#82 ast.schmuck

Donnerstag, 14. August

Von einem Sommerloch ist im Café Riptide nichts zu merken. Das Achteck ist schon am Nachmittag voll besetzt, auch im Café selbst füllen sich die Tische. Das leider nicht nur aus Platzgründen, sondern wohl auch, weil der Sommer zurzeit mal wieder in eine Richtung schlägt, die vorzeitig den Herbst erahnen lässt. Gelegentlich gehen Tropfen nieder, die noch gelegentlicher in einen heftigen Schauer übergehen. Man hat es bald satt, sich den meteorologischen Kapriolen zu fügen, und setzt sich auch in die Pfützen auf den Bänken, die nicht schnell genug unter die eigentlich dem Schutz vor der Sonne zugedachten Schirmen gezerrt wurden. Es ist ja egal, von welcher Seite man nass wird.

Vor lauter Sommerlochlosigkiet müssen heute Chris und André ran, sie unterstützen ihre Angestellten im Cafébetrieb, beantworten Fragen zu Musikveröffentlichungen, lassen Kaffee in Tassen fließen, nehmen Bezahlungen für Schallplatten entgegen und bereiten in der Küche Speisen zu. Und falls es doch so etwas wie ein Loch im Veranstaltungskalender geben sollte, endet das spätestens am 29. August, wenn die nächste Staffel der Reihe Sound On Screen mit „Fuck The Atlantic Ocean“ im Universum-Kino startet. Der Film begleitet das österreichische Singer-Songwriter-Duo „Sweet Sweet Moon“ auf einer Südamerikareise, die ein überraschender Erfolg auf Youtube den beiden Musikern ermöglichte.

Das Achteck ist bis zum letzten Platz gefüllt, es ist kein Stuhl mehr frei, den ich mir ausborgen könnte, um mich in die Runde vor Serges Laden einzufügen. Also muss es eine Klappbank sein, die am Rand des Achtecks steht, leider nicht unter Schirmen, was für mich bedeutet, dass neben der Unmöglichkeit, mich gemütlich in mein Sitzmöbel zu fläzen, auch noch die Unmöglichkeit kommt, dass ich mit einer nassen Sitzfläche klarkommen muss. Ich bringe Getränke mit, vorher im Riptide erworben.

Ein einzelner Satz ist dieses Mal das Thema der Runde, bei meinem Eintreffen sogar nur ein einzelnes Wort: „doch“. Anlass ist das Buch „Doch mein Herz singt vom Sinn des Lebens“, das Manu der Autorin Sidonie abnahm. Der Kreis diskutiert, ob das „doch“ dem Satz ein Vorleben gibt, und ob der Satz dadurch eine andere Bedeutung, wenn nicht sogar größere Tiefe bekommt. „Das ‚doch‘ rettet sie“, bricht Serge eine Lanze für die Sprachkunst der jungen Autorin. „Aber nur kaltherzig“, schränkt er ein, und ergänzt: „Das ‚Herz‘ geht nicht.“ Sidonie erläutert, dass sie etwas Körperliches in den Titel einbringen wollte, und löst damit die nächste Diskussion aus.

Beim Wort „doch“ fällt mir ein Satz ein, den ich kürzlich in Linden, dem Braunschweig Hannovers, mit dickem Filzer an eine Wand geschrieben stehend sah: „Hey, sollen die ihr Hollywood hinter uns doch abreißen“. Serge missfällt daran der Nihilismus, doch ich sehe da eine Vorgeschichte, vermutlich den erfolglosen Versuch, sich in einen Sachverhalt einzubringen, sowie keinen Generalnihilismus, sondern einen auf Scheinwelten bezogenen, und da ist Serge wiederum Hollywood als Symbol zu abgenutzt und sowohl für sich selbst als auch als Anti-These zu sehr mit vorgegebenen Inhalten behaftet. Besser gefällt ihm der offenbar von einem Legastheniker verfasste Satz, den eine Freundin an einer Bushaltestelle entdeckte: „ICH HASE DICH“. Serge lacht: „Das ist in seiner Unschuld die reine Pointe.“

Sidonies Buch enthält Gedichte, „ungereimt“, wie sie klarstellt, und dazu Illustrationen von einem Grafiker, nicht von ihr selbst, obgleich sie sehr wohl selbst als bildende Künstlerin aktiv ist, wenn auch in anderen Sparten. Sie veröffentlichte den Gedichtband unter dem Namen Sidonie-Felicitas von Schilling, und wem das lang vorkommt, dem sei hinzugefügt, dass sie den offiziellen Namenszusatz „Baronesse“ vor dem „von“ dort sogar noch wegließ. Sidonie bekommt überraschend einen Anruf und verabschiedet sich, herzlich, als sei sie nicht erst zum zweiten Mal in der Runde gewesen. Der Rest des Kreises hofft darauf, dass es auch nicht das letzte Mal war, und ist sich einig, dass es eine respektable Sache ist, wenn jemand schon mit Anfang 20 sein eigenes Buch in der Hand halten kann.

Zwar wird mit Sidonies Weggang ein bequemer Stuhl frei, doch noch bevor ich reagieren kann, nimmt Jasmin diesen Platz ein. Wie üblich gönnt sie sich vor ihrem Arbeitsantritt im Café Riptide bei Serge eine Zigarette. Bald bricht dann einer nach dem anderen auf. Übrig bleiben Niclas, Serge und ich, und als ich mich vor dem nächsten Schauer in den Hauseingang bei Serges Laden flüchte, nehme ich erstmals wahr, dass Piou gegenüber nun Vabel heißt und laut Schaufensteraufdruck „Schmuck-Werk“ anbietet. Genaugenommen heißt der Laden „.vabel“ und das Angebot „schmuck.werk“. Den Laden gibt es im Handelsweg schon seit einigen Wochen, wie mit Niclas und Serge belustigt mitteilen, doch die offizielle Eröffnung steht erst Ende des Monats an. Kein Leerstand im Handelsweg, das ist eine gute Nachricht.

Vor dem Tante Puttchen zelebrieren wie üblich Uwe und Katrin von Raute Records ihren Feierabend. Uwe entdeckt das Buch „Warum spielst du Imagine nicht auf dem weißen Klavier, John?“ von Klaus Voormann in Serges Schaufenster. Serge ist erstaunt, dass überhaupt jemand Klaus Voormann kennt, aber hey, er hat es bei Uwe mit einem versierten Schallplattenverkäufer zu tun. „Der hat nicht nur ‚Revolver‘ gezeichnet“, untermauert Uwe gleich seinen Kennerstatus. Stimmt doch, wer sich ein bisschen für Musik interessiert und auch gewillt ist, archäologisch tätig zu werden, stößt im Beatles-Umfeld zwangsläufig auf den Namen Klaus Voormann. Nicht zuletzt zeigte Sound On Screen seinerzeit die Dokumentation „All You Need Is Klaus“, also sollte man dem Namen auch als aufmerksamer Riptide-Gast schon begegnet sein.

Inzwischen ist es dunkel, noch kälter und wenigstens weniger nass. Serge will seinen Laden schließen und Niclas und ich ziehen den jeweiligen Heimweg in Betracht. Da sieht Serge schräg gegenüber in der Einraum-Galerie noch Licht und schlägt vor, dass wir uns die Ausstellung ansehen. Drinnen sitzen Anja und Antje zwischen ganz vielen Stöcken. Auf zwei Plattformen stehen filigrane Holzgeflechte, am Schaufenster hängen grobe Äste scheinbar willkürlich von der Decke. Auf dem Boden liegen, fein säuberlich sortiert, weitere Äste von verschiedenen Baumarten. Ich fühle mich wie im Wald. „Ich hatte heute nur einen Proviantkorb dabei“, höre ich die offenbar hungrige Künstlerin Antje zu ihrer Besucherin Anja sagen. Sofort habe ich ein Bild von Rotkäppchen vor Augen, sie lachen. „Haben wir noch Wein da?“, fragt Anja in dem Zusammenhang. Haben sie nicht, daher geht Antje los, im Ritpide für Nachschub sorgen.

Erst beim Blick auf den Flyer fällt mir auf, dass ich Antje längst kenne, nämlich, als ich ihren Nachnamen Koos lese. So ist das manchmal, der Name bleibt haften, das Gesicht nicht, und als ich sie darauf anspreche, geht es ihr genauso. Zweimal habe ich über sie berichtet, als sie in Wolfsburger Kindertagesstätten Außenbereiche designte. Mit gigantischen Fabelwesen, denen sie mit Mosaikmustern eine farbprächtige Außenhaut verpasste und die den Einrichtungen nachhaltig Freude bereiteten. Außerdem sah ich als Besucher im Klinikum in der Salzdahlumer Straße zufällig mal eine Ausstellung von ihr, da hatte sie riesige Fantasiefische in ein Foyer gehängt. In der Einraum-Galerie begegne ich nun einer Kunst, die ich von ihr noch nicht kenne, die sie aber auch schon länger macht, wie sie berichtet, aber hier zum Teil in ihr Gegenteil verkehrt und um neue Aspekte erweitert.

Das „Astwerk“ soll bis zur Finissage am 30. August wachsen, und zwar mit Hilfe der Besucher. Die sollen sich aus den Materialien, die gebündelt auf dem Boden liegen, bedienen und daraus eigene Objekte gestalten, die Antje wiederum in den hängenden Wald integriert. Ein solches Objekt sehen ich bereits in dem Raum. „Das ist von mir“, sagt Anja. Ganz willkürlich soll die Beteiligungskation aber nicht verlaufen, Antje hat für das „Astwerk“ ein Konzept: „Ich bin gespannt auf die Leute, die da mitmachen“, sagt sie.

Mit dem „Astwerk“ verändert Antje viele eigene Konzepte und Herangehensweisen. Exemplarisch stehen die beiden dünnen Geflechte im Raum, die sie vor Jahren aus Industriestäbchen gefertigt hatte. Später wechselte sie zu organischen Stöcken, wie denen im Schaufenster. Solche Stock-Objekte errichtete Antje sonst ausschließlich draußen, jetzt erstmals in einem geschlossenen Raum. Und: Erstmals beteiligt sie Gäste daran, „vom Ich zum Wir“, so Antje. Den Veränderungsprozess des „Astwerks“ hält ein Fotograf bis zur Finissage täglich fest.

Eine weitere Arbeit ergänzt die Ausstellung: An der Wand hängen zwei weiße Leinwände mit Robinien-Schoten. „Die habe ich beim Materialsammeln mitgenommen“, berichtet sie. Die beiden Leinwände sollen absichtlich etwas Skizzenhaftes haben, keine fertigen Werke sein, damit sie besser ins Gesamtkonzept passen. Interessant: „Die Schoten wirken wie fest angebracht, haben aber nur zwei Auflagepunkte.“ Ein filigranes Ding also, das in der Tat gar nicht so wirkt.

Es ist Zeit für den Heimweg. Vielleicht komme ich ja nochmal vorbei und gestalte aus Zweigen, Ästen und Bindfäden ein Objekt, das Antje in den Hängewald einfügt. Das wäre ja auch eine Art, ein Sommerloch zu stopfen.

Matze Bosenick
www.krautnick.de

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