Samstag, 24. Oktober 2015
Die Feindschaft zwischen Braunschweig und Hannover, der zweitgrößten und größten Stadt in Niedersachsen, ist älter als der Fußball, das wissen nur viele selbsternannte Anhänger dieser Sportart nicht, die sich bis aufs Blut und mit der Rechtfertigung, das sei ein Ausdruck ihrer Leidenschaft, bekriegen. Als die Welfen im Siebzehnten Jahrhundert eine Machtverlagerung von der Oker an die Leine einleiteten, legten sie damit den Grundstein für diese Animositäten, die spätestens dann in handfeste Rivalitäten mündeten, als nach dem Zweiten Weltkrieg das neu gegründete Land Niedersachsen den jüngeren Nachbarn Braunschweigs, der von seinen abgewanderten Fürsten sogar den typischen Dialekt übernahm, zum Regierungssitz machte. Lokale Kabbeleien mit dem Herz auf der Zunge haben an sich ihren Reiz, bisweilen sogar über die Grenzen ihrer Region hinaus: „Lieber Fünfter als Fürther“, sagt etwa der Nürnberger; „Lieber verlieren als Siegen im Sauerland“, sagt man in Olpe; der Münsteraner spricht den Namen seines Rivalen Coesfeld gerne „Zöhsfeld“ statt „Kohsfeld“ aus; „Das Beste an Bremen ist die Autobahn nach Hamburg“, heißt es ebendort; „Was kriegt ein Offenbacher, der zwei Jahre unfallfrei gefahren ist?“, fragt der Frankfurter, und reicht die Antwort nach: „Die Null vor dem Frankfurter Kennzeichen gestrichen.“ Vor ein paar Jahren erklomm ich die St.-Andreas-Kirche, die höchste in Braunschweig, und erreichte die oberste Plattform mit der großen „In dieser Richtung liegt“-Rosette, über die sich ein Paar beugte, und ich hörte gerade den Dialog, als sie sagte, „Düsseldorf ist aber drauf“, und er mutmaßte, „Wahrscheinlich, weil es Landeshauptstadt ist.“ Ich folgerte laut, dass sie aus Köln sein müssten, und sie blickten mich erstaunt an: „Hört man das?“ Ja, aber nicht am Dialekt, sondern am Inhalt.
Solches ist charmant und rührig. Zerstörte Straßenbahnen in Braunschweig und Schweine mit der Rückennummer des am Suizid verstorbenen 96-Torwarts Robert Enke in Hannover hingegen sind in keiner Weise tolerierbar. Dabei geht es auch sympathisch. Mit Blick auf den nahenden Reformationstag etwa, der in diesem Jahr erstaunlicherweise wieder auf Halloween fällt, die Feststellung, dass die Braunschweiger Protestanten froh sind, dass Martin Luther am 31. Oktober 1517 in Wittenberg nur 95 Thesen an die Schlosskirche tackerte.
Mir selbst ist Hannover eher egal. In den Neunzigern fand ich, dass der Stadtteil Linden das Braunschweig Hannovers sei. Damals hatten wir noch das FBZ und andere mittelgroße alternative Veranstaltungsorte, heute muss ich für manche attraktiven Konzerte tatsächlich an die Ihme oder die Leine fahren. Was ich seinerzeit auch noch regelmäßig für Kinofilme tat, die im Apollo oder in einem der vier Kinos am Raschplatz liefen. In der Faust feiere ich regelmäßig die schweiß- und lachtränentreibenden Gigs von Eläkeläiset, beim städteverbindenen Festival Theaterformen sah ich diesen Sommer endlich F.S.K., mit dem Chef des Wolfsburger Kunstvereins, Justin Hoffmann, an Gitarre und Mikrofon. Als New Model Army kürzlich beim Maschseefest für lau auftraten, wäre ich normalerweise natürlich dabei gewesen; ich gab selbstredend Schepper den Vortritt, der zeitgleich in der KaufBar furios seinen Bass begniedelte. Hannovers Verkehrsführung finde ich sogar noch unübersichtlicher als die in Braunschweig, und außerhalb Lindens – daher mein Statement – ist mir die Stadt einfach zu gesichtslos. Natürlich, wenn ich dort Freunde besuche, habe ich mit ihnen selbstverständlich Spaß; das ist die Kunst des kundigen Gastgebers, jeden Ort zum Wohlfühlnest zu machen, etwa, indem man gemeinsam den für Touristen erstellten „Roten Faden“ durch die Stadt verfolgt und dabei im schrägen Aufzug oder der Minialtstadt landet. Doch nicht mal mehr der Plattenladen 25 Music lockt noch ausreichend genug, nachdem dessen Braunschweiger Ableger Ran7 schloss, schließlich haben wir in Braunschweig seit acht Jahren eine adäquate Alternative: das Café Riptide.
Dort will ich, weil dieses der 96. Blogeintrag ist und Chris als einer von zwei Caféchefs mich explizit darauf hinwies, die Gäste auf ihre Hannovertoleranz testen. Damit beginne ich in der Riptidenachbarschaft, und zwar bei Serge, der zusammen mit Niclas gemütlich rauchend und sinnierend in seinem kleinen, nicht nur dekorativ mit Büchern bestapelten Laden sitzt. „Da kann ich gar nichts Positives zu beisteuern“, wehrt Niclas zunächst ab, nachdem er die randvollen Kaffeetassen, die er sich und Serge aus dem Riptide mitbrachte, zielsicher und schwappfrei abstellte. „Unabhängig zur Rivalität der beiden Fußballvereine, die ich beide nicht leiden kann“, setzt er nach. „Ich denke immer an diese gigantische Form eines Volksfestes namens Maschseefest, da läuft’s mit kalt den Rücken runter.“ Serge grinst. „Und ich hab mir da den Rücken zerstört, als ich mit Fiene einen Monsterteppich quer durch die Stadt geschleppt habe.“ Vor seinem inneren Auge rollt sich die Erinnerung daran wieder aus: Aus dem fünften Stock schleppten die beiden das Exemplar in die Straßenbahn, von dort in den Bahnhof und durch ihn hindurch bis zum Zug. „Wir haben sehr viele sehr amüsierte Blicke geerntet, aber mein Rücken fand es nicht so lustig.“ Die Ausmaße jenes Bodenbelags kennt er nicht mehr, er gibt sie grob mit „drei mal fünf Meter“ an, „eine Riesenrolle“.
Serge stellt mit Zugeständnis des Erzählenden fest, dass das nicht zwingend mit der Stadt zu tun habe, und führt dann selbst aus: „Mir ist Hannover erinnerlich, weil ein langjähriger Freund in Hannover wohnte und ich ihn regelmäßig besuchen war und ich die Stadt zwangsläufig kennen gelernt habe, obwohl mich Hannover als Stadt nie interessiert hat.“ Mit einer Ausnahme: „Der Flohmarkt am Leineufer war immer deutlich interessanter als die in den Braunschweiger Gebieten, von daher ist mir Hannover in angenehmer Erinnerung.“ Dort stehen auch die Nanas von Niki de Saint Phalle. Serge nickt: „Wunderbar.“
Jetzt fällt Niclas doch noch etwas ein: „Meine allererste Jugendliebe, mit achtzehn, verbinde ich damit – damals bin ich von Hannover geflogen, nach München.“ Er sinniert: „Das ist jetzt fast zehn Jahre her.“ Damit könne er nun doch etwas Positives mit Hannover konnotieren: „Ausnahmsweise.“ Serge kommt nun doch auf den gegenwärtigen Zankapfel zu sprechen: „Hannover 96 schien mir immer eine Bundesligamannschaft zu sein, und zwar immer schon, die keine Berechtigung hat, in der Bundesliga zu sein.“ Sie tauge schlichtweg nicht zur Identifikation und habe es nach seinem Kenntnisstand nie geschafft, nennenswerte Erfolge zu erspielen. Wikipedia spricht da etwas latent anderes: Deutscher Meister 1938 und 1954, DFB-Pokalsieger 1992, zwei Teilnahmen an der UEFA-Europaliga 2011 und 2012 sowie eine zwangsläufig beim Europapokal der Pokalsieger 1992. Die Braunschweiger Eintracht war nur einmal Meister, 1967, niemals DFB-Pokalsieger und dreimal UEFA-Cup-Teilnehmer, jeweils in den Siebzigern. Aber so ist das mit dem Image. „Hannover ist einfach langweilig“, fasst Niclas zusammen. Serge ergänzt: „Hannover ist wie Kassel.“ Da muss er selbst lachen.
Es wird Zeit, ins Riptide zu gehen. Micha kündigte an, noch vorbeikommen zu wollen, und Schepper will nach seiner Bassprobe ebenfalls in den Handelsweg radeln. Sina und Nicolai lassen es den am Samstagnachmittag angenehm vielen Gästen an nichts mangeln. Viele sitzen draußen im Achteck; der Goldene Oktober macht seinem Namen alle Ehre. Drinnen wirbt ein großes Plakat für die Plattenladenwoche, die heute endet. Auf der Zeile mit LP-Boxen zwischen Eingang und Theke steht auch eine kleine Kiste mit 7“es, die die Band Loudog und das Riptide-Label zugunsten von Flüchtlingen verkaufen. Sandra und Alex tragen einen erheblichen Stapel LPs an die Kasse. Ich frage sie nach ihrem Bezug zu Hannover. „Braunschweig hat mehr Charme“, findet Sandra. Alex nickt: „Ein bisschen gemütlicher, Hannover ist ein bisschen…“ Sandra ergänzt: „Überbewertet.“ Alex fährt fort: „Vor allem Linden – man kann zwar gut weggehen, aber das Steintor ist familiärer, Linden ist so möchtegern, wie Kreuzberg in Berlin, auf die Schnelle cool gemacht, aus dem Nichts.“ Das Paar wohnt in keiner von beiden Städten, sondern in einem Dorf zwischen Peine und Vechelde, in Schmedenstedt. Alex wuchs in Stuttgart auf, vielmehr in Esslingen, und später in Spanien. Da der Vater aus Ilsede kam, kehrten sie in die Gegend zurück und landeten eben in Schmedenstedt. „Auf jeden Fall finde ich Braunschweig bodenständiger“, sagt Sandra. „Gemütlicher, nicht so aufgesetzt“, fügt Alex an. „Echte Leute“, findet Sandra. „Obwohl wir in Hannover auch feiern gehen“, wendet Alex ein. „Ein Kumpel macht Techno und legt im Chez Heinz auf, das ist auch nicht schlecht, für einen Abend.“ Das bringt Sandra zu einer Einschränkung: „Das einzige, was ich ein bisschen schlecht an Braunschweig finde: In der Feierszene sind die Clubs ein bisschen sehr klein.“ Und fast alle in einer Hand, werfe ich ein, doch Alex sagt: „Das ist in Hannover aber auch so.“ Dabei fällt sein Blick auf die Zeile mit den ausgestellten LPs neben der Kasse: „Kendrick Lamar, da ist sie ja!“ Er greift nach der Platte und legt sie auf den Stapel in Sandras Hand. Nicolai nimmt sie an der Kasse entgegen und notiert sie auf dem Verkaufszettel, darunter Alben von den Fugees, Mellowmen und Ellen Alien. „A Tribe Called Quest habt ihr nicht da?“, fragt Sandra. Nicolai kann sie im Computer nicht finden, sagt: „Da muss ich im Lager gucken“ und dreht sich kurz nach rechts um.
In den LPs zwischen Theke und Tür stöbern auch Anna und Ben. Jener trägt den jüngsten gemeinsamen Nachwuchs in einem Tuch vor dem Bauch und schiebt den zweitjüngsten in einer Karre vor sich her: Theo ist genau einen Monat alt und Lina fast zwei Jahre. „Gar nicht so richtig“ kennt Ben Hannover, sagt er, während er durch das Hip-Hop-Fach blättert. „Ich glaube, ich war einmal da, ganz kurz nur.“ Anna erläutert: „Wir sind seit zwei Jahren erst in Braunschweig.“ Ben ergänzt: „Und busy.“ Theo und Lina lassen dies erahnen. „Eigentlich mochten wir es da“, überlegt Anna. „Wir fanden es städtischer.“ Ben spezifiziert: „Als Braunschweig.“ Die beiden kommen aus Berlin, allerdings nicht als gebürtige Berliner, sondern als Studenten, als die sie sich dort kennen lernten. „Dann sind wir nach Braunschweig gegangen zum Studieren“, sagt Ben. Er kommt aus dem Rheinland, sie aus Stuttgart. Jan betritt das Café, Ben und er umarmen sich, vorsichtig, um Theo nicht zu wecken. Sie sind Brüder, „und unabgesprochen beide aus Berlin hier“, sagt Jan. „Das Schicksal hat uns in Braunschweig wiedervereint“, deklamiert er theatralisch. Ich frage ihn natürlich auch nach Hannover. „Ich war schon mal da“, sagt er. „Ich hab in der Elf eine Klassenfahrt zur Expo gemacht und war vor zwei Wochen auf einem Konzert – und wenn ich mal einen Flughafen brauche.“ Das Konzert war das von Sales im Café Glocksee, „eine Ami-Newcomer-Band“, erklärt Jan. „Es war ein gutes Konzert in einer schönen Location.“ Ben findet eine LP von Delinquent Habits im Fach und fragt Nicolai nach dem Preis, der ausnahmsweise nicht auf der Hülle steht. „Öhm, stimmt“, bestätigt Nicolai. „Die haben wir aber nochmal.“ Das weiß Ben: „Ja, neu, diese ist aber gebraucht.“ Nicolai mutmaßt: „Diese ist aber wahrscheinlich teurer als die Neue, wegen der älteren Pressung.“ Er stellt die LP beiseite, um Chris und André auf den fehlenden Preis hinzuweisen. Delinquent Habits sind eine Latino-Hip-Hop-Band aus Los Angeles, erklärt mir Ben. Und stutzt: „Darf man noch ‚Latino‘ sagen?“
„Condition Hüman“, die neue LP von Queensrÿche, fischt Michael aus dem Metal-Fach und studiert die Rückseite. „Meine Meinung zu Hannover ist Braunschweig-untypisch“, warnt er mich. „Ich habe eine Eintracht-Braunschweig-Dauerkarte – was untypisch ist, ist, dass ich die ganzen Anti-Hannover-Sachen nicht mehr hören mag, da ich da auch arbeite und auch viele Freunde habe, auch Hannover-96-Fans, die ich sehr schätze.“ Die Sache ärgert ihn: „Das ist vorbei!“ Es sei unmodern, sich gegenseitig so anzuhassen. Und doch: „Nichts desto Trotz, wenn’s um den Fußball geht, ist mir die Eintracht Braunschweig lieber als Hannover 96.“ Michael widmet sich wieder der Queensrÿche-LP und sinniert: „Eigentlich wäre mir was anderes lieber, aber das scheint nicht da zu sein.“ Er sucht nämlich die neue LP von Avatarium, „da spielt der Bassist von Candlemass, das ist seine neue Band, mit einer Frau als Sängerin“. Sina bringt ihm nun sein bestelltes Getränk, er nimmt dies und die LP mit an einen der raren freien Tische.
Am Nachbartisch lassen sich Lilah, Nikina und Anja nieder. „Ich mag Hannover nicht so“, sagt Nikina gleich. „Weil ich in Hannover ein paarmal feiern war mit einer Freundin.“ Früher habe sie Hannover „sehr gut“ gefunden und sei öfter „zum Shoppen“ hingefahren und dann aus einem kleinen Dorf bei Alfeld nach Braunschweig gezogen. „Ich war ein paarmal in Hannover feiern“, schließt sie den Kreis. „Einmal standen wir vor ’nem Club und haben uns mit dem Türsteher unterhalten, wo man gut feiern kann, und der hat einen Club gesagt, und ich, ‚kenn ich nicht, ich bin nicht von hier‘, dann hat er gesagt, ‚woher‘, und ich, ‚aus Braunschweig‘ – und er macht ‚ih‘ und sagt einen blöden Spruch, ‚kannste gleich wieder nach Hause gehen‘.“ Sie regt sich bei der Erinnerung daran immer noch auf. „Es gab viele Situationen, wo ich gesagt habe: keine Lust mehr“, sagt sie genervt. „Einmal hat sich ein Mädchen übergeben, ihr war schlecht, wir haben ihr was zu trinken gegeben, sind ins Gespräch gekommen, haben ihr ein Kaugummi gegeben, und sie fragt, ‚wo kommst du her‘, ‚aus Braunschweig‘, ‚ih‘ – und ich dachte: Gib mir mein Kaugummi wieder.“ Sie weiß, dass der Streit zwischen Hannover und Braunschweig auf „ganz alten Geschichten“ basiert; und das wissen nicht viele. In Braunschweig habe sie solches Verhalten überdies noch nicht erlebt.
„Bomberjacke“, nennt Anja ihren ersten Gedanken an Hannover. „Ich hab mir damals ’ne Bomberjacke gekauft bei Cash & Carry, die haben so Gothic-Sachen und Creepers und sowas.“ Sie grinst: „Man war zu Hause nicht begeistert davon.“ Die Bomberjacke war eine Besonderheit: „Das war so eine mit Pelzkragen, so blau-schwarz.“ Da fällt ihr ein: „Ich hab ein Jahr da gelebt und gearbeitet, ich hab ein Freiwilliges Soziales Jahr in einem Altenheim gemacht, in Linden, und ich war ganz viel im Rotkäppchen und in der Volksküche.“ Das Rotkäppchen kenne ich auch noch, das gibt es nicht mehr, der Nachfolger heißt „Und der böse Wolf“. Gegenüber war das Apollo-Kino, „da bin ich immer hingegangen und hab Filme geguckt, Achtundachtzig, Neunundachtzig war das“, sagt Anja. „Und als ich dann hier herkam, war ich enttäuscht: In Hannover kommst du aus dem Bahnhof raus und bist in der Stadt, in Braunschweig kommst du aus dem Bahnhof raus und da ist gar nix.“ Immerhin haben sie dort moderne Anzeigetafeln, wirft Nikina ein: „’Willkommen in der Löwenstadt‘, da denkt man: Remmidemmi.“
Lilah, die sich für mich überraschend als Nikinas Mutter herausstellt, kennt Hannover „gar nicht“, wie sie sagt. „Ich kenne in Hannover nur den Flughafen – das ist das einzige, das mich an Hannover erinnert: hin und her zu düsen.“ Für ihr Desinteresse hat sie eine Erklärung: „Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich lieber das Landleben mag, die Natur, und freu mich darauf, ins nächste Land zu fliegen, wo nix los ist.“ Sie wohnt noch in dem Dorf bei Alfeld, aus dem Nikina weggezogen ist. „Da habe ich ein Häuschen, um mich herum nette Menschen, und ich kann mir vorstellen, alles zu leben, was ich leben will.“ Sie lächelt, während sie das sagt. Gestern etwa, berichtet sie, hatte sie einen Afrikaner bei sich zu Gast, dem brachte sie bei, auf der Panflöte zu spielen. Man merkt ihr an, dass sie glücklich ist. „Wenn ich könnte, würde ich am Strand leben, in einer Höhle, mit Feuer.“ Auf den Strand immerhin könnte ich mich einigen. „Ich mache das zweimal im Jahr“, erklärt Lilah: Wenn sie kann, dann fliegt sie nach Kreta in eine Kommune und lebt dieses Traumleben.
Der Tisch der drei füllt sich, Nicolai bringt Anjas Burger. Ich frage sie, woher sie sich kennen. Lilah beugt sich zu Anja und nimmt sie in den Arm: „Sie ist meine allerbeste Freundin auf der Welt“, strahlt sie. Beide erzählen abwechselnd, dass sie sich in einer spirituellen Partnerbörse im Internet kennen lernten. Sechs Jahre lang haben sie nur telefoniert, bis sie sich erstmals trafen. Heute wollen sie in den Rebenpark gehen, wo einige Mitglieder des Silver Clubs eine Kneipe mit Kulturprogramm ins Leben riefen und diese im Wechsel mit dem Kufa-Verein bespielen. Heute tritt dort Akustikpunk Marc D auf: „Den will ich mir angucken“, sagt Anja. Lilah kennt ihn nicht nur ebenfalls: „Er hat bei mir gelesen“, berichtet sie. Kleine Welt mal wieder. „Das war ein schöner Abend, Feuer draußen, Gitarre spielen.“ Jetzt bringt Sina Lilah einen Bagel und ich räume meinen Platz.
Denn Arni trifft ein. „Ich wollte dich grad anrufen, dachte dann aber, nee, gehste einfach hin“, sagt er. Das klappt bei uns. Vergangene Woche sprach ich bei ihm auf den Anrufbeantworter, dass ich um einen Rückruf wegen einer potentiellen gemeinsamen Abendverbringung bäte, und machte mich ohne Ziel auf in die Innenstadt, beständig auf die Vibration meines Telefonapparates lauernd. Bei Saturn im Keller klopfte mir Arni auf den Rücken und sagte, dass ich die CD, die ich gerade betrachtete, nicht kaufen sollte. Ich dankte ihm für den ungewöhnlichen Rückruf. Seinen Anrufbeantworter hatte er noch gar nicht abgehört. Das wurde dann noch ein lustiger Abend.
Und jetzt kommt auch Schepper dazu, mit einem verpackten Bass auf dem Rücken. Wir bestellen uns Kaffee und Tee und sammeln uns am Fenster mit den Reinhörgeräten. Arni erzählte ich gerade von meinen Hannover-Fragen, daher will ich bei Schepper neu starten: „Um dich auch noch mal abzuholen“, setze ich an und er unterbricht: „Ich bin hier.“ Arni lacht verdutzt: „Ach, jetzt, wo du’s sagst!“
Also, Hannover, die Herren. „Ich hab da mal gewohnt“, beginnt Schepper. „Ich hab da mal studiert, das heißt, ich hab’s versucht.“ Arni grinst: „Das ist fast die gleiche Antwort wie bei mir: Ich hab da mal gewohnt.“ Schepper fährt fort: „Ich hab da mal Maschinenbau studiert und es erfolgreich abgebrochen.“ An den Wochenenden sei Schepper immer nach Hause gefahren, „ich hab da meine Band gehabt“. In Hannover habe er nur gelernt: „Nix After Life, After … Wie sagt man? Rock’n’Roll.“ Dann sei er nach Braunschweig gekommen: „Hier ist schöner.“
Plötzlich springt Arni auf: „Da steht ja die neue Motorpsycho.“ Da, wo bis vor einiger Zeit noch Kendrick Lamars LP stand, auf der Zeile neben der Kasse nämlich. „Ich hab mir grad die neue Rush-DVD bestellt“, erzählt Schepper. „Die bestell ich gefälligst hier, support your local heroes.“
Arni muss nach Hause, Schepper und ich in die Martinikirche, dort tritt gleich Barnim auf mit seinem Akasha Project, das wollen wir erleben. Daher frage ich noch schnell Sina und Nicolai nach ihren Hannoverbezügen. „Ich hab in Bremerhaven gewohnt“, erzählt Sina. „Da sind wir ab und zu nach Hannover gefahren, in den Sommerferien, wir sind Einkaufen gewesen – aber sonst nichts.“ Sie zuckt mit den Schultern und bringt benutzte Kaffeetassen in die Küche. „Da ich lange in Hamburg gewohnt habe, ist Hannover für mich die Stadt ohne Charakter“, stellt Nicolai klar. „Scorpions und sowas fällt mir da ein, keine guten Dinge.“ Sina lacht. Nicolai fährt verächtlich fort: „Messestadt und sowas – eine Stadt, in der ich leben muss, soll für mehr als ihre Messehallen bekannt sein.“
Genug mit Hannover. Nach dem überwältigenden Akasha-Gig in der großartig illuminierten Kirche werfen Schepper und ich einen Blick auf die Dreharbeiten zu Marc Fehses neuem Film „Sky Sharks“ und nehmen dann noch einen Absacker im Riptide ein. Inzwischen sind Chris und André da, denn heute ist Party angesetzt, mit Helge alias Monsieur le Supersexuel. Ihn habe ich lange nicht gesehen. Wir drücken uns, aber Schepper und ich wollen beide nach Hause, deshalb werde ich sein Set leider nicht verfolgen können. Seltsam, Micha war heute doch gar nicht da. Na, bald ist Filmfest, da werde ich wieder diverse Stunden neben ihm verbringen.
PS: Alles Gute, Chris!
Matze Bosenick
www.krautnick.de