Donnerstag, 22. August
Heiß: Das Sommerloch ist vorbei, und das äußert sich wie in jedem Jahr auch jetzt wieder darin, dass pro Wochenende mehr als nur eine attraktive Veranstaltung stattfindet. Nicht nur pro Wochenende, auch pro Tag: Allein heute gibt es ein Arjomi-Konzert in der Neunraumkunst, eine „Blau-Gelb-Fieber“-Lesung unter anderem mit Buchinitiator Axel Klingenberg bei Graff und die Finissage der Ausstellung „Long gone promises – sculptural showdown Part I“ mit dem Atelier Space Ensemble gegenüber des Café Riptide in der Einraumgalerie. Im September geht es gnadenlos mit Veranstaltungen weiter: Magnifest vom 6. bis 8., Silver Club am 21. – und am Wochenende dazwischen gleich mindestens vier tolle Aktionen: fünftes Kulturschaufenster vom 13. bis 15. im Madamenweg, zweites Friedrich-Wilhelm-Straßen-Sit-In am 14., am selben Tag das Vegan-Life-Festival am Schlossersatzplatz und, erstmals, ein Sommerfest im Handelsweg. „Wir sind jetzt seit sechs Jahren hier und haben es endlich mal geschafft, ein Passagenfest zu machen“, freut sich André über den Termin. „Es gibt einen Kunstflohmarkt, Kinderschminken, Veggie-Grill – und Musiker spielen.“ Von Schepper weiß ich bereits, dass er auftritt. Außer ihm noch Martin Kroner, Sänger und Chef der nach seinem Nachnamen benannten Band, und Riptide-Mitarbeiter Lennart, der ansonsten hinter dem Tresen rockt und das Riptide schon einmal mit einem Gig in Wallung brachte. „Er tritt mit einem Mädel auf, das eine Superstimme hat“, sagt André. Drei weitere Musik-Beiträge sind in Planung, alle sollen immer zur vollen Stunde auftreten. Das wird ein harter Tag, so viel steht jetzt schon fest. Es gilt, kilometertaugliches Schuhwerk zu tragen. Wann ist eigentlich Kulturnacht?
Überhaupt, die herrlichen Verstrickungen in dieser winzigen Stadt: Beim nächsten Silver Club am 21. September im Eiskeller im Rebenring haben wir erstmals einen veganen Imbiss dabei. Den betreiben seit kurzem Kerstin und Christian, die auch maßgeblich den Braunschweig-Vegan-Stammtisch im Riptide betreuen. Der findet an jedem ersten Donnerstag des Monats ab 18.30 Uhr statt, der nächste am 5. September. Immer einen Tag später trifft sich im Riptide der Bass-Stammtisch, am ersten Freitag des Monats ab 21 Uhr, der nächste also am 6. September, initiiert von Schepper, der wiederum beim nächsten Silver Club eine wichtige Rolle spielt, indem er zum Kopf des Vereins gehört, der im Mittelpunkt der Silver-Club-Veranstaltung steht und deren Programm gestaltet, nämlich der Eiko-Verein. Wir sind doch alle eine Familie.
Das Gefühl beschleicht mich im Handelsweg ohnehin recht häufig. Von der Brabandtstraße kommend, schaffe ich es einmal mehr nicht bis ins Riptide, sondern bleibe bei Serge und seinem Besuch hängen. Serge sortiert seine LPs nach Genres, Carsten – ebenfalls Eiko-Mitglied – macht aus den ungewöhnlichsten Perspektiven Fotos von Serges Auslegeware sowie von Sylvia, die sich eigentlich gerade im Aufbruch befindet. Sie hatte erst kürzlich bei der Firma Ameno die Ausstellung „Naturgewalten“ mit ihren abstrakten Gemälden, zumeist Gouache auf Leinwand, und will sich mit dem dazugehörigen Katalog in der Einraumgalerie bewerben. „Ich habe ihn im Riptide hinterlegt“, sagt sie. „Man hat mir gesagt, dass das der kleine Briefkasten der Galerie ist.“ Während Carsten vor ihr kniet, um ihr Gesicht im Profil und in Aktion auf Microchips festzuhalten, erklärt sie: „Ich mache Kunst und Schrott und Entrümpelungen.“ Überraschende Mischung. Sie hat Flyer ihrer Firma „Obalix & Cleopatra“ dabei und einen ihrem Betätigungsfeld entsprechend angenehm festen Händedruck, als sie sich verabschiedet.
Ihren Platz nehme ich ein. Carsten widmet sich einem metallenen Modellauto auf dem Tisch, der zum Tante Puttchen gehört, Serge zieht Langspielplatten aus ihren Covers, um uns herum bringen Lieferanten Getränke in die benachbarten Gastronomieetablissements. Stellen sie ein Bierfass auf dem Boden ab, klingt es angenehm wie die Bassdrum eines Industrialstücks. Die Tür von Piou gegenüber steht offen, man hört Jennys Nähmaschine den Beitrag dazu leisten, dass sich bald weitere Verkaufsobjekte im Schaufenster oder auf der Sitzbank vor dem Laden auftürmen. Lukas bindet sein Fahrrad neben dem Piou fest und grüßt uns im Vorbeigehen auf dem Weg ins Riptide. „Die Platters“, sagt Serge mit Blick auf das Label einer LP. „Sowas kennt doch heute keiner mehr.“ Er steckt das Vinyl zurück in die Hülle, stellt die LP in eine Reihe mit anderen und greift sich aus einem seiner vielen Stapel ein anderes Exemplar. Ein blonder Mann mit Sonnenbrille ziert das Cover. „’Blau blüht der Enzian‘, mein Gott“, sagt Serge und stellt auch diese LP wieder weg, irgendwo hinter den Stuhl, auf dem Carsten jetzt sitzt. Serge greift sich einen neuen Stapel. „Worunter fallen die Simple Minds?“, fragt er. Zu ihrer Hochphase sicherlich irgendwo zwischen Rock und Pop, da hat Carsten Recht, doch Serge hält das Debüt „Life In A Day“ in der Hand, da hörte man noch, dass sie früher Punk machten. „Und danach New Wave“, sagt Carsten. Serge nimmt das nächste Album und mutmaßt, dass es niemand kennt. Irrtum, es ist „The Luxury Gap“ von Heaven 17, also Synthiepop. Eine von mindestens drei Bands, die nach einem Begriff aus „A Clockwork Orange“ benannt sind. In dem Film hörten die Protagonisten in einem Plattenladen eine Band namens „The Heaven Seventeens“. Mir fallen noch Tolchok und Moloko ein, die sich von „A Clockwork Orange“ zu ihrem Bandnamen inspirieren ließen. Serge stellt den Stapel so zurück, dass eine Tina-Turner-LP vorn steht. „Eine Powerfrau“, sagt Carsten anerkennend. Serge stimmt zu, dass sie insbesondere aus Sicht eines Bühnen- und Performance-Experten etwas Besonderes sei. Der nächste Stapel offenbart Jazzperlen, etwa von Markus Stockhausen, den ich nicht kenne. „Das ist der Sohn von Karlheinz Stockhausen“, weiß Carsten. Ich kenne nur den Vater. „Es ist erstaunlich“, findet Serge, dass ich mich im Jazz nicht fließend auskenne. Den Jazz habe ich erst spät im Leben für mich entdeckt, über die Standards John Coltrane und Miles Davis. Das war bei mir wie mit Oliven, die habe ich jahrelang nicht gemocht, jetzt liebe ich sie. „So ist es bei mir mit Tomaten“, sagt Carsten. Serge hingegen bekam als 15-Jähriger in Süddeutschland den Jazz im Radio anerzogen, von dem Journalisten Joachim-Ernst Berendt. Der spielte nach dem Krieg immer ab 23 Uhr Jazz aus den USA. „Das habe ich ein Jahr lang gehört, dann kante ich mich aus“, erzählt Serge. Von der nächsten LP schwärmt Carsten: „Wenn ich Platten sammeln würde, würde ich sie nie verkaufen“, sagt er über „Inside Lookin‘ Out“, unter anderem von Ed Schuller und John Betch. Die haben erst kürzlich in der Bassgeige gespielt, weiß Carsten. Serge dreht das Album in seinen Händen, er kennt es nicht: „Ich muss da unbedingt reinhören – dann weiß ich endlich, ob du was von Musik verstehst“, grinst er in Richtung Carsten.
Der verabschiedet sich, im fliegenden Wechsel setzt sich Wolf auf dessen Platz, wie gewohnt seine 14-jährige Hündin Maja im Schlepptau, besser: ohne Schlepptau, aber dabei. Sie macht es sich auf dem Pflaster gemütlich, Radfahrer umrunden sie. „Ich wollte eigentlich in die Stadt“, sagt Wolf, dem Serge aber noch eine Geschichte erzählen will. Wolf lenkt ein: „Auf eine Zigarettenlänge.“ Er holt den Tabak aus seiner Tasche und beginnt zu drehen. Dann könne er uns auch gleich zu einer Ausstellungseröffnung einladen, am Samstag, ab 18 Uhr, in seinem „Werkschauraum“ in der Ernst-Amme-Straße 5, „schräg gegenüber vom Bier- und Wurst-Kontor“, mit, so Wolf, „malerischen“ Werken von Martin Seidel, Titel: „Animals“. Serge lässt von den Schallplatten ab und nimmt den Platz auf seinem Regiestuhl ein. Lukas bindet sein Rad wieder los und düst in Richtung Innenstadt, während Serge erzählt, warum er kürzlich an Wolfs Künstlerfrühstück nicht wie vereinbart teilnehmen konnte: Er verbusselte seinen Haustürschlüssel. Nach langer Suche entdeckte er ihn einem Impuls folgend rätselhafterweise im Müll. Serge springt auf, sich abtastend, und stürmt in seinen Laden: „Schon wieder suche ich was, wo sind meine Zigaretten?“
Kaum findet er sie, zündet sich eine an und setzt sich wieder, kommt Dorothea angeradelt, mit einer Gitarrentasche auf dem Rücken, und fragt, ob Serge seinen PC dabeihat. Den holt er aus einer Jutetasche auf einem Fahrradgepäckträger neben sich, steht auf, setzt sich mit ihr auf eine Bank beim Tante Puttchen und versinkt in angeregten Gesprächen mit ihr. Sie arbeiten an einem Projekt, mehr verraten sie nicht. „Über Dorothea findest du seitenweise Einträge im Internet“, erläutert mir Serge. „Sie ist eine stadtbekannte Künstlerin.“ An der HBK studierte sie Malerei. „Ich habe gerade eine Ausstellung im ‚Fräulein Wunder‘ in der Ratsbleiche 1“, sagt sie. Das ist das frühere Café Grec, da bin ich manchmal, das muss ich mir anschauen. Die beiden Schöpfenden versinken wieder in ihrer Tätigkeit und ich in den Sitzkissen meines Stuhls.
Wolf raucht noch und schwärmt gerade von einer Polemik zum Schlossmuseum, die Lord Schadt auf Braunschweig-Spiegel veröffentlichte, da gesellt sich ebenjener zu uns, in seiner Okerflößermontur mit entsprechendem T-Shirt und Indiana-Jones-Hut. Dirk bescherte mir vor zwei Wochen den wohl schönsten Urlaubsstart, den ich mir denken kann. Ich las in der Okercabana ein Buch, als er mit dem Floß andockte. Da seine gebuchte Belegschaft entgegen anderer Pläne nicht mit zurück zur Floßstation fuhr, fragte er mich, ob ich mitwollte. Na, selbstverständlich! So schipperten wir zu zweit auf dem Kahn über die stille, grün umwachsene Oker. Herrlich. „Ich habe gerade Werbung gemacht für deine Polemik“, sagt Wolf, während sich Dirk auf die Stufe zu Serges Laden setzen will. Dirks Blick fällt auf eine leere Kaffeetasse. „Habt ihr den Kaffee im Riptide oder hier getrunken?“, fragt er. Ins Riptide, so weit bin ich heute noch gar nicht gekommen, auch nicht zum Kaffeetrinken. „Aber ich mache das“, sagt Dirk. „Ich auch“, Wolf schließt sich an. „Aber mit viel Milch.“ Dirk will auch mir nebenan einen Kaffee bestellen und geht los.
Das nächste Fahrrad hält bei uns, Jörg steigt ab und begrüßt Wolf abklatschend. Dirk ebenso, als der vom Bestellen zurückkehrt und sich auf die Stufe setzt. Jörg bleibt bei Wolf stehen und unterhält sich mit ihm, da klingelt sein Telefon und er setzt sich mit dem Anrufer auseinander. André kommt mit einem vollen Tablett zu uns und fragt: „Männer, was ist Phase? Wer ist der mit viel Milch?“ Dirk und ich zeigen auf Wolf. Auf dessen Kaffeetassenunterteller steht ein Extrakännchen mit Milch neben dem in Folie eingeschweißten Karamellkeks, den alle bekommen. Wolf packt das Gebäck aus und singt in Anlehnung an das Misheared-Lyrics-Video zu „Git hadi git“ von Ismael Yks: „Keks, alter Keks, ist der mit Ohrsand.“ Da nimmt Jörg verblüfft das Telefon vom Ohr: „Das gibt’s jetzt nicht“, sagt er zu Wolf, „wir sprechen grad über Ohrsand.“
Nach und nach leert sich der Platz vor Serges Laden. Dorothea schultert ihre Gitarre, Dirk bricht zur Flößerarbeit auf, Wolf macht sich mit Maja davon, Jörg radelt weg. Allmählich will ich ins Riptide hinübergehen. Dort sortiert André neue Schallplatten in die Fächer, außer ihm ist noch Shabnam beschäftigt. Sie macht gerade eine Kiste mit Altpapier fertig und bringt es weg. Es liegt viel an im September, sagt André, auch über das Passagenfest hinaus. Stimmt, ich sehe das Plakat für die nächste Staffel der Reihe Sound On Screen mit dem Universum-Kino. André nickt, „aber vorher haben wir noch ein Special, und zwar am Donnerstag, 29. August, ‚Power Of Soul‘, das ist hauptsächlich eine Doku über James Brown.“ Ein Braunschweiger hat den Film mitgedreht: „Marc Fehse, den werden wir zu Gast haben“, freut sich André. „Der hat früher Trash-Splatter-Filme gemacht und an dem Film mehrere Jahre gearbeitet.“ Ein weiterer Gast ist an dem Tag DJ Pari, „der hat früher im Napo aufgelegt.“ Das Napoleon kenne ich nur vom Namen. „Er ist Ur-Braunschweiger, aber jetzt amerikanischer Staatsbürger, der auch mal Opener für Curtis Mayfield macht“, sagt André. Markus Schmidt heißt DJ Pari eigentlich. Die neue Staffel von Sound On Screen startet am 12. September mit „Big Easy Express“, einer Dokumentation über eine Konzertreise, die Mumford & Sons, Edward Sharpe und Magnetic Zeroes mit dem Zug unternahmen. „Danach werden Niila spielen“, sagt André. Die waren bei der VW-Soundfoundation, sagt André, „und Claus Grabke, ein alter Rollbrettfahrer, hat die unter seine Fittiche genommen“. Grabke war Chef der Gütersloher Crossover-Band Thumb. „Niila spielen semi-akustisch“, kündigt André an. „Außerdem haben wir Ende des Monats die großartigen Woog Riots zu Gast.“ Am 26. September treten die beiden Darmstädter im Riptide auf.
Einen Kafka bestellt sich Jenny bei André, bevor sie ihre Pause beendet und ins Piou zurückkehrt. Auch sie hat Ankündigungen: „Ich bin nächste in Riddagshausen beim Dorfmarkt dabei.“ Der findet am 31. August und 1. September rund ums Kloster statt. „Zum ersten Mal unter neuer Leitung“, sagt Jenny. „Ich bin gespannt, ich bin zum ersten Mal dabei.“ Außerdem gibt es im Riptide jetzt vegane Kuchen, betont Jenny, immer freitags und samstags. „Oh, ja“, bestätigt André LPs sortierend, als hätte er diese Speisekartenerweiterung selbst vergessen. Ich habe bereits davon gehört, dass Gäste ebenjene Kuchen besonders gut fanden. Jenny freut sich darüber, nimmt ihr Getränk und geht. In Andrés Neuheiten-Stapel finden sich „I Hate Music“, das neue Album von Superchunk. „Schon das zweite neue Album“, so André. Außerdem viele Rereleases, wie „Goodbye Horses“ von Q Lazzarus als 12“ oder „Wrong“, das zweite Album von NoMeansNo. „Für mich ganz wichtig“, so André, sei „Presumed Insolent“, das neue Album der Adolescents. André beschriftet die LPs mit Preisen, bevor er sich den neu eintreffenden Kunden widmet. Shabnam kommt vom Altpapierwegbringen zurück und unterstützt ihn. Ich schaue mal, was der Sommer draußen zurzeit so treibt. Lange nichts von ihm gehört.
Matze Bosenick
www.krautnick.de