#91 Hüben & Heuer

Montag, 11. Mai

Sonne. Und eine Temperatur im zweistelligen Bereich. Draußen ist es so warm, dass man zur Abkühlung in die Rip-Lounge gehen kann. Sehr ungewohnt. Nachdem ich Jasmin begrüßt habe, die an diesem Montagmittag noch allein im Café Riptide zugange ist, setze ich mich mit einem kaffeehaltigen Erfrischungsgetränk an einen der Tische im Achteck und schmökere weiter in Toddns jüngstem Buch „Im Hohlraum der Jahre“ aus seiner Buchbauer-Reihe. Nebenan öffnet Helmut seine Strohpinte und setzt sich unter der kleinen weiß blühenden Kastanie neben dem Eingang in die Sonne. Einen Eingang weiter empfängt Stefan Kundschaft in seinem Grafikliteraturgeschäft Comiculture. Serges aufgeräumter Antiquitätenladen auf der anderen Seite des Cafés ist montags geschlossen. Wie so viele andere Einrichtungen auch: Gambit, Café Himmelhoch, Raute Records. Wie gut, dass das Riptide seine Atempause schon am Sonntag einlegt und ich am Montag hier im Achteck sitzen kann.

Und meine zwangsläufig in die Jahre gekommenen Körperteile wohlsortiert abhängen lassen kann. Die Samstagnacht verbrachte ich nämlich bis in die frühen Morgenstunden stehend, denn Henrik und ich beschallten das Nexus zur 16. Indie-Ü30-Party. So mühsam wie dieses Mal schleppte ich mich an den folgenden Tagen noch nie von der Matratze in die Senkrechte. Es ist eben auch schon mehr als eine Dekade her, dass wir die Ü30-Grenze überschritten haben. Aber wert ist es uns das immer wieder, es macht uns einen Heidenspaß, mit den Gästen zu feiern. Und mit dem Nexus-Team, bei dem wir uns seit nunmehr acht Jahren als Teil der Familie empfinden. Und wie kein Silver Club für mich ohne Schlepperei ein echter Silver Club ist, ist eine Indie-Ü30-Party keine echte ohne die Aufräumaktion am Sonntag. Mit einem erstaunlich großen Helferteam waren wir dieses Mal zwischen Zaun und Toiletten fleißig, und wie fast immer saßen wir vorher, zwischendurch und hinterher irgendwo auf dem Hof in der Sonne und ließen uns Unsinn einfallen. Letztes Mal eine schräge Punk-Adventsfeier, dieses Mal die Supermarkt-Sportart Pfand-Dart. Bullseye! Außerdem drückte mir Thomas zwei Vinyl-Tonträger in die Hand: Die neue Zehn-Song-Single seines Projektes Kackschlacht, fantastisch auf gelbem Vinyl, und die nach diversen CDrs erste LP seiner Band E-Egal, „Ich hätt gern Pommes zu der Wahrheit“. Ich fühle mich mehr als geehrt: Meine LP trägt die handnummerierte 1 von 500 Exemplaren. Diese LP stellen E-Egal ab dieser Woche auf einer kleinen Tour vor, am 21. Mai natürlich auch im heimischen Nexus.

Ebenso stolz bin ich auf die neue CD von Kaltmiete und wie sie in meine Hände geriet: Für Steffis Magazin Kult-Tour – Der Stadtblog will ich eine Geschichte über Murder At The Registry machen, deren Chef Tom mich dafür zu Bandproben in den Schimmelhof einlud. Anlass ist ein Gig an Pfingsten in Leipzig, aber nicht beim WGT, dem Wave-Gotik-Treffen, sondern beim Gothic Pogo Festival im Werk 2. Da Tom seine Band aus tragischen Gründen eine Weile lang ruhen gelassen hatte, rekrutierte er für den Neustart auch neue Mitmusiker, um das unvollendete Album „Notsorry“ doch noch auf die Bühne zu bringen. Neben Ralf von Frank The Baptist aus Berlin sind das Krusty und Martin von Kaltmiete. Die waren mir aus dem Trottelkacker-Umfeld schon immer ein Begriff, und bei ihrem Beitrag zu „100 Tage – 100 Bands“ seinerzeit im Meier hatten sie mich mit ihren Helmet-artigen Stop-and-go-Riffs mitgerissen. Im Magazin Sonic Seducer lustigerweise las ich davon, dass es mit „Auf Wiedervorlage“ nun das zweite Kaltmiete-Album nach satten 18 Jahren gibt. Und prompt drückte mir Krusty ein Exemplar in die Hand. Und ein weiteres für Interessierte; da führte ich Schepper an, was bei Krusty und Martin sofort auf Gegenliebe stieß.

Und schon schwebt Schepper ins Achteck und setzt sich zu mir an den Tisch. „Das Buch habe ich auch“, stellt er mit Blick auf Toddns Werk fest. Das gibt’s auch im Riptide zu kaufen. Er bestellt bei Jasmin einen Tee und ich einen Burger. Und er freut sich enorm über die CD. Derweil trifft André ein, schwer bepackt: Er bringt die Einkäufe mit einer Sackkarre vom Lieferfahrzeug ins Café. Peter schließt eben die Einraum-Galerie gegenüber der Strohpinte ab und vereinbart im Vorbeigehen ein Treffen mit Schepper, denn der soll bei der dritten Ausgabe des Sedanfestes im Handelsweg Ende Juni mit seinem Bass auftreten, wie schon beim ersten Mal. Schon nächste Woche Dienstag spielt Schepper in Hannover, im TAK-Theater, als Gast der Lesebühne Nachtbarden mit Ninia LaGrande, Tobias Kunze, Johannes Weigel und Kersten Flenter. Außer Schepper ist noch Sabrina Schauer zu Gast. Das wird ein Fest, ich fahre nämlich mit und freue mich wie er auf den Gig.

An kuriosen Gigs habe ich in diesem noch kurzen Jahr schon einige erlebt. Da kann man noch so alt werden, irgendwas Neues passiert immer. Zum Beispiel die Sache mit dem Vollplaybacktheater in Wuppertal und dem Punkkonzert in Essen. Eigentlich wollte das Vollplaybacktheater im Winter nach einer mittellangen Pause wieder auf Tour gehen, dieses Mal nicht mit den Drei Fragezeichen, sondern mit Pulp Fiction. Doch erlebten die Wuppertaler den Rock’n’Roll-Albtraum schlechthin: Der Tourmanager brannte mit der Kasse durch. Also brach das Ensemble schweren Herzens, aber notwendigerweise die Tour ab, die es auch nach Wolfenbüttel geführt hätte. Zu Hause auftreten hingegen ging auch ohne Tourmanager, also beraumten die sechs Darsteller vier Auftritte in ihrer alten Schule in Wuppertal an. Erst wenige Tage vorher fiel mir siedendheiß ein, dass ich ja Zeit hatte, hinzufahren. Über Airbnb versuchte ich, in Wuppertal einen bezahlbaren Schlafplatz zu finden, jedoch gelang es mir nur in Essen, die selbstauferlegte Auflage „bezahlbar“ einzuhalten. Sind ja nur ein paar Kilometer, und wenn ich schon mal da war, dann auch gerne für eine Nacht länger, es gab schließlich einige Abraumhalden, Landmarken und sonstige Dinge, die ich noch nicht kannte. Und mich trieb der Wunsch um, irgendwie in die Subkultur des Potts abzutauchen, was als Ortsfremder schwieriger ist als etwa in Hamburg, Dresden oder Berlin, wo die Subkultur als erste grobe Anlaufstelle eigene Viertel anbietet, wenngleich diese natürlich inzwischen touristisch erschlossen sind, aber immerhin. Jedenfalls erlebte ich am ersten Abend noch außerhalb des Ruhrgebiets das Vollplaybacktheater mit dem legendären Abschlussruf, der den Namen der jeweiligen Auftrittsstadt und eine bestimmte Musikrichtung kombiniert, in der Heimat des Ensembles, womit ich im Leben nie gerechnet hätte: „Wuppertal – Rock’n’Roll!“ Wie geil. Selig schlief ich in Essen bei meiner Gastgeberin auf dem Sofa ein, wissend, dass so ein Abend auf Ewigkeiten hin nicht zu überbieten wäre, aber nicht ahnend, dass so eine Ewigkeit auch mal keine 24 Stunden dauern könnte. Denn als ich frühstückte, brachte meine Gastgeberin eine Freundin mit, und mit der verstand mich mich sofort bestens. Als sie erfuhr, dass ich mich für Musik interessiere, erzählte sie, dass ihr Freund einer von vielen Betreibern einer Punk-Bar in Essen sei und dass da am Abend ein Konzert stattfinde: „Willst du mit?“ Was für eine Frage, na logo! Da war sie, die Chance, in die Subkultur abzutauchen. Wir tauschten Nummern aus und trafen uns abends in der Bar, dem Panic Room am Nordrand der Essener Innenstadt. Dort veranstaltete Die Partei ein Benefizkonzert mit vier Bands, um die Wahlkampagne für die eigene Oberbürgermeisterkandidatur zu finanzieren. Der Panic Room erwies sich als groß, verschachtelt und freundlich. Als meine Begleiterin mir ihren Freund vorstellte, der gerade die erste Band mischte, meinte der: „Braunschweig, da hab ich mit meiner Band auch mal gespielt, im Fire-Abend, ich hab sogar noch den Mitgliedsausweis.“ Okay. Das musste ich erstmal verdauen. Über was für Umwege ich überhaupt in Essen in dieser Bar gelandet war, und dann so eine Information. Meine Begleiterin schleppte mich weiter zur Theke, an der der eigentliche Chef des Panic Room ausschenkte. Wir verstanden uns sofort, und auch mit ihren anderen Bekannten kam ich schnell ins Gespräch. Irgendwann verließ sie mich, weil sie am nächsten Tag in den Urlaub wollte. Aber ich blieb ja nicht allein. So lernte ich unter anderem Keith kennen, den alle „Kies“ nannten, der sich nach einer Weile als zweiter Schlagzeuger von Eisenpimmel vorstellte und der mir wilde Geschichten aus dem Studio erzählte. Derweil brachte eine weitere lokale Punk-Größe von der Bühne aus den Saal zum Toben: El Fisch von den Lokalmatadoren schrammelte die Akustikklampfe vor seiner Wanne und ließ die Leute „Bottroper Bier“ von Jürgen von Manger mitgrölen, den Hit zur Melodie von „Griechischer Wein“. Höhepunkt war der Song „Ich bin voll wie die A 40“, über den selbst die Leute lachten, die regelmäßig auf der Ruhrpottautobahn im Stau stehen und auf diesen Vergleich eigentlich längst selbst gekommen sein müssten. Was für ein Spaß. Ich verließ irgendwann den Panic Room händeschüttelnd und leuteumarmend, als wäre ich Stammgast gewesen. Essen macht Laune. In jeder Hinsicht.

Der Riptide-Burger ist nämlich gut, wie immer. Bonanza-Burger mit Edamer. Und einer fantastischen Soße. Auch zu den Tortilla-Chips reicht mir Jasmin ein Schälchen mit einem gottlob nicht zu scharfen roten Dip. Ist schon schön, jetzt wieder draußen sitzen zu können, ohne zu frieren. Seit ein paar Tagen sind auch wieder die Schwalben in der Stadt, später als sonst, aber immerhin überhaupt. Das Gekreische ist überall zu hören. Es kann losgehen mit dem Sommer.

Kurz nach der Ruhrtour war ich in Leipzig, um die junge Kopenhagener Black-Metal-Band Solbrud zu sehen. Die hatte mir eine Freundin aus der Heimatstadt der Band empfohlen. Als sie sie dort gesehen hatte, mir Vorband vor 1000 Leuten, erwarb sie für mich die beiden LPs und ließ sie signieren, mit dem Hinweis, das sei für einen Freund in Deutschland. Darüber freute sich die Band so sehr, dass sie für mich ein Patch und ein Poster drauflegte. Darüber wiederum freute ich mich so sehr, dass ich der Band per Email dankte – schöne neue Welt. Die Antwort kam prompt und überraschenderweise auf Deutsch und enthielt den Hinweis auf drei Konzerte in Deutschland, in Chemnitz, Frankfurt am Main und Leipzig. Dummerweise an einem Wochenende, an dem ich bereits verplant war. Aber nicht am Leipzig-Montag. Am Morgen checkte ich daher noch schnell, wo genau die Band spielen sollte – und scheiterte. Das war nicht herauszufinden. Es gab vage Ortsangaben, aber nie mit genauer Adresse. Wie kann man eine aufstrebende Newcomer-Band aus einem Nachbarland so verstecken? Über investigative Suchmaschinenbefütterung ermittelte ich schließlich eine Handynummer, unter der man mir konspirativ die korrekte Adresse nannte. Also fuhr ich los. Zunächst verbrachte ich den Tag in der Südvorstadt, dann machte ich mich auf nach Plagwitz, um den offiziell nicht genau lokalisierten Clubraum ausfindig zu machen. Das gelang mir, mitten in einer den Graffiti nach zu urteilen angenehm linksalternativen Gegend: Es handelte sich um eine Erdgeschosswohnung in einem Altbau, ohne Logo und mit lediglich einigen flatterhaften kopierten Plakaten an der Tür. Drinnen erklärte man mir den Grund für die Geheimnistuerei: Wenn nur die Leute zum Konzert kommen, die wissen, wo der Clubraum ist, ist der übervoll. Da hatte ich also Glück. Bis die Band eintraf, unterhielt ich mich mit einem US-Amerikaner, der nach Leipzig ausgewandert war, ohne ein Wort Deutsch zu können, und der sich in Sachsen damit konfrontiert sah, dass es nicht eben die einfachste Gegend zum Erlernen der Sprache war. Dann kehrte die Band vom Essen zurück und arrangierte ihr Instrumentarium in einem kleinen Zimmer, das als Bühne diente. Die Augen der jungen Dänen weiteten sich vor Fassungslosigkeit, als ich mich zu erkennen gab: Der Typ mit dem Patch und der Email und der Freundin in Kopenhagen, der zwei Stunden Fahrt auf sich genommen hatte, um Solbrud zu sehen. Als wäre dieses Treffen nicht schon ein ausreichend besonderer Moment, baten mich die Musiker, nach dem Konzert für ein Foto zu bleiben, das sie mit dem Fan machen wollten, der so viel für sie auf sich nahm: „Wir haben vor 1000 Leuten gespielt, aber dass einer 200 Kilometer für uns fährt, ist mehr wert“, sagte einer. Als ich einige Tage später Scheppers Schwester in Roskilde besuchte und ihr davon erzählte, postete sie auf Dänisch unter das Foto auf der Facebook-Seite von Solbrud, dass ich gerade neben ihr stünde. Dieses Internet!

Das sorgte kurz darauf für eine weitere erzkrasse Geschichte: Im August veröffentlichten die Neuseeländer Shihad ihr jüngstes Album „FVEY“, gesprochen „Five Eyes“, nach einem Staatenbund. Killing-Joke-Sänger Jaz Coleman produzierte es, ebenso wie das Debüt vor über 20 Jahren, mit dem Shihad sogar im Brain gespielt hatten. Ich bekam das mit „FVEY“ zu spät mit, und als ich mich informierte, war die limitierte Fassung des Albums mit vier Liedern mehr längst vergriffen. Und zwar weltweit. Ich schrieb Band, Label, Management und Aberdutzende Plattenläden überall auf dem Globus und vornehmlich in Neuseeland an. Vergeblich. Selbst die Standard-Version war nur selten zu haben. Irgendwann bot aber jemand die limitierte Fassung bei Trade Me an, einem neuseeländischen eBay, zum Sofortkaufen für umgerechnet lachhafte zehn Euro. Mein Versuch, mich bei Trade Me zu registrieren, scheiterte an der Auswahlbox, in welchem Teil Neuseelands ich denn wohnte. Mist, die CD zum Greifgen nah, und dann das. Also schrieb ich den Trade-Me-Support an und erklärte meine Lage. Die sofortige Antwort lautete, dass man für mich keine Ausnahme machen könne, man müsse schon in Neuseeland oder Australien leben. Ich fragte, ob man nicht dem Verkäufer meine Emailadresse weiterreichen könnte. Antwort: Diesen Service bieten wir nicht an. Na, danke. Aber es gibt ja eBay, vielleicht hatte der Verkäufer dort einen Account unter dem selben Namen. Hatte er nicht. Ja, aber. Auf Trade Me konnte jeder ein Profil anlegen. So auch der Verkäufer, der dort allerdings lediglich Nicknamen, Wohnort und ein Bungeefoto hinterließ. Nickname im Wortsinne, er hieß Nicky. Da war auch mit Google nicht viel zu wollen. Außer vielleicht, wenn ich zum Namen und zur Stadt als dritten Suchbegriff „Facebook“ eingab. Und siehe da, das ergab Treffer: Ich fand – einen Immobilienmakler. Ernüchtert scrollte ich in seinem Facebook-Profil herum – und stieß dabei auf Bungeefotos. Eine Spur! Seine Webseite war verlinkt, dort war seine Emailadresse hinterlegt, denn anders konnte ich ihm als Nicht-Facbooker nicht auf die Pelle rücken. Ich schilderte ihm mein Anliegen und wartete. Nicht lang, dann kam die Antwort: „Gute detektivische Arbeit!“ Ich hatte ihn gefunden. Und damit „FVEY“ in greifbare Nähe gerückt. Er schlug mir einen Deal vor: Er wollte mir die CD nicht für Geld schicken, sondern für „Offline“, das jüngste Album der Guano Apes, das es in Neuseeland nicht gab. Je nun! Gerne, ich besorgte ihm stante pede die limitierte Fassung, Auge um Auge. Die Band kannte er, weil er mal eine Freundin aus Göttingen hatte. Unglaublich. Ich legte ihm noch eine CD von Blinky Blinky Computerband dazu, auf der auch meine Stimme zu hören war, und erfuhr im Gegenzug, dass er selbst einst Bassist der Rockband Redline war und jetzt als Vega Verona eher elektronische Musik macht. Seinen Teil dieser Geschichte notierte er zudem exklusiv für mein Krautnick-Onlinemagazin. Vielleicht treffen wir uns dieses Jahr sogar noch, er will Freunde in der Nähe von Leipzig besuchen. Ja, dieses Internet!

Eine Internetbekanntschaft mit echtem Leben füllte ich anschließend in Malmö: Dort lebt Leif, der in den 80ern in der in Schweden vergleichsweise populären New-Wave-Punkband mit dem Namen Unter den Linden spielte und jetzt mit seiner Frau Birgitta als Perma F Musik macht, unter anderem auch Remixe für Olafs Projekt Blinky Blinky Computerband. Olaf und er hatten sich per Facebook kennengelernt. Eines von Leifs Remix-Objekten war „Meine Freizeit“, ein Track mit meiner Stimme. Mit dieser Brücke nahm ich vor meiner Kopenhagenreise Kontakt zu Leif auf und fragte ihn, ob er Lust auf ein Treffen hatte. Und das hatte er. Mit dem Zug von Kopenhagen nach Malmö dauert es nur eine Dreiviertelstunde, wir trafen uns auf dem Kleinen Platz zum Kaffee – und quatschten uns nach allen Regeln der Kunst fest. Außerdem schenkte er mir seine jüngste CD „Cobra“ und spielte mir in seinem Auto seine neuesten Demos vor, als wir zum Turning Torso fuhren, einem verdrehten Hochhaus, das ich aus der großartigen Fernsehserie „Die Brücke“ kannte. Und seitdem mailen wir regelmäßig.

Ungefähr vergleichbar exklusiv beschenkt fühlte ich mich bei dem Treffen mit Murder At The Registry kürzlich nicht nur in Bezug auf die Kaltmiete-CD: Die vier ließen mich nämlich dankenswerterweise an ihren Proben teilhaben. Für sie selbst hatte das den Vorteil, dass sie sich mit einem Einmannpublikum zu einer gewissen Disziplin zwangen. Für mich war es ein exklusives Konzert der Gothicrocker. Es war fantastisch, sie spielten dynamisch, schufen Soundscapes bis Droneteppiche und erweiterten das klassische Spektrum in Richtungen, die weit vom Gothic Rock wegführten. Auf der Suche nach dem Proberaum war ich zuvor einer Herausforderung ausgesetzt gewesen: Tom schrieb etwas von „bei B4 um die Ecke“. Nun gibt es im Schimmelhof allerdings keinen Eingang B4. Zwischen B3 und B5 sind kaum fünf Meter Platz, eine weitere Tür findet sich dort nicht. Ich irrte auf dem für mich fremden Gelände herum und erspähte dabei ein Schild, das mir dafür umso vertrauter war: „Das KULT“, stand da. Als Supporter der Crowdfunding-Kampagne wollte ich jetzt aber wissen, wofür ich mein Geld gab. Die Tür stand sogar offen, und drinnen saß Direktor Thomas an der Theke und arrangierte Künstler Roland die Bühnendekoration für die Abendveranstaltung. Der neue Raum ist toll, er lässt es nicht an Atmosphäre vermissen, obwohl er wesentlich größer ist als der erste Raum am Hagenmarkt. Die Interimsspielstätte bei Gärtnerei Volk im Hasenwinkel hab ich zu meiner Schande verpasst. So lernte ich also auf der Suche nach Tom das neue KULT kennen, fand aber Tom nicht. Daher versuchte ich es in den Eingängen B3 und B5 überall dort, wo Musik hinter verschlossenen Türen zu hören war. Einmal störte ich einen mittelalten Schlagzeuger, der taktvoll vor sich hin probte, und einmal gelangte ich an eine Metal-Band, die ich nicht kannte. Dark Ambit heißen die, ich ließ mich gleich mal einen Sticker mit Internetadresse geben. Tom und Murder At The Registry fand ich schließlich tatsächlich um die Ecke, ganz woanders also. Der Umweg hatte sich aber gelohnt.

Auch der ein paar Tage zuvor zu einem Supermarkt, der normalerweise abseits meiner Wege liegt. Eigentlich war ich nur beim Hausarzt und wollte auf dem Weg in die Stadt noch ein paar Kleinigkeiten einkaufen. Das tat ich dann im Rewe in der Nähe der HBK. Am Kühlregal standen zwei übermannshohe junge Männer und unterhielten sich auf Dänisch. Ich konnte nicht anders, ich musste sie ansprechen, mit meinen spärlichen Dänischbrocken. Was sie deutlich erfreute, war doch ihre Erfahrung, dass die Leute hier ansonsten nicht mal Englisch sprachen. Aus Kopenhagen waren sie, erfuhr ich, und im Urlaub. „Wir besuchen einen Freund“, sagte einer. Wie cool, in Braunschweig. „Er spielt hier Fußball.“ Soso. Äh. Moment. Bei der Eintracht? „Ja, er heißt Emil Berggreen.“ Es war ein Montag, und an dem Abend bestritt die Eintracht ein Heimspiel gegen Erzgebirge Aue. Der erst im Januar nach Braunschweig gekommene Berggreen schoss in dieser Partie sein zweites Tor für die Eintracht, die damit sogar einen Rückstand in einen Sieg gegen Aue umkehrte. Das muss toll gewesen sein für seine beiden Freunde, die extra aus Kopenhagen zu Besuch gekommen waren.

Unseren Besuch im Riptide brechen Schepper und ich jetzt ab, auch für uns hat es sich natürlich gelohnt. Meine Bestellung ist eingetroffen, wie ich weiß, die LP „Geocidal“ von Tētēma, dem neuen Projekt von Mike Patton. Das ist ein Kerl. Nur wenige Tage vor der Comeback-LP „Sol Invictus“ seiner kommerziell erfolgreichen Band Faith No More bringt er den akustischen Gegenentwurf dazu unters Volk. Mit dem experimentellen Jazzmusiker Anthony Pateras machte Patton, nun, experimentellen Jazz. Wenn man so will. „Geocidal“ lässt sich nicht kategorisieren, birgt aber latente Ähnlichkeiten zu anderen Experimenten Pattons, wie Fantômas, Maldoror, Kaada/Patton oder seinem vertonten Kochbuch „Pranzo oltranzista“. Es stresst sehr angenehm.

Wir hingegen sind sehr angenehm entstresst. Ich freue mich schon auf Dienstag, mit Schepper nach Hannover und dort seinem Bassspiel lauschen. Und Schepper freut sich schon auf die nächste Ausgabe von Sound On Screen nur zwei Tage später, am 21. Mai, wenn im Universum der Film „Super Duper Alice Cooper“ mit Lesung des Trios Read ‚em All gezeigt wird. Ist das nicht Himmelfahrt? Auch eine schöne Art, diesen Tag zu begehen.

Matze Bosenick
www.krautnick.de

1 Kommentare

  1. moin,

    unglaublich, was der matze immer alles erlebt und welche schrägen connections da immer draus entstehen. ich staune immer wieder… schön, dass du alles aufschreibst und dass wir das auch noch lesen dürfen. 🙂 danke matze…

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