#68 Heiliger Hans, Hexenjäger

Sonntag, 23. Juni

Seit das Café Riptide am Sonntag nicht mehr geöffnet hat, muss ich mir für jenen Wochentag andere Freizeitverbringungsmöglichkeiten ausdenken. Gar nicht so einfach. Was tun, im Sommer, bei halbwegs gutem Wetter und mit einem mobilen Telefonapparat voller Namen und Nummern? Leute fragen? Ah ja, gute Idee. Einmal erwischte ich dabei zufällig den Tag, an dem „Klassik im Park“ im Park stattfand, guter Platz für eine Veranstaltung mit diesem Namen. Und bei „Klassik im Park“ war ich noch nie, es lag immer etwas anderes an. Bei dem riesigen Leuteaufkommen fand ich meine Peergroup erstaunlich schnell, nämlich sofort, auf Decken an der Oker sitzend und so etwas in der Art wie picknickend. Um uns herum hatten findige Händler ihre Buden errichtet, ich wollte uns Kaffee vom mobilen Kaffeewagen holen. Die Schlange davor war als solche nicht recht zu erkennen, die Leute standen vereinzelt ungeordnet an dem Wagen. „Bist du noch Schlange?“, fragte ich die Frau vor mir. Sie war. „Bist du noch Schlange?“, fragte ich den Mann neben mir. „Nein“, sagte der, „ich stehe hier und sehe fern.“ Er blickte nämlich versonnen auf die Großleinwand, die das übertrug, was auf der Millionen Meilen entfernten Bühne für uns unerkennbar stattfand. Wir sahen, dass ein Dirigent das befrackte Orchester dirigierte, der ein Eintracht-Trikot trug. Braunschweig ist seit dem Erstligaaufstieg so angenehm irre.

Und heute? Ich könnte bereit seit einer Weile im zunächst noch abgesoffenen Scheeßel sein und hätte mir dort am Freitag Portishead und Sigur Rós angeguckt. Sollen beide gut gewesen sein, sagt mein Whatsapp. Heute ist tatsächlich gar nichts auf der Liste, das ich mir dringendst angeguckt hätte. Ein paar Bands vielleicht aus Neugier, aber niemand aus Überzeugung. Immerhin hätte ich dort bestimmt Chris oder André getroffen, die regelmäßig mit diversen LP-Kisten beim Hurricane ihre Zelte aufbauen. Ich bin schon gespannt, was sie dieses Mal zu berichten haben.

Heute könnte ich auch nach Hannover fahren. Zurzeit findet dort das Festival Theaterformen statt, mit dem tollen kostenlosen Open-Air-Liveprogramm. Heute Nacht spielt dort Bernadette La Hengst. Aber so recht packt mich nicht die Lust, mich dafür ins Auto zu setzen. Nein, nicht wegen Hannover, mir ist das ganze Anti-96-Gewese völlig egal, besser: Mir geht es auf den Keks, wenn die Leute es ernst meinen damit. Als Spaß ist es okay, auch wenn sich der Witz schnell abnutzt; viele meinen es leider so, wie sie es sagen. Solche kameradschaftlichen Feindschaften gibt es zwar überall, zwischen Köln und Düsseldorf ebenso wie zwischen Wesendorf und Wahrenholz, warum also nicht auch zwischen Hannover und Braunschweig, wenn’s im Rahmen bleibt. Und dann gibt es ja auch noch Wolfsburg. Dort fragte mich jüngst ein VfL-Fan: „Warum fährt die Eintracht so viel Fahrrad? Sie übt schon mal das Absteigen.“ Viel schöner fand ich den Kommentar eines Eintracht-Fans zum Aufstieg: „Jetzt kann ich endlich mit dem Bus zu Auswärtsspielen fahren.“ Die 230 pendelt zwischen Wolfsburg und Braunschweig. So ist es nett!

Eine noch viel weitere Fahrt könnte ich heute auf mich nehmen: Irgendwo an einen Strand in Dänemark, heute ist Sankt Hans. Am 23. Juni schichten die Dänen Holzhaufen am Strand auf, entzünden sie und verjagen damit die Hexen auf den Blocksberg, also fast zu uns. So eine Feier habe ich noch nie mitgemacht, aber wahrscheinlich ist es so ähnlich wie im Harz mit Walpurgis: Die offiziellen Veranstaltungen haben den sinnlichen Charme einer Ballermannparty, zu den inoffiziellen Feiern fehlen einem Unbedarften die Kontakte. Auf der Insel Poel luden mich mal Einwohner zu ihrem privaten Osterfeuer ein. Da war ich zur Dämmerung am Ostersamstag mit meinem Fotoapparat unterwegs, um einige Langzeitbelichtungen zu machen, und erblickte auf einem Grundstück das lodernde Feuer. Schön, dachte ich, das macht sich bestimmt gut, und positionierte die Kamera. Nach einer Weile schlenderte jemand bierflaschenbewaffnet vom Grundstück auf mich zu. „Was machst du da?“, fragte er. „Bist du von den Grünen?“ Er stellte sich zu mir, betrachtete mit mir das lodernde Feuer auf seinem Grundstück, trank ab und zu aus seinem praktischen Gefäß und hörte sich meine schmale Erklärung an. Dann erläuterte er, warum er die Grünen fürchtete, die hatten wohl in der Nachbarschaft häufig die Entzünder privater Osterfeuer angeschwärzt. Es nährte sich uns eine Frau aus Richtung des Feuers und fragte: „Was macht ihr denn da? Kommt doch zu uns.“ Okay, danke. Am Feuer saßen und standen lauter Leute, ich stellte mich kaum dazu, da hatte ich schon ein offenes Bier in der Hand. „Was machst denn du hier so?“ Tja, Urlaub, und wie so oft mit positiven Erlebnissen mit Einheimischen. Dabei waren sie das gar nicht alle: Ein Teil der Feiernden bestand aus Touristen aus dem Westen, die die Familie Jahre zuvor einmal am Hafen kennen gelernt und sich mit ihnen angefreundet hatte. So mag ich verreisen, so mag ich Osterfeuer, so stelle ich mir auch gelungene Walpurgis- und Sankt-Hans-Feiern vor.

Wenn sie nicht ins Wasser fallen. Es sieht zurzeit ständig nach Regen aus. Gestern hatten wir mit einer entspannten Geburtstagsfeierrunde am Heidbergsee Glück, bis uns die flutbedingten Mückenhorden verjagten. Irgendwas ist immer. Zum Beispiel erfuhr ich dabei, dass es das neue Album von The House Of Love auf 500 Exemplare limitiert als LP in rotem Vinyl gab, mit einem Lied mehr als auf CD. Das Ding ist natürlich ausverkauft, sagt das Internet, und gebraucht ab 70 Euro zu haben. Da muss ich also im Riptide nachhaken, morgen am besten, wenn sie wieder geöffnet haben, manchmal stehen ansonsten ausverkaufte Sachen dort noch herum, wie im vergangenen Jahr die „Mitleid Lady“-12“ von Bohren & der Club Of Gore oder aktuell die „In Concert“-Dreifach-Live-LP von Dead Can Dance, die noch vor Veröffentlichung im Internet für den doppelten Preis weiterverkauft wurde und im Riptide zum Normalpreis erhältlich ist. So richtig gut ist das Ding leider nicht, „Towards The Within“ war deutlich besser, weil weniger synthetisch, weil organischer, und es ist außerdem das komplette mittelmäßige Comeback-Album „Anastasis“ darauf enthalten. Noch am Mittwoch hörte ich Dead Can Dance live, sah sie aber nicht, und zwar picknickend im Hamburger Stadtpark, da spielten sie auf der benachbarten und dank Hecken blickgeschützten Freilichtbühne. Tolle Stimmen, tolle Songs, aber die Musik war enttäuschend flachbrüstig. Auch da hatte ich Glück mit dem Regen: Die ersten Tropfen fielen erst nach dem letzten Ton, das folgende vierstündige Gewitter flashte uns dann auf dem Balkon. Guido meinte später dazu: „In Hamburg regnet es bei jedem Wetter.“

Gut, bei Regen könnte ich heute auch einfach mal die letzte Portion Spargel des Jahres kochen. Schließlich endet morgen die Saison, je nach dem zumindest, wen man fragt; viele nennen auch den 17. Juni. Schade, dass es schon wieder vorbei ist, ich erhielt gerade erst jüngst eine gute Zubereitungsidee: Spargel in Stücke schneiden und kochen, dann Kräuterbutter in einer Pfanne erhitzen, Spargel hinzu, Eier darüberschlagen und alles verrühren, mit Salz und Pfeffer würzen. Ich hab’s mit Kartoffeln dazu probiert, geht auch gut. Nächstes Mal im April 2014 wieder.

Aber noch halten sich ja die Wolken zurück. Ein Eis essen? Das Giallo-Rosso heißt nicht mehr so, sondern Bacio, weil es laut Bedienung nicht mehr zu Linos Großfamilie gehört, sondern einem neuen Pächter. Schade drum. „Bacio ist doch besser“, meinte die Bedienung zwinkernd. Da ist was dran. Aber gerade die Farben von AS Rom als Lokalnamen zu nehmen und dann wenige Häuser weiter mit Giallo-Blu den Eintracht-Pendant zu eröffnen, war eine witzige Geste.

Aber wie schön wär’s jetzt, wieder im Handelsweg zu chillen. Im Riptide haben sie eine Kniffelschachtel aus Blech, die entdeckten wir neu, als wir da kürzlich zum Feierabend bei kühlstem Wolters unsere Kniffelfähigkeiten austesteten. Als wir die benutzten Kniffelblockrückseiten für einige Runden Zehntausend verwenden wollten, stellten wir fest, dass vor uns bereits Leute die Idee hatten, aber darauf statt Zehntausend Stadt-Land-Fluss spielten. Bei der Kategorie „Pflanze“ hatten die Spieler beim Buchstaben H nur fünf Punkte erzielt: Beide nannten „Hanf“. Dabei wäre „Hirse“ im Riptide genauso naheliegend gewesen. À propos, die neuen Speisekarten sind jetzt fertig, und es stimmt, das Frühstück ist weiterhin aufgeführt, wenn auch mit einem Fragezeichen versehen, und man kann neben dem Lemmy-Frühstück auch das Schwarze Frühstück noch bestellen, das ist dasselbe, nur ohne Whisky, also nur mit Zigarette und Kaffee. Kaffee! Wäre auch eine gute Idee jetzt, im Achteck, wie jüngst an einem Nachmittag, als ich nur mal eben einen Kaffee im Riptide haben wollte und so viele Leute traf, dass ich erst nachts nach Hause kam. Das geht an keinem anderen Ort so gut wie im Riptide. Morgen wieder, nach Feierabend.

Tja, und heute? Mal sehen, was mein Adressbuch so hergibt.

Matze Bosenick
www.krautnick.de

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