ein Familienfest, um genau zu sein. Müller & die Platemeiercombo haben eingeladen, und alle, die sich der großen Familie zugehörig fühlen, kommen ins Café Riptide. Bestimmt. Es war immer so, wenn das Quartett irgendwo aufgespielt hat. Freudige Erwartung ist daher im Achteck zwischen Café und Riplounge zu spüren, auch bei den Musikern Heyl und Meier, die dort mit Freunden stehen, rauchen und darauf warten, dass das Vorprogramm losgeht. Es gibt heute nämlich eins.
An der Kasse überrascht ein neues Gesicht: Alex nimmt den Schein entgegen und drückt mir als Ausgleich den Riptide-Stempel auf das Handgelenk. Alex macht seit Montag ein dreiwöchiges Schulpraktikum im Riptide. „Das ist das erste Konzert für mich“, sagt er. „Es ist mal was anderes, zu sehen, dass das Riptide nicht nur ein Café ist.“ Hinter der Theke stehen André und Roberto, in der Küche ist Kati zugange. Roberto ist auch neu dabei, aber nicht so neu wie Alex: Bei ihm habe ich mir vor einigen Wochen die CD von Müller & die Platemeiercombo gekauft, „…von Müßiggängern und anderen Taugenichtsen“, die zu bewerben der Anlass für das Konzert heute Abend ist. Da hat er mir schon erzählt, dass er ein brasilianischer Wolfsburger ist. Oder umgekehrt. Als ich mein Wolters bei ihm bezahle, sieht er die Kronenmünzen, die ich mitsamt meinem sonstigen Kleingeld aus der Tasche krame: „Dänisch?“ Richtig, die habe ich immer dabei, als Reiseerinnerung. „Ich war über Silvester in Dänemark“, erzählt Roberto. „In Hvide Sande, am Ringkøbing Fjord, da an dem Landzipfel.“ Wo die Deutschen den Strand mit Betonbunkern vollgemüllt haben. Die hat Roberto nicht gesehen, aber dafür eine Militärbasis bei Esbjerg. Zu Silvester in Dänemark war ich auch einmal, vor genau zehn Jahren, in Kopenhagen. Ich habe die Euro-Einführung in einem Nicht-Euro-Land verbracht und meine ersten Euro-Scheine auf dem Rückweg in Lüneburg am Bankautomaten bekommen. Und sie gleich vor Ort – also in Lüneburg, nicht bei der Bank – gegen schmackhafte Speisen eingetauscht. „Das merkt man sich“, stellt Roberto fest. „Ich weiß nicht mehr, wann ich meine ersten Euro-Münzen bekommen habe – ich erinnere mich nur noch an das Starter-Kit.“
Das Riptide füllt sich. Mit mir an der Theke steht Fossi. „Kommste morgen?“, fragt er. Aber sicher: Der Silver Club trifft sich einfach nur so, als Zusammenkunft der Helfer und Teilnehmer, ohne die nächste Veranstaltung zu planen. Auf die Runde freue ich mich schon, seit wir sie vor einem Monat bei den Aufräumarbeiten im Fire-Abend verabredet haben.
Zu den das Riptide Füllenden gehört auch Müller, der sein Vorprogramm empfängt und begrüßt: Kai-Olaf Stehrenberg aus Peine. Wie kommt Kai-Olaf ins Vorprogramm von Müller? „Er hat mich gefragt, ob ich’s mache“, sagt Kai-Olaf. Müller erinnert sich, Kai-Olaf erstmals auf dem Magnifest gesehen zu haben. Und auf einem Poetry Slam, weil dessen Organisator Pott Müller von Kai-Olaf vorgeschwärmt hat. „Du benutztest mein Plek“, sagt Müller. Kai-Olaf bestätigt und kramt in seinem Gedächtnis: „Und du bist auch der ominöse Friedhelm?“ Das wiederum bestätigt Müller, der als Friedhelm Nesselhag unter anderem das kafkaeske Buch „Leben und Werk in eigenen Worten“ veröffentlicht hat. Bevor es mit der Livemusik losgeht, hat Müller noch eine Menge zu tun: „Was wollt ich jetzt…?“
Eine gute Gelegenheit für Fossi und mich, abgestempelt das Achteck aufzusuchen. Das wird stimmungsvoll beleuchtet von diversen Ölfackeln. Auch die knallrote Vespa, die unter dem Fenster mit den Plattenspielern lehnt, passt ins Ambiente. Die Temperaturen sind gar nicht winterlich, es regnet nur gelegentliche dicke Tropfen, da steht man gerne draußen. Müller-Bassist Meier hat unterdessen andere Gesellschaft bekommen und wird jetzt umringt von Roland Kremer und Frank Schäfer. „Kai-Olaf ist immer ein Erlebnis“, sagt Roland gerade. Das macht neugierig auf den Peiner. „Kommste morgen?“, fragt Fossi ins Rund. Alle drei waren bereits an Veranstaltungen des Silver Club beteiligt und sind deshalb automatisch miteingeladen. Doch Roland ist ausgebucht: „Sag mal schöne Grüße, ich kann nicht.“ Machen wir. Fossi weiß: „Schepper kommt auch, ich war beim Bass-Stammtisch, da hab ich ihn extra eingeladen.“ Freitags veranstaltet Schepper immer den Stammtisch im Riptide.
Die anderen gehen ihren trockenen Kehlen nach, Fossi und ich unterhalten uns draußen. Fossi raucht eine Selbstgedrehte. Aus dem Handelsweg tritt Cora Coriander energischen Schrittes zu uns ins Achteck. Im Comic sähe man jetzt eine dunkle Wolke über ihrem Kopf, die Blitze in alle Richtungen entlädt. Cora bleibt vor uns stehen und fischt eine frittierte Kartoffelstange aus der offenen Tüte einer Schnellimbisskette, die sie in der anderen Hand hält. Sie ist wütend auf ihr unzuverlässiges Fahrrad: „Es ist kaputt.“ Zur Strafe hat sie es vor der Frittenausgabe stehen gelassen und mit einigermaßen als solcher anerkennbarer Nahrung den Rest des Weges zu Fuß zurückgelegt. „Pommes beruhigen“, weiß Fossi mitfühlend. Die hat Cora mittlerweile aufgegessen: „Jetzt brauche ich noch ’ne Zigarette.“ Nicht von mir, ich rauche nicht. „Kannst du drehen oder soll ich…?“, fragt Fossi und zückt seinen Tabak. „Ich kann drehen, danke“, sagt Cora. Sie entrollt die Tabakpackung, Fossi warnt sie rechtzeitig: Sie greift nach dem miteingerollten Feuerzeug. Fossi entschuldigt seine Frage: „Drehen können ja nicht viele.“ Cora dreht, zündet an und nimmt einen Zug. „Sehr schön, jetzt ist alles gut“, sagt sie.
Da tritt Schepper zu uns. „Ich war grad in ’ner Kunstausstellung“, sagt er und schaltet das Rücklicht seines Fahrrads ein und aus, bevor er es in seiner Manteltasche verschwinden lässt. Stimmt, hat er erzählt, er wollte in die Galerie auf Zeit. Schepper blickt durchs Riptide-Fenster und winkt Fritz und Robert zu. Die Runde im Achteck wächst: Krüger kommt mit Anhang und im The-Cure-T-Shirt dazu. Auch er winkt den Leuten am Fenster zu. Wie lange haben wir uns nicht gesehen? War es die Grass-Harp-Silvesterfeier im Sauna-Klub in Wolfsburg? War es das gemeinsame Konzert von Krüger und Müller in der Garage in Peine am Tag der VfL-Meisterfeier? „Es war beim Trottelkacker-Tribute“, weiß Krüger. Richtig! Was für ein großartiger Abend das war, Oktober 2009, Kulturzentrum Hallenbad in Wolfsburg, 15 Bands und Musiker spielen Lieder der Trottelkacker nach, dem Trio, dem Krüger und Müller einst angehörten. Für drei Lieder kamen bei dem Festival auch Die Trottelkacker auf die Bühne, ein letztes Mal vermutlich. Fünf Stunden Programm – und Hunderte von Enddreißigern und Mittvierzigern waren glücklich. Cora schwärmt besonders von der „Iguanodon“-Version, die Tom Stach und Björn, der Hustinettenbär, intonierten. Ganz im Sinne seiner alten Band Murder At The Registry machte Tom mit einer Art Dr. Avalanche aus dem Trottelkacker-Stück einen Batcave-Knaller im Stile von Alien Sex Fiend oder den Sisters Of Mercy. Tom hat übrigens fürs neue Album Fotos von Müller & der ganzen Platemeiercombo gemacht, so schließen sich Kreise. Von Krüger habe ich musikalisch auch nichts mehr gehört, seit Myspace tot ist. „Du hast auch nichts verpasst, ich habe nichts gemacht“, sagt Krüger. Das ist gut und schlecht gleichermaßen. „Aber das Nächste wirst du nicht verpassen, dafür werde ich sorgen“, kündigt Krüger an. Da bin ich gespannt: Seit dem Album „Unbemerkt verschwinden“ und dem Überraschungs-Hit „Gütersloh“ war bei ihm musikalische Stille, mich dürstet nach Neuem.
Der eben noch nur vermittels Winkens an den Kreis angeschlossene Robert tritt nun in den Kreis. Robert ist Eigner des Labels Moonbean Records, das er hauptsächlich für die Veröffentlichung der Alben von Grass Harp – eine weitere Band, in der Müller und Krüger mitspielen, außerdem Müllers Schlagzeuger Plate – gegründet hat. Er ist vor einigen Jahren nach Berlin gezogen: „Das ist das erste Mal, dass ich im Riptide bin.“ Es verschlage ihn nur noch selten in die alte Heimat, doch mit Blick auf das, was er vom Café bislang gesehen hat, sagt er: „Das ist das Beste, was Braunschweig passieren konnte.“ Mir fallen dazu noch das Nexus, das Tegtmeyer, der Kingking Shop und die Silberquelle ein. In der Silberquelle hat Robert seinen Abschied aus der Stadt gefeiert, die kennt er noch. Und fragt: „Wo hätte Müller gespielt, wenn es das Riptide nicht gäbe?“ Ich nenne die KaufBar, in der auch viele der heute anwesenden Gäste auftreten, zum Beispiel Schepper, der sich eben zu uns gesellt, der moderiert in der KaufBar die Eiko-Show. „Was?“, fragt Schepper, und Robert sagt: „Du wirst grad gepriesen.“ Schepper erzählt Robert von einer DVD namens „The Trip“, die er sich gekauft hat. Cineast Robert ist sofort hellhörig: „Ist das der, den Jack Nicholson geschrieben hat?“ Schepper bestätigt und beide schwärmen sofort los. „Eine gute Investition“, findet Robert.
Drinnen hat Kai-Olaf längst angefangen zu spielen. Doch immer noch feiern die ganzen Familienmitglieder im Achteck Wiedersehen, tauschen Geschichten aus und frischen sich gegenseitig ihre aktuellen Situationen auf. Auch die Rip-Lounge ist voll, in einem Winkel und in einer großen Gruppe sitzt Jörg, der auch schon beim Silver Club mitgemacht hat. Schepper und Fossi begrüßen die Runde, Fossi dreht sich eine Zigarette. Auf deren Länge erinnern wir uns an den New-Wave-Silver-Club im Fire-Abend. 500 glückliche Gäste in einem Punk-Schuppen. Und, was uns alle erstaunt hat: Wir haben kistenweise Mandarinen auf die Tische verteilt. Beim Aufräumen stellten wir fest, dass nur noch ein halbes Dutzend der Zitrusfrüchte übrig war – und fanden fast alle Mandarinenschalen in Mülleimern wieder, nicht im Veranstaltungsraum verstreut. Respekt vor den Gästen.
Nach der Zigarette wollen wir eigentlich ins Café zur Livemusik, bleiben aber wiederum im Achteck bei anderen Familienmitgliedern hängen. Zum Beispiel Elmar und Julia, oder Detlef, der Fossis Frage, ob er morgen dabei ist, mit „Ja“ beantwortet. Jetzt ist es Fossi, der lobt: „Schepper ist Braunschweigs bester Bassist.“ Schepper will Fossi bremsen, hat aber keine Chance: „Schepper gibt 45 Minuten Bassunterricht für 70 Euro.“ Schepper wehrt ab: „Für das Geld mache ich noch ’ne Pizza.“ Robert stellt sich das vor: „Und mit dem Bass schiebst du die Pizza in den Ofen.“ Fossi lacht und zitiert Hans Rosenthal: „Sie sind der Meinung, das war spitze!“ Der Name des Urhebers dieses Zitates fällt ihm jedoch nicht mehr ein, Schepper hilft nach: „Das war Karl May.“ Stimmt nicht, wende ich ein, der hat das kommunistische Manifest geschrieben. Schepper ist erstaunt: „Karl Dall?“ Robert lacht: „Ja, und die Welt blieb kurz stehen.“
Jetzt gehen wir aber rein und finden im Café kaum Platz. Schepper kündigt noch an, dss er nicht bis zum Schluss bleiben wird: „Frank Schäfer hat mir erzählt, dass Kui heute noch spielt, da muss ich hin.“ Genau, mit Carbid!, hat er mir gemailt. Zwischen Theke und Bühne ist noch etwas Platz. In der Menge treffe ich Johanna, auch sie ist morgen dabei. „Hallo, ich bin Müller“, singt Müller. Der behutete Meier spielt im Plattenspielerwinkel Ukulele, Plate schlägt am LP-Regal Zeug und Heyl in weißem Hemd und mit Krawatte rasselt an der Theke mit einem Percussion-Ei. Der Song ist neu und natürlich nicht auf dem Album enthalten, wie sollte es auch anders sein. Das war beim Vorgängeralbum „Sexy Sockenschuss“ auch schon so, dass Müller & die Platemeiercombo Lieder gespielt haben, die erst und gottlob überhaupt jetzt auf „…von Müßiggängern und anderen Taugenichtsen“ enthalten sind. „Der Privatier“ zum Beispiel, gleich das nächste Lied, das die Band spielt, nachdem Meier seinen Bass und Müller und Heyl ihre Gitarren umgeschnallt haben. Orangegelbes Licht untermalt die Wärme, die auch die Musik ausstrahlt. Da können die vier in ihren Swing-, Chacha- und Bossanova-Stücken hundertmal zwischendurch rocken, ihre Arrangements sind so feinfühlig, dass sie eine positive, weiche, wundervolle Wohlfühlatmosphäre schaffen. Müllers Texte zeigen seine nachdenkliche, analytische und kritische Haltung, in der ich mich oft deckungsgleich wiederfinde. „Das Streben nach Glück und die Vermeidung von Leid“ folgt, sehr zynisch und schwarzhumorig. „Versteht man Müller?“, fragt Plate danach von seinem winzigen Schlagzeugschemel aus. „Keiner versteht mich“, sagt Müller im Jammerton. „Akustisch, meine ich“, rückt Plate gerade. Müller ist zufrieden: „Das soll mir schon reichen.“ Es folgt „Viva Selbstbetrug“, Meier lässt sich gewohnt cool und breit grinsend in die Grooves hängen, Plate trommelt schier apokalyptische Rhythmen, an denen jeder Mitwipper verzweifelt, und Heyl untermalt die Stücke mit Gitarre, den absonderlichsten Percussion-Instrumenten und der scheinbaren Steifheit eines Bankangestellten. Sofern es Platz hat, nickt das Publikum mit; es grinst auf jeden Fall.
Kai-Olaf packt seine Sachen zusammen und macht sich zum Aufbruch bereit. „Einen Applaus für Kai-Olaf“, regt Müller an. Kai-Olaf bekommt den Applaus. Vorgruppengigs seien eine undankbare Angelegenheit, sagt Müller, „davon können wir ein Lied singen.“ Robert, ganz vorn an der Theke stehend: „Mach doch.“ Müller rückt seine Gitarre zurecht: „Ja, machen wir, aber ich muss es erst schreiben.“
Mit „Sein Spiel“ stimmt die Band das nächste neue Lied an, eines über offene Beziehungen und die gemischten Gefühle, die Müller dazu hat. Dieses Thema untermalt die Platemeiercombo überraschend mit einem Discogroove. Heyl nimmt die Klanghölzer zur Hand und die spärliche Instrumentierung zum Anlass, mit sich ihnen durchs enggestellte Publikum zu quetschen. „Guten Tag“, begrüßt er die Gäste. Zurück auf der Bühne, stimmt Heyl in den Album-Opener „Süßes Nichtstun“ mit ein. Das Lied funktioniert auch ohne das bombastische Orchester fantastisch.
„Das nächste Lied beinhaltet wieder jede Menge krummer Akkorde, die haben im vorigen Jahrhundert ein paar schlaue Jazzmusiker erfunden, um zu verschleiern, dass es kaum Komposition gibt“, sagt Müller und erntet dafür von den Musikern im Publikum schallendes Gelächter. „Müller, ich hätt gern ein Wasser, meinste, das kann man organisieren?“, ist Plates Stimme zu hören. Roberto hinter der Theke reagiert und füllt ein großes Glas mit kaltem Mineralwasser, während die Band bereits „Die Ameisenstraße“ angestimmt hat. Roberto reicht mir das Glas, ich gebe es an den weiter vorn stehenden Robert weiter, der gibt es Cora und die hält Heyl den Strohhalm hin, an dem er grinsend nuckelt, während er Gitarre spielt.
Als wären die Themen nicht ohnehin ernst, leitet Müller die düstere, schwarze Phase ein, wie er sagt. „Identität ersetzt Persönlichkeit“, das nagelneue „Keine Rose ist keine Rose“ und der Album-Rauswerfer „Wie ein Tier“ ertönen, dann erzählt Müller von der Winterdepression, die ihn im Januar befällt. „Bob Marley hilft“, meint Elmar. „Der ist tot“, weiß Detlef. „Hilft aber trotzdem“, sagt Elmar. Müller leitet um auf die Geschichte von der jungen Frau, die den Sommer nicht mag und sich nach der dunklen Jahreszeit sehnt. „So machen das die Emos“, führt er aus. „Die Emus?“, hakt Plate nach. „Genau“, bestätigt Müller, „die stecken ihren Kopf in den Sand.“ Als hätte Elmar es geahnt, hat das so angekündigte Lied „Sie liebt den Winter“ einen Reggaerhythmus.
„Die Menschen funktionieren nicht“, singt Müller dann, gefolgt vom neuen Stück „Schöne Gedanken“, dessen Zeile „Es gibt keine Schranken für schöne Gedanken“ später von vielen Gästen zitiert durchs Achteck hallt. Müller kündigt danach ein Lied an, das von dem Gefühl handelt, das man hat, wenn man zu Eskapismus neigt, sich in ziegelsteindicke Bücher vertieft und auf der letzten Seite angekommen ist. „Das ist eine Zivilisationskrankheit“, entscheidet Müller. „Früher gab es keine Bücher.“ Mit „Das Buch ist aus“ endet auch das Konzert. „So, das war’s erst mal“, sagt Meier und schnallt seinen Bass ab. „Zugabe“, sagt Elmar. „Jaha, jetzt kommt ihr“, kündigt Meier vage an. Müller wird genauer: „Wir sind automatisch beim Karaoke-Teil angekommen.“ Das hatte er angekündigt: Jeder, der einen aus einer Liste von elf vorbereiteten älteren Müller-Songs mit Bandbegleitung auf der Bühne singt, erhält das Album als Geschenk. Gewohnheitsmäßig hält sich die Resonanz in Grenzen. Roland kommt vom Draußenrauchen zurück und hört die Umstehenden seinen Namen rufen. „Wie, ist schon Karaoke dran?“, fragt er und stellt sein Bierglas neben sich ab. Müller zuckt mit den Schultern: „Ich rede nur schon eine halbe Stunde davon.“ Roland lässt sich nicht lange bitten, obwohl er Argumente anführt wie „ich kenne die Texte doch nicht“, die Müller entkräftet, etwa mit vorbereiteten Zetteln. Roland kann sich nicht entscheiden zwischen „Es sind die Pilze“ und „Mutti, warum ist das Backblech so braun?“. Er taumelt hinter das Mikrofon und entschließt sich: „Mach mal die Pilze.“ Während er sich seinen Platz sucht, lässt er sich über Müllers eigenwillige Kompositionen und seinen unnachahmlichen Sprechgesang aus, also einige der Qualitätsmerkmale, die Müllers Musik vom Rest der Welt positiv unterscheiden. „Kannst du dich mal vorstellen?“, bittet Müller. „Ich bin ein Pseudoprivatier“, sagt Roland. „Hobbys?“, fragt Müller. „Eskapistisches Lesen“, sagt Roland. „Lieblingsfarbe?“, fragt Müller. „Schwarz“, sagt Roland. „Und meine Lieblingsjahreszeit ist der Winter.“ Roland ist auch als Interimssänger der Platemeiercombo ganz der Entertainer, wie man ihn kennt. Verpasste Einsätze gleicht er mit Schlagfertigkeit aus. „Gleich das Backblech hinterher“, regt Müller nach dem Lied an, um Pausen zu vermeiden. „Du kriegst auch noch eine CD.“ Roland schwankt: „Aber ich hab doch schon eine, so’ne Scheiße!“ Meiers Argument überzeugt Roland schließlich: „Kriegste noch zwei, kannste drei verkaufen.“ Cora gesellt sich zu Roland auf die Bühne. Gemeinsam bringen sie das Stück ins Ziel, das vom Debüt der Platemeiercombo stammt und textlich noch sehr an Die Trottelkacker erinnert. Schön, so alte Stücke mal wieder live zu hören, besonders in einem so trefflichen Duett.
Es gibt überraschend einen Freiwilligen für ein weiteres Lied. Von ganz hinten schiebt sich Markus auf die Bühne. „Stell dich mal vor“, bittet Müller. „Mich kennt hier keiner“, behauptet Markus. Er wünscht sich das Trio-Cover „Halt mich fest, ich wird verrückt“. „Eine ausgezeichnete Wahl“, lobt Müller. Die Band legt los und Markus sich mächtig ins Zeug. Er bellt das Lied ins Mikro, die Band spielt einen rasenden Funk dazu. Beeindruckend. Noch bevor das Lied aus ist, steht Markus in der ersten Reihe im Publikum. Andere Karaoke-Freiwillige finden sich nicht, also spielt die Band selbst noch ein paar alte Hits: „Vergrämen Sie mir den Marder!“, „Chili Cocain“ und „Geisterfahrer“. Dann ist Schluss.
Zumindest mit dem Konzert, denn jetzt hat die große Familie wieder Gelegenheit, miteinander zu reden, mindestens über das Konzert. Ich entdecke Tom Hinze im Publikum, den Fossi eben fragt, ob er morgen dabei ist. Und ich frage Markus, wie unbekannt er nun wirklich ist. Gar nicht so sehr, stellt sich dabei heraus. Er kennt Müller & die Platemeiercombo, und: „Ich war bei Brainport, das war mal ’ne Band.“ Die existierte in Wolfsburg: „Ist aber seit 16 Jahren Geschichte.“ Jetzt lebt er in Hildesheim und erzählt, dass Rufe nach einer Reunion laut werden. Ein weiterer bekannter Musiker war in der Band: Daniel Heizmann von The Gee-Suz Batteries.
Es ist spät, viele sprechen vom Aufbruch. Gerald kommt gerade erst an: „Ich war in der Galerie auf Zeit.“ Ohne Müller wäre ich da sicherlich auch gewesen, Schepper hat ja auch davon geschwärmt. Aber ich finde es schön, in Braunschweig endlich wieder eine Wahl zu haben, wie ich meine Freizeit verbringe. Allmählich will ich auch los. Doch mit „Der Spiegel zeigt nicht die Realität“ bremst mich Cora im Achteck aus. Philosophisches zum Geleit! Detlef sieht es wie sie und erwidert: „Besonders morgens ohne Brille.“ Und nach dem Duschen, wenn das Glas beschlagen ist. Doch Cora meint es anders. Sie erzählt davon, wie sie sich im Spiegel auf eine Fotosession vorbereitet hat, und dem Fotografen gelang es nicht, ihre Perspektive einzunehmen. Sie war verzweifelt. Dazu kommt, dass Gesichter asymmetrisch sind und man sich deshalb im Spiegel in der Tat nicht so sieht, wie einen andere sehen. „Genau“, sagt Cora, und berichtet von einem Fotofilm, den sie abgeholt hat. Sie zeigte die Fotos Freunden und meinte, dass sie darauf endlich einmal so aussehe, wie sie sich selbst sehe, und alle Freunde widersprachen ihr mit Vehemenz. An einem Bierflaschenetikett hatte sie dann erkannt, dass die Fotos seitenverkehrt abgezogen waren – sie sah sich selbst auf den Fotos also lediglich so, wie sie sich vom Spiegel her kannte. Roland kommt dazu und bringt das Gespräch auf seine Möhre. Er greift in die Tasche und zückt eine gefilzte Karotte mit ebenfalls gefilztem Grünzeug. „Die habe ich zu Weihnachten geschenkt bekommen“, grinst Roland. „Das ist ein Kugelschreiber, mit dem kann man toll schreiben.“ Zum Beweis nimmt er einen Block hervor und schreibt darauf mit seiner Möhre das Wort „toll“.
Die Musiker schleppen ihre Instrumente aus dem Café, Kati reiht sich mit leeren Bierkisten ein. Die Familienrunde löst sich allmählich doch noch auf. Fossi besteigt sein Fahrrad, das er in der Nähe von Piou angebunden hatte. „Fange an, dein Fahrrad zu lieben“, ruft er Cora zu und radelt in die Nacht. „Bis morgen“, ruft er mir noch zu. Ja, bis morgen, zur nächsten Familienfeier.
Matze Bosenick
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