#87 Wir Vogelmenschen

Donnerstag, 29. Januar

Endlich mal wieder ein Tag mit Micha. Unser Ziel ist zwar das Café Riptide, aber wir starten unsere Zusammenkunft dieses Mal dort, wo wir andere bisweilen enden ließen: im Videobuster, dem DVD-Verleih an der Frankfurter Straße. Micha kennt dort Angestellte, ich inzwischen auch, nicht nur dank der Abende, die wir dort verbrachten, sondern auch andernorts, im Kino etwa. Für mich erweitert sich dort mein Universum. Weil ich mir selbst keine DVDs ausleihe, verbringe ich in vergleichbaren Etablissements zwangsläufig von mir aus keine Zeit. Ein Versäumnis, wie ich neuerdings dankbarerweise erleben darf. Es ist unfassbar unterhaltsam, Micha und seine Bekannten jenseits des Tresens in der eigentlich eher kalten Atmosphäre alles ausleuchtender Leuchtstoffröhren beim Geschmacksabgleich zu observieren. Gelegentlich kommt man dabei dann auch mit anderen Kunden ins Gespräch. Ich höre die unterhaltsamsten Geschichten und fühle mich wie in „Clerks“. Micha trinkt dazu mal einen Durstlöscher Pfirsich oder verspeist ein andermal einen Schokoriegel, oft findet er auch Filme, die ihn interessieren und die er sich dann ausleiht. Er schwärmt heute wie immer von „In The Mood For Love“ von Wong Kar-Wai und außerdem von „Stalker“ von Andrey Tarkovskiy. Hab ich beide nie gesehen, mit „Stalker“ ist es ohnehin schwierig, weiß Micha, da er in Deutschland nicht einfach auf DVD zu finden ist. Wir verabreden uns alle miteinander, demnächst „Birdman“ von Alejandro González Iñárritu im Universum zu sehen. Die Runde, die diesen Film mitgucken will, wächst nun unablässig.

Bei Micha wächst außerdem der Hunger, daher schieben wir los ins Riptide. Dort bestellt er sich bei André einen Burger. „Das dritte Mal, seit es diesen Laden gibt“, stellt Micha fest. Erst das dritte Mal, will er damit zum Ausdruck bringen. Beim zweiten Mal schmeckte ihm der Burger so gut, dass er sich von André heute wünscht, er möge den Burger dieses Mal wieder so zubereiten wie kürzlich. „Also wieder mit Dip zu den Nachos?“, fragt André. „Wie letztes Mal“, bestätigt Micha, der sich bereits von der Theke weg in Richtung Plattenregale fortbewegte. „Micha, Kaffee zu deinem Burger?“, ruft André und startet wissend die Maschine. Ein „Ja“ aus der anderen Ecke des Raumes bestätigt seine seherischen Fähigkeiten.

Heute hat André Gesellschaft von Vanessa, die ihr Schulpraktikum im Riptide absolviert. Engagiert räumt sie Tische ab, nimmt Bestellungen an und springt ihrem Chef zur Seite, wenn Kunden bezahlen wollen. „Alles zusammen?“, fragt André ein Paar an der Theke, und noch bevor er die Zahlen in den Taschenrechner tippen kann, souffliert Vanessa ihm den Gesamtbetrag. André grinst anerkennend: „Ich vertraue meiner Kollegin.“

Mit dem Kaffee in der Hand setzt sich Micha an einen der Tische, auf seinen Burger wartend. Vanessa macht den Tisch für ihr schön. Neben mir steht Dominik, der eine bestellte Platte abholen möchte: „Das Island Manöver“ von Turbostaat, nur echt ohne Bindestriche. André kommt aus der Küche und sucht ihm die LP aus dem Bestellungenfach heraus. „Cool, sogar mit Namensetikett“, stellt Dominik mit Blick auf die Kunststoffhülle erfreut fest. „Damit wir das zuordnen können“, erläutert André. „Wenn du die Platte nach zwei Wochen nicht abgeholt hast, mailen wir dich nochmal an.“ Dominik meint, er sei sich bei seinem Bestellanruf im Riptide nicht ganz sicher gewesen, ob es sich um einen Onlineversand gehandelt habe. André verneint: „Nicht alles, was wir im Laden haben, haben wir auch im Onlineshop, und nicht alles, was wir im Onlineshop haben, haben wir auch im Laden.“ Üblicherweise holen sich die Kunden die Platten, die sie im Laden bestellen, persönlich ab, sofern sie aus Braunschweig kommen, sagt André. Jeder werde ohnehin per Email informiert, sobald die Bestellung eingetroffen ist. Dominik nimmt sich seine neue Platte, er muss nämlich eilig wieder gehen: „Ich habe zwei Kinder in dem Wagen warten“, grinst er.

Es ist inzwischen genau die Zeit zwischen Mittagspausenende und Feierabendbeginn. Eben noch gehen viele Gäste, in kürzerer Zeit sind die nächsten neuen zu erwarten. „Ich wünsche einen unglaublichen Tag“, ruft André zwei Kundinnen nach und bringt sie damit zunächst zum Stutzen und dann zum anerkennenden Lachen. Während André in der Küche zu tun hat, frage ich Vanessa aus.

„Ich habe morgen meinen letzten Tag“, sagt Vanessa. Sie ist Schulpraktikantin und geht auf die Ricarda-Huch-Schule. Aus Braunschweig kommt sie aber nicht, sondern: „Aus Frankfurt.“ Am Main oder an der Oder, um mal den alten Gag von Hape Kerkeling zu zitieren? „Am Main natürlich“, sagt sie augenzwinkernd. Im Zuge der Scheidung ihrer Eltern zog sie vor zwei Jahren mit ihrer Mutter nach Braunschweig, zurück dorthin, wo der Rest ihrer Familie lebt. Besonders bei Leuten, die aus südlicheren Gefilden stammen, interessiert mich, wie sie sich im beinahe sprichwörtlich verschlossenen Braunschweig zurechtfinden. „Mit der Zeit immer besser“, sagt Vanessa. „Die Eingewöhnung hat gedauert, aber wenn man es erst mal akzeptiert, dass man hier lebt, geht es.“ Braunschweig sei nicht so international und vielleicht daher nicht so offen wie Frankfurt. „Aber mir ist aufgefallen, dass es hier freundlicher ist“, sagt sie zu meiner Überraschung. Frankfurt sei sehr hektisch und schnell: „Hier ist es langsamer und freundlicher.“

Den Praktikumsplatz im Riptide habe Vanessa sozusagen auf den letzten Drücker bekommen, denn eigentlich wollte sie zu einer Werbeagentur, „ich möchte auch etwas im journalistischen Bereich studieren“, sagt Vanessa. Sie hatte auch bereits einen Platz bei einer Werbeagentur in Frankfurt. Das sei möglich, weil ein Erziehungsberechtigter, in diesem Falle ihr Vater, dort gemeldet ist. Doch dann gab es Differenzen, nur zwei Wochen vor Antritt, und die Sache platzte. „Dann musste ich in zwei Wochen nach Plan B gucken“, berichtet sie. Ansonsten hätte ihr die Schule einen Platz zugewiesen, das wäre womöglich an einer Stelle gewesen, die ihr nicht zugesagt hätte. Die Plätze bei Werbeagenturen waren aber bereits vergeben. „Da ist mir das Riptide eingefallen, weil ich hier auch als Kundin gerne bin“, sagt Vanessa. Sie schrieb eine Bewerbung, kam zum Gespräch – und ist nun hier. Das Riptide passe gut zu ihr: „Der Umgang ist gechillter zu den Kunden, es ist persönlicher als woanders.“ Sie habe sich gut hier eingelebt, auch wenn es nur drei Wochen waren, und hofft, dass sie in der Sommersaison wieder einspringen kann, da sie erfahren habe, dass es dann großen Bedarf gebe. „In der Sommersaison ist es ja noch etwas anderes als jetzt“, weiß sie. „Ich würde mich freuen, wenn es klappt.“

Während Vanessa spricht, tritt Chris seinen Dienst an und umrundet sie hinter der Theke. André pendelt zwischen Küche und den Tischen hin und her. Ihrem vorerst letzten Arbeitstag und der Zeit danach blickt Vanessa mit einiger Wehmut entgegen. „Das wird voll die Umstellung“, ahnt sie. Wegen der Zeugnisferien hat sie glücklicherweise am Montag und Dienstag noch frei. „Ich bin hier jeden Tag spät aufgestanden, habe Verantwortung gehabt“, resümiert sie. Dabei habe sie vorher noch nie in der Gastronomie gearbeitet. Doch sie stellt fest: „Man fühlt sich erwachsen, wenn man einen Beruf hat – zurück in der Schule merkt man schnell: Du bist ja doch nur ein kleines Schulkind.“ Zum Erstaunen ihrer beiden Chefs betont Vanessa, dass sie dank ihres Praktikums begriffen habe, „die Schule ist fürs Leben wichtig“, dass aber dieser Aspekt in der Schule bei vielen Schülern verloren gehe. Das Berufsleben sei hart und die Schule bereite die Schüler darauf vor: „Das ist wichtig.“

Jetzt interessiert mich doch, wie alt Vanessa ist. Und unglaublicherweise ist sie erst 16. Das überrascht mich, da sie doch, nun, um einiges älter, im Sinne von reifer, wirkt als andere Sechzehnjährige, die nur Chartsmusik hören und ihre Fingernägel lackieren. Für die hat Vanessa aber Verständnis: „Es ist schwer, aus seinem sicheren Leben auszubrechen.“ Doch wenn man dies einmal geschafft habe, stelle man fest, dass es sehr wohl einfach ist, ein individuelleres Leben zu führen, sagt Vanessa. Und ich meine, dass es auch dann einfacher ist, wenn man sich in einer Gesellschaft bewegt, in der Eigenständigkeit normal ist. „Dazu fällt mir eine Filmszene ein“, wirft Chris ein. Und ich weiß sofort, welche er meint: „Ihr seid alle verschieden!“ – „Ich nicht!“ Chris lacht mit und wundert sich dann, woher ich das wusste, dass er genau diese Szene meinte. Naheliegend, finde ich. Vanessa ist verwirrt und wir klären sie darüber auf, dass das eine Szene aus „Life Of Brian“ ist. Vanessa staunt, dass Chris und ich unabgesprochen die selbe Assoziation haben. Chris wandelt einen bekannten Spruch ab: „Zwei gutaussehende intelligente Männer…“ Und ich ergänze: „…und ein geiler Gedanke.“ Was mich über die Brücke zu ähnlich gelagerten Titeln von Filmen mit Bud Spencer und Terrence Hill erinnert und mich wiederum von dort aus direkt zum „Trio mit vier Fäusten“ bringt, was ja zwangsläufig wiederum zurück zum Riptide führt. Vanessa ist erneut verwirrt. Chris sucht zur Erklärung die DVD-Box zu der TV-Serie und erklärt, dass der Originaltitel eben „Riptide“ lautete, wie das Café: „Das fließt zu rund zehn Prozent in den Namen mit ein.“

Während Chris neue Platten auszeichnet, die ab morgen zum Verkauf stehen, räumt André das Café auf, wischt Tische ab, rückt Kissen zurecht. Ich setze mich zu Micha unter die Fehmi-Baumbach-Bilder, die das Café seit kurzer Zeit schmücken. Micha schwärmt von ihrer Kunst, schon immer. Auf unserem Tisch liegt ein Flyer für den nächsten Film der Reihe Sound On Screen: Das Universum-Kino zeigt am 12. Februar ab 19 Uhr den oscarnominierten Jazzfilm „Whiplash“, als Vorpremiere sogar. Anschließend spielt das Blue Moon Trio im Riptide.

Micha und ich schlürfen Fritz-Kola, die uns André mit je einer Physalis am Strohhalm serviert. Ausnahmsweise ist mal nicht Film unser Thema, auch nicht die übliche philosophische Selbst- und Weltbetrachtung, sondern Musik. Beim jüngsten Silver Club spielte Soundmann Matze die Band Something Like Elvis über die Anlage ab, eine polnische Post-Rock-Band, die mich sofort erwischte. Auch Micha steht zurzeit auf Post-Rock, sagt er: die französische Band Ez3kiel, deren neues Album „Lux“ morgen erscheint. „Die sind in Frankreich relativ populär“, sagt Micha. „Die machen aufwändige Bühnenshows, da ist immer ordentlich was los, aber den Weg nach Deutschland finden sie selten.“ Das bedauert Micha. „Ich habe schon überlegt, mal nach Frankreich zu fahren dafür, Paris, Marseille“, sagt er. „Vielleicht heute.“ Kennen lernte Micha die Band, weil sie das Titelstück zu „Requiem For A Dream“ coverte, auf einem Live-Album, „das hab ich auch“, und „Requiem For A Dream“ gehöre mit in Michas Lieblingsfilmliste. Da sind wir nun doch wieder im Kino gelandet. Auch diesen Film kenne ich nicht, und er schwärmt sofort von dem Originalstück, das man seiner Meinung nach aus Werbetrailern kennen müsse. Ich jedoch nicht. Im Original habe es das Kronos Quartet eingespielt. Das wiederum kenne ich, weil Faith No More einmal ein Stück von denen gesampelt haben: In „Malpractice“ auf der „Angel Dust“ verwendeten sie einen Ausschnitt aus dem „Allegro Molto“ von Dimitri Shostakovichs „String Quartet No. 8“, veröffentlicht auf dem Kronos-Quartet-Album „Black Angels“. Auf diese entdeckerische Weise begann ich seinerzeit, meinen musikalischen Horizont zu erweitern. Denn leichte Kost ist „Black Angels“ beim besten Willen nicht. Aber geil.

Während Vanessa die ersten Sitzkissen von den Bänken im Achteck ins Café holt – ja, dies ist ein Januar zum Draußensitzen –, flitzt Niclas mit hinein. Er sieht Micha und mich entspannt sitzen und begrüßt uns. Er selbst sitzt eigentlich nebenan bei Serge und will für ihn und sich Kaffee mitnehmen. Kurz informiert er sich bei uns über den aktuellen Stand zum geplanten soziokulturellen Zentrum K67 in der Kreuzstraße, das der Kufa-Verein ins Leben rufen will. Da stehen noch Genehmigungen von der Verwaltung und vom Stadtrat aus, kann ich ihm mitteilen. „Ich wünsche, dass es klappt“, sagt Niclas.

Vor knapp zwei Wochen stellten wir mit dem Silver Club und dem Kufa-Verein das K67 vor. Wir luden Initiativen, Vereine, Künstler, Bands und DJs ein, dazu Vertreter aus Verwaltung, Politik und anderen Einrichtungen sowie Veranstalter. Ein Riesenprogramm – und der Saal war brechend voll. Das Interesse an einem neuen soziokulturellen Zentrum, nachdem das vergleichbare FBZ vor zwölf Jahren sein Ende gefunden hatte, ist in Braunschweig augenscheinlich enorm groß. Freundlicherweise luden mich eine Woche später Roni und Kabel vom Braunschweiger Internetsender radio-emergency.de dazu ein, in ihrer Sendung „ROck KAffee“ über den Silver Club zu berichten. Live. Zwei Stunden lang. Uha, was war ich aufgeregt. Von den 20 bisherigen Veranstaltungen, vom Team, von der Themenfindung berichtete ich, und die beiden fragten mich auch, wie ich überhaupt dazu gekommen war. Tja: Der Grund war Chris gewesen, der mir seinerzeit angekündigt hatte, dass er bei der „Französischen Indiesound-Kulturnacht“ in der Krabbenkuppel auflegen würde. Das war der vierte Silver Club gewesen, ab dem fünften war ich involviert. Jetzt machen wir wohl erst mal eine kleine Pause – das alles ist doch recht kräftezehrend für uns.

Micha und ich wollen nun zahlen. Chris verrät die ersten Riptide-Pläne für 2015: „Wir feiern unseren achten Geburtstag.“ Der ist im September, aber das ist deshalb schon jetzt so bedeutsam, weil die Feier zum siebten Geburtstag ausfiel. Und Chris schwärmt von Vanessa: „Sie ist die erste und beste Praktikantin des Jahres.“ Vanessa, die hinter ihm die Kaffeemaschine reinigt, dreht sich grinsend um: „Wow, was für’ne Leistung.“ Doch Chris ist es ernst: „Sie war eine der besten und fähigsten in den sieben Jahren, mindestens unter den Top zwei.“

Bevor Micha und ich nun tatsächlich den Heimweg antreten, quatschen wir uns noch nebenan bei Serge fest. Niclas will sich vielleicht unserer „Birdman“-Gruppe anschließen. Wir werden viele sein, oh ja. Irgendwo auf dem Heimweg trennen sich unsere Wege: Micha geht erneut in den Videobuster. Dieses Mal begleite ich ihn nicht, aber nächstes Mal ganz gewiss wieder.

Matze Bosenick
www.krautnick.de

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