#72 …und der brennende Geist

Montag, 21. Oktober

Heute bewahrheitet sich wieder die alte ostfälische Weisheit: Die drei klassischen Sommermonate in unserer Gegend sind Februar, April und Oktober. Der Sommer kehrt zurück, während wir aus dem Sommer zurückkehren. Der echte Sommer kam später als sonst und war viel zu abrupt wieder vorbei. Wer heute jedoch im Achteck draußen sitzt, braucht die bereitgelegten Decken nicht und kann sogar seine Jacke ausziehen. Kein Wunder, dass Jasmin die Bestellungen allesamt nach draußen bringen muss. In der Rip-Lounge sitzt noch jemand, im Haupt-Café ist so kurz nach der Mittagspause nichts los. Draußensein ist das Gebot des Augenblicks, nicht nur beim Riptide, auch vor Comiculture, wo Inhaber und Kunden rauchen. Die anderen Läden haben erstaunlicherweise geschlossen. Wie schade, ich wollte noch in die Einraumgalerie schauen, denn Steffi, die den sehr lebendigen Blog „Kult-Tour Braunschweig“ befüllt, schwärmte von der aktuellen Ausstellung. Das müsste „By The Way“ von Sonja Wegener sein, die sich beim Handelsweg-Sommerfest schon angekündigt hatte, als Teilnehmerin der Atelier-Aktion „Kunst… hier und jetzt“ des Allgemeinen Konsumvereins. Die habe ich leider nicht wahrnehmen können, aber sobald Steffi darüber geschrieben haben wird, kann auch ich darin abtauchen.

„Sommer? War doch gestern und vorgestern auch schon“, wundert sich Jasmin darüber, dass ich mich wundere. Weiß ich gar nicht, da musste ich arbeiten. „Das kriegt man doch trotzdem mit“, meint Jasmin nicht ganz unberechtigt. „Ich war nicht draußen und weiß es trotzdem.“ Ich war auch ab und zu draußen und hab auf anderes geachtet, aber jetzt, wo sie’s sagt: doch, stimmt, ich habe es mitbekommen. Drinnen war ich im Rahmen meines Dienstes unter anderem im Schloss Wolfsburg beim Kunstverein. Dort läuft seit einer Weile die Ausstellung „Erfinde dich selbst!“ über Realitäten und Identitäten. Einen großen Teil nehmen überraschenderweise Devotionalien der Gruppe Fraktus ein, erfunden von Studio Braun, inklusive des T-Shirts mit dem Fehldruck „Fratus“. Kunstvereins-Leiter Justin Hoffmann erzählte mir, dass er kürzlich mit seiner Band F.S.K. unterwegs war und jemand aus der deutlich jüngeren Vorband fragte, ob F.S.K., da es sie doch schon so lange gibt, früher auch schon mit Fraktus zu tun hatten. Nun, wenn schon renommierte Medien drauf hereingefallen sind.

Draußen wird es immer voller, sodass Gäste automatisch ins Café kommen müssen. Teilweise kommen sie, um in den LPs zu blättern, meistens, um etwas zu trinken. „Hast du mal den W-Lan-Code?“, fragt jemand Jasmin, der kurz aus der Rip-Lounge herüberkam. Sie nennt ihn ihm. Jemand anders fragt nach Kuchen: „Den gibt’s nur freitags und samstags“, muss sie ihn enttäuschen. Einer von den großen, dunkelbraunen Muffins tut’s auch. „Kannst du mir nochmal das W-Lan-Passwort sagen?“, fragt ein anderer Gast. Jasmin tut es und kassiert bei gehenden Gästen ab. Für einen Augenblick muss sie den Laden alleine schmeißen, weil Chris zurzeit beim Einkaufen ist. Ich würde ja einspringen, habe aber noch nie in der Gastronomie gearbeitet. „Noch nie Theke gemacht?“, fragt Jasmin verwundert und bringt ein volles Tablett an einen Tisch. Bei der Rückkehr sagt sie: „Ich finde, jeder sollte so’nen Job mal gemacht haben – und die Welt wäre besser.“

Auf der Theke steht die DVD-Box von LCD Soundsystem, „Shut Up And Play The Hits“, dem Film, der auch bei Sound On Screen lief. Und den ich umständlich beim Label bestellte, weil ich dachte, ihn nicht in der Drei-Disc-Box in Deutschland zu bekommen. Jetzt steht er für nur zwei Drittel des Preises hier, und zwar neben der neuen Drei-Fragezeichen-Dreifach-Kassette „…und der fünfte Advent“. Vor einem Jahr gab es im Dezember jeden Tag bis Weihnachten einen Track zum Download, der einen Drei-Fragezeichen-Fall quasi in Echtzeit voranbrachte, und diese Drei-Stunden-Episode veröffentlichte das Label jetzt auch auf Tonträger. Leider nicht wie in den Vorjahren als Dreifach-LP, seltsamerweise. Uns Fans fiel mal auf, dass sich die Titel der neueren Episoden kaum noch auseinanderhalten lassen. Alles war schon mal da, jetzt drehen die Autoren schlicht die Phrasendreschmaschine und erfinden so die neuen Buchtitel. Mit Arni kam ich kürzlich versehentlich auf den möglichen Drei-Fragezeichen-Titel „…und der brennende Geist“, den gab es noch nicht, und sofort steckte mein Kopfhörspiel ein Gespenst in Brand. Doch Janna meinte später, sie habe es sich im übertragenen Sinne vorgestellt, also als entflammte Seele. Auch fein. Da geht was, werte Autoren!

Mit Arni hatte ich kürzlich außerdem beim Blick in die Zeitung einen uns selbst überraschenden Dialog. An sich war ich dabei, mit dem Finger auf der Zeitung den alten Gag à la „Kentucky schreit ficken“ von „RTL Samstag Nacht“ auf eine Wortkombination anzuwenden, die halt irgendwelchen Unsinn ergab, sobald man die Anfangslaute vertauschte, und Arni glaubte, ich deutete auf die Kombination „Costa Concordia“, und stellte korrekt fest: „Bei Costa Concordia geht das nicht.“ Ich stimmte zu und ergänzte, dass das auch nicht möglich sei bei Brigitte Bardot und Micky Maus. Arni fragte: „Wer ist Micky Maus?“ Ich sagte, na, dieser Elch da. Arni: „Ach, der in dem Aquarium.“ Genau, bestätigte ich, der von Astrid Lindgren. Arni: „Ja, richtig. ‚Winnetou‘.“

Nach diesem RTL-Muster hatte Schepper zuvor versehentlich mit dem „Fliegenleser“ amtlich vorgelegt. Und im aktuellen „Punchliner“-Magazin treibt es Lasse Samström auf die Spitze, indem er ganze Texte ausschließlich nach dem Muster anlegt. Spätestens bei „der abendgang des unterlandes“ zerriss es mich. À propos Schepper, vor seinem Auftritt in Mannheim beim der „Feel The Bass“-Messe des Magazins „Bass-Professor“ leitete der nunmehr bundesweit renommierte Solo-Bassist den Bass-Stammtisch im Riptide. Wegen des anstehenden Auftritts verließ er die viersaitige Runde vorzeitig und kam draußen bei Micha und mir vorbei, die wir gerade den beeindruckenden Film „Gravity“ nachbesprachen. Wir waren alle drei recht albern, nur so lässt es sich erklären, dass wir plötzlich bei zweideutigen Ortsnamen aus der Region landeten, und das auch noch lustig fanden, ausgehend vom althergebrachten Autobahndreieck der Verdauung: Essen, Darmstadt, Pforzheim. Der alte Bromer Schepper führte aus seiner früheren Nachbarschaft die Dörfer Voitze und Benitz an, mir fielen Klötze und Hodenhagen ein. Wir lachten, auch darüber, dass wir solchen Quatsch überhaupt lustig fanden, und bemühten noch die Braunschweiger Straßennamen Sackring und Hintern Brüdern, als Schepper schon im Gehen schloss mit: „Und es gibt ja noch Langwedel.“

Zwischen all denen, die bei Jasmin bestellen oder bezahlen, ist auch Jessey, der sich ein Beck’s geben lässt und der dann berichtet, dass seine Eltern Briten und US-Amerikaner sind und dass er vor fast 53 Jahren in Berlin zu Welt kam. Er hat eine durchsichtige Plastiktüte mit Leerkassetten darin dabei. Die Kassetten sind unbespielt, er hat sie für sehr wenig Geld bei einem Second-Hand-Laden gefunden. „Die CD stirbt, aber Kassetten und Schallplatten werden halten“, sagt er. Über 1000 Stück hat er, und noch jetzt nimmt er Lieder aus dem Musikfernsehen auf Kassetten auf und wandelt sie am PC um. „Man hat was zu tun, die Kinder sind groß“, sagt er. Früher habe er mit Freunden Hörspiele aufgenommen, sagt Jessey. So etwas kenne ich auch noch, aber nicht so, wie er es beschreibt: Sie zeichneten in freier Wildnis Geräusche auf, zerschnitten die Bänder, klebten sie in der erforderlichen Reihenfolge wieder zusammen und überspielten das Ergebnis dann auf ein neues Band. „So wie die da“, sagt er und deutet auf die Drei-Fragezeichen-Kassetten.

So ähnlich hat es Helge Schneider vermutlich mit seinen uralten Hörspielen auch gemacht. Bei den Trottelkackern gab es auch mal Hörspiele, ich denke da gerne an „McBregenwurst“ über einen McDonald’s-Besuch, zu finden auf der Schallplattenkassette „Pünktlichkeit kennt keine Grenzen“: „Möchten Sie Eis in ihre Cola?“ – „Ja.“ – „Erdbeer, Vanille oder Schoko?“ Helge Schneiders neuer Film „00 Schneider – Im Wendekreis der Eidechse“ läuft völlig unverständlicherweise nicht in Braunschweig, nicht in Wolfsburg – sondern in Goslar. Da Micha und ich uns verabredet hatten, den zusammen zu sehen, fuhren wir eben zusammen nach Goslar. Es gab noch einen weiteren Grund, die Stadt zu besuchen: Nur einen Tag zuvor hatte Ólafur Elíasson dort den Kaiserring erhalten, das Mönchehausmuseum zeigt dazu noch bis zum 26. Januar die Ausstellung „Eine Feier, elf Räume und ein gelber Korridor“. Eine prima Kombination. Die Schau ist zwar klein, aber eindrucksvoll. Natürlich wäre es noch opulenter, wenn das Museum sein angestammtes größeres Gebäude zur Verfügung hätte; die Ausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg etwa war seinerzeit überwältigend. Aber die Exponate in Goslar sind anregend genug, wenn man sich auf den Raum, den sie erschaffen, einlässt. Es lohnt sich, dafür nach Goslar zu fahren. Und auch für Helge, der neue Film ist womöglich sein bester, nach „Texas“. Helge ließ und hyperventilieren und nach Luft schnappen. Es hielt uns vor Lachen kaum in den Sitzen.

Mit zwei blauen Sitzen kommt Chris ins Café. Die gab es im Angebot und die sind für das neue Büro vorgesehen, auf das Chris und André seit Anfang Oktober zugreifen dürfen. Sie versprechen sich Entlastung bei ihrer administrativen Arbeit, wenn sie sie nicht mehr im Cafégeschehen verrichten müssen. „Wir beziehen das Büro, wenn das Netzwerk funktioniert“, sagt Chris voller Vorfreude. „Und es gibt Wasserkocher und Mikrowelle für die Lebensqualität.“ Er stellt die Stühle vor der Theke ab und bringt Kleinkram in die Küche. Ein dreitägiger Kurztrip habe ihn sich angenehm erholen lassen, sagt Chris, und bemerkt, dass man so etwas viel öfter machen sollte. Stimmt, selbst eintägige Kurztrips sind schon sehr hilfreich. Wie etwa der nach Goslar. Oder kürzlich war ich für ein paar Stunden an der Nordsee, in Butjadingen, habe mir von jemandem lebende Taschenkrebse auf die Hand setzen, auf dem Deich sitzend die Sonne ins Gesicht braten und im Restaurant gebratene Scholle servieren lassen. Das tat mindestens so gut wie mein zehntägiger Solo-Italienurlaub im Sommer, an den mich jetzt auch die steigenden Temperaturen wieder denken lassen. Das war eine wundervoll entspannende Zeit in Levanto, nur ein Dorf nördlich von Cinque Terre, zwar auch voller Touristen, aber nicht solcher ignoranten wie den Welterbespottern nebenan. Mal abgesehen vom Essen – viva la Wampe, mit Fischravioli, vegetarisch gefüllter Pasta mit Walnusssauce, einer Art Schupfnudeln mit hausgemachtem Pesto, Focaccia mit Anchovis (acciughe), Fischlasagne, Schwertfischsteak mit Pinienkernen, Feigeneis, Feigeneis mit Mandeln –, überraschte mich auch die Musik, die dort lief. Im nächstnördlichen Ort Bonassola etwa aß ich mittags einen gemischten Salat – Insalata mista, oder, wie ein Kellner in Levanto zu einem Gast sagte: „Insalata mistica“ – und weilte länger als gedacht, weil dort das komplette „Alice“-Album von Tom Waits lief. Bei knallender Sonne so düsterer Jazz, das war ein so passender Kontrast, dass ich nicht gehen mochte. Anschließend spielten die ein Live-Album von Bob Dylan, ein weiterer Grund zu Verweilen zwar, aber ich wollte näher ans Meer. Zurück in Levanto hörte ich am selben Tag im Vorbeigehen in einem Restaurant Johnny Cash. Unerwartet war auch das, was Straßenmusiker in der Gegend spielten. Ein paar Jugendliche mit Streichinstrumenten intonierten in Monterosso al mare unter anderem „Kashmir“ von Led Zeppelin. In Levanto gaben fünf alternativ aussehende Musiker ein akustisches Prog-Folk-Konzert mit mediterranen Instrumenten. Auf der CD, die ich ihnen sofort abkaufte, konnte ich nichts lesen – außer dem Bandnamen The Sailing Tomatoes war alles auf Griechisch geschrieben. Einen Abend später spielten die Lokalhelden Illustri Cugini vergleichsweise angepassten Alternative-Folkrock. Hat sich was mit Sommerhits. Aus den Gaststätten waren ansonsten eher 80er-Hits zu hören, die besseren gar, insbesondere natürlich Italo-Pop, darunter Raritäten wie „Happy Children“ von P.Lion, fantastisch. Und, was sie ständig überall spielten, von La Spezia bis Framura: „Get Lucky“ von Daft Punk. Ich mag den Song. Ich mag 70er-Disco-Musik, der man die Herkunft aus Jazz, Funk und Soul noch anhört, und Nile Rogers mit Chic war einer der Besten, ist es eben immer noch, wie auf „Get Lucky“ zu hören. Damit schloss sich zudem so etwas wie ein Kreis: Als ich vor 14 Jahren in der Toscana unterwegs gewesen war, war überall „Around The World“ vom ersten Daft-Punk-Album gelaufen. Das hatte ich gehasst, war ihm aber nicht entkommen. Abend für Abend mit den anderen vom Campingplatz hatte ich es hören müssen. Steter Tropfen ist aller Laster Anfang: Schon bald hatte ich das Lied geliebt. Und damit die Band. We’re up all night to get lucky.

Jemand mit Gastroerfahrungen, der deswegen nicht namentlich genannt werden will, teilt an der Riptide-Theke eine Beobachtung mit mir, die ich höchst aufschlussreich finde. „Gastro-Regel“, sagt dieser Mensch: Alles ist sauber, aber neue Gäste setzen sich an den einzigen Tisch, der nicht abgeräumt ist. Egal, wo dieser Tisch steht: Es ist der unabgewischte mit Flaschen und Gläsern darauf, an den sie sich setzen. Warum nur? Ist es, weil ein ex-besetzter Tisch attraktiver sein muss als jeder andere? Oder ist es, wie Gast Franzi später mutmaßen wird, dass man als Gast weiß, dass auf jeden Fall ein Ober kommt, der abräumen will, und bei dem man dann gleich bestellen kann? Diese Beobachtung ist es jedenfalls wert, sie im Auge zu behalten.

Auf das neue Regal weist mich Chris hin. Das steht bei der Kaffeemaschine und birgt Gläsern Platz. Ich hätte gar nicht wahrgenommen, dass es neu ist. „So etwas wird notwendig, wenn das Glasregal nach sechs Jahren von einem Tag auf den anderen zusammenbricht und wir kein Geschirr mehr haben“, erläutert Chris wie beiläufig. Katastrophe! „Das war ein Polterabend“, untertreibt Chris. „Wir haben den Kaffee zwei Tage lang in komischen Gefäßen ausgeschenkt.“ Ich erinnere mich, das war mir auch widerfahren, als ich mal mit Arni hier war. „Aber jetzt haben wir beides wieder, Geschirr und Regal, und das selbstgebaut.“

Für mich ist es Zeit, zu gehen. Es steht noch einiges an. Auf dem Rückweg schaue ich noch bei Raute Records vorbei. Am Montag ist der Laden zwar geschlossen, aber wer weiß, vielleicht werkeln Uwe und Katrin ja trotzdem in sichtbarer Reichweite herum. Und siehe da, die Tür ist nicht verschlossen. „Montag ist Ruhetag“, donnert mir Uwe entgegen und wirft mich doch nicht hinaus. Trotzdem will ich weiter, noch ein bisschen den ostfälischen Sommer genießen. Bevor das endgültig eintritt, was ein Wolfsburger Piraten-Politiker in seinem Whatsapp-Profil schreibt: „Es ist Herbst. Alles stirbt ♥“.

Matze Bosenick
www.krautnick.de

3 Kommentare

  1. Benjamin

    Guten Tag,

    ich wollte nachfragen ob Ihr die Single „Ich habe eine Fahne“ von Deichkind bei euch im Laden habt 🙂

    Grüße Benjamin

    • hallo benjamin, wir hatten sie da am tag des erscheinens – jetzt ist das gute stück leider komplett ausverkauft, gab nur 400 exemplare davon… sorry! vg, chris

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