Samstag, 20. Mai 2017
„Hier hab ich noch nie gesessen, seit dem Umbau“, sagt Micha, als wir uns auf die neuen Bänke an der Wand im Café Riptide niederlassen, um unsere Kaffeekola zu trinken. Stimmt, seitdem verbrachten wir unsere Zeit entweder draußen im Achteck unter der Segeltuchplane oder gleich stehend am Tresen. Heute nicht, wir waren schon ein Eckchen zu Fuß unterwegs und lassen uns nun von unserer verringerten Kondition in die Knie zwingen. Ist ja auch schön. Neu sind hier außerdem die weißen Kunststofflampen, die die Tische zieren und zu dieser Tageszeit noch ausgeschaltet sind. Sie sind unverkabelt und erwecken den Eindruck, schwimmfähig zu sein. Am hellichten Tag endet da unsere Neugier; nicht die der Gäste am Nachbartisch, die den Mechanismus zum zweistufigen Illuminieren herausgefunden haben und damit herumspielen. Süß.
Vorhin trafen Micha und ich uns auf dem Kohlmarkt. Überraschenderweise findet heute „Braunschweig international“ statt, ein, zwei Wochen früher im Jahr als üblich, daher habe ich damit noch gar nicht gerechnet. Ohne Micha hätte ich das glatt versäumt, was ich dann doch sehr bereut hätte. Schon wieder eine regelmäßige Veranstaltung, die dieses Mal früher stattfindet als gewohnt; Rekordhalter ist die Kulturnacht, die vom August in den Juni vorverlegt wurde. Beziehungsweise strenggenommen vom August des vergangenen Jahres auf den kommenden Juni verschoben, denn das zweijährige Fest fiel 2016 aus.
Auch das Café Riptide nimmt als Austragungsort an der Kulturnacht am 10. Juni teil, die Pins zu fünf Euro, die den Eintritt zu allen Veranstaltungen ermöglichen, preist ein Schild auf der Theke zum Verkauf an. Das wird wieder eine Rennerei: Schepper spielt gegenüber in der Einraumgalerie, Die Müller Verschwörung, nur echt ohne Bindestrich und vormals noch Müller und die Platemeiercombo, spielt in der Sparkasse Dankwardstraße und Stef und Micha A., die unter anderem rund um Kult-Tour Der Stadtblog multimedial aktiv sind, veranstalten eine Party auf dem Karstadt-Parkhausdeck. Im Riptide stellt Roberta Bergmann „Vom Suchen und Finden“ aus, ab 22 Uhr lesen Axel Klingenberg, Frank Schäfer und Till Burgwächter als „Read ‚em All“ Texte rund um Heavy Metal und Artverwandtes. Die Alphorngruppe des Posaunenchors im tatsächlich idyllischen Kreuzgang der Brüderkirche klingt auch noch sehr reizvoll.
Aber zurück auf den Kohlmarkt: Bevor wir uns an die internationalen Stände wandten, zerrte mich Micha in die Stadtbibliothek zum Flohmarkt. Er hatte schon fette Beute gemacht und wusste, dass die Mitarbeiter dort unablässig die Kisten neu auffüllten. Unersättlich, der Mann! Darin, nicht nur, ähneln wir uns. Doch im Gegensatz zu ihm ging ich mit leeren Händen wieder aus dem schlossähnlichen Gebäude heraus. Das Angebot war mir zu groß und ich wusste ja, dass im Riptide noch zwei bestellte Platten auf mich warteten.
Dafür deckten wir uns danach auf dem Kohlmarkt mit Leckereien ein. Die thailändischen Zucchinipuffer und die haitianischen gebackenen Bananen waren meine Speisen der Wahl; wie üblich, aber die sind nun mal auch gut, und der Menschenmix macht immer wieder Laune. Die ganze Welt in Braunschweig.
Erwartbar wäre die ganze Welt für mich auch in Århus gewesen, das ich vor zwei Wochen besuchte, weil es Europäische Kulturhauptstadt ist, eine von zweien in diesem Jahr, aber man hat es dort aus unerfindlichen Gründen versäumt, im Jahr der Kulturhauptstadt die Kulturhauptstadt überhaupt in Erscheinung treten zu lassen. Die Museen Aros und Moesgaard sind auch den Rest des Lebens über offen und besuchenswert, aber gut, dann habe ich die eben auch endlich mal gesehen. Besonders das Aros mit dem begehbaren Regenbogen von Óláfur Elíasson auf dem Dach ist jede noch so kurze Reise wert.
Und die Plattenläden: Århus ist etwa so klein wie Braunschweig und damit trotzdem die zweitgrößte Stadt Dänemarks und die größte auf dem jütischen Festland, und das werden wohl die Gründe sein, weshalb es dort mindestens acht freie Plattenläden gibt. Die sich auch noch alle gegenseitig empfehlen, wenn man in dem einen etwas sucht und es das dort nicht gibt. Zu meiner Freude fand ich dort die ein, zwei Sammlerstücke des verwunschenen Record Store Days, die es selbst im bestsortierten Riptide nicht für mich gab, sowie eine 7“ des Dänischen RSD, „Alle fangerne“ von The Sandmen nämlich, die ich direkt an meiner ersten Station neben der Kasse entdeckte und von der man mir in allen folgenden Läden, als ich nach deren ebenfalls rarer LP „Den bedste dag“ suchte, versicherte, dass sie nicht mehr zu haben sei, und dann doch recht verwundert guckte, als ich sie zwinkernd aus der Tüte zippte. Trotz der enttäuschenden Kulturhauptstadtssache hat mir Århus Spaß bereitet; aber in Dänemark keinen Spaß zu haben, das ist mir ohnehin nicht möglich.
In wenigen Momenten startet der letzte Bundesligaspieltag dieser Saison. Der Hamburger Sportverein und der Verein für Leibesübungen Wolfsburg treten unter anderem gegeneinander an; das Brisante an dieser Begegnung ist, dass das Ergebnis entscheidet, wer von beiden auf dem Relegationsplatz zur zweiten Liga landet. Und vermutlich gegen die Braunschweiger Eintracht um die Ligazugehörigkeit spielen muss. Die Eintracht ist morgen an der Reihe. Sie hat zwar den Relegationsplatz nach oben sicher, könnte aber rechnerisch noch direkt aufsteigen – wenn der Konkurrent aus Hannover verliert und Braunschweig mit ungefähr sechs Toren Differenz gewinnt. Möglich, aber unwahrscheinlich.
Noch lässt sich der Spielstand nicht abfragen, aber Micha scrollt durch Facebook und entdeckt, dass Stef eben auf Kult-Tour den Musik-Tanz-Ticker veröffentlichte, ihr wöchentliches Ankündigungsformat. Dabei kommen wir auf Jacqueline zu sprechen, und das wird jetzt meta, denn Jacqueline stolperte bei der Lektüre dieser Seiten über Stefs Blog und fragte diese, ob sie für Kult-Tour einen Gastbeitrag leisten dürfe, was Stef grundsätzlich begrüßt, und Jacqueline schrieb über ihre Ertbegegnung mit der „Sound On Screen“-Filmreihe von Universum-Kino und Riptide. Lustigerweise trafen wir uns an dem Abend nicht, obwohl wir beide da waren, aber Jacqueline sprach mich später bei der Indie-Ü30-Party im Nexus an. Ihren Text las auch Micha: „Es interessiert mich, wie jemand das sieht, der bisher keine Berührungspunkte hatte – wir kennen das alles.“
Sehr beeindruckt war Micha kürzlich von einem Frauenfußball-Spiel der U17-Europameisterschaft, da gerät er jetzt noch mächtig ins Schwärmen. Deutschland spielte gegen Spanien und gewann im Elfmeterschießen, obwohl sie die ersten beiden Elfer verschossen, erzählt er. Micha sieht sich auch gern die Spiele der Frauen des VfL Wolfsburg an. Die Frauenfußball-Europameisterschaft findet dieses Jahr in den Niederlanden statt; wir überlegen, ob die Spiele wohl im öffentlich-rechtlichen Fernsehen übertragen werden. Erst heute Morgen las ich, und zwar mit großer Freude, dass Bibiana Steinhaus als erste Schiedsrichterin für die Bundesliga der Männer zugelassen ist. „Das hab ich gelobt“, sagt auch Micha, und ärgert sich über die „fiesen Kommentare“, die diese Entscheidung hervorruft. „Das hat sie verdient, und es ist traurig, dass man das noch betonen muss“, sagt er. Finde ich auch. Männliche Schiedsrichter und Trainer sind im Frauenfußball normal, aber umgekehrt nicht. Auch das mit den weiblichen Kommentatoren finde ich viel zu selten. Micha entdeckt ein Zitat im Internet, das Ilkay Gündogan zugeschrieben wird: „Es haben also alle Angst, dass eine Frau ihre Sache nicht so gut macht, wie die Männer, über die sie sich jede Woche aufregen?“
Eine mittelgroße Gästegruppe mit einem sechs Wochen alten Baby schiebt sich Zug um Zug an unserem Tisch vorbei. Wir kennen uns aus der Hood, und fast alle bleiben sie nacheinander für Gespräche stehen. Kai teilt Michas Schwärmereien von dem U17-Spiel, mit Nils parlieren wir über Musik. Die beiden Vinyls, die ich gleich mitnehmen will, sind von David Bowie und !!!, die schwer zu googeln sind, wenn man nicht weiß, dass sie auch unter „Chk Chk Chk“ firmieren. Nils berichtet von einer Band namens …, die ihren Namen gar nicht ausgesprochen wissen will: „Hast du die neue LP von (Schweigen)?“ Nach drei Punkten kann man nicht googeln, der Zusatz „Band“ hilft da leider auch nicht weiter. Die Encyclopaedia Metallum listet eine indonesische Doomband namens „(((…)))“ auf, aber die können das nicht sein, weil die nicht nicht ausgesprochen werden wollen, sondern „Three black dots in the brackets“. Liest sich aber auch spannend.
Während Lara in der Küche hantiert, händigt mir Jakob meine beiden Schallplatten aus. Nicht nur die Werbung für den Kulturnacht-Pin steht auf der Theke, auch ein betrüblicher Anlass findet als Schild Widerhall: „Chris Cornell 20.7.1964 – 17.5.2017“ steht unter einem Foto des früheren Sängers von Soundgarden, Audioslave und Temple Of The Dog. Dazwischen macht eine Preisliste auf die gegenwärtige Ausstellung aufmerksam: Künstler Heinrich Römisch setzte sich großformatig mit Jazzgrößen auseinander, passend zum jüngsten „Sound On Screen“-Film „Miles And More“ über Miles Davis. Am nächsten Jüngsten im Riptide bin ich sogar selbst beteiligt: Mein „Rille Elf“-Freund Uwe, unter anderem bekannt durch das „Fanclub Soundsystem“, lud mich ein, am 2. Juni ab 21 Uhr mit ihm im Riptide aufzulegen, Motto: „Unsere kleine Show“. Gleichzeitig veranstaltet Schepper in den nun rauchfreien Lounge den Bassstamtisch, das passt perfekt.
Für Micha und mich ist nun Feierabend. Die Relegation bleibt in der Region: Wolfsburg verlor gegen den HSV und darf, so das Unwahrscheinliche nicht doch noch eintritt, gegen Braunschweig und gegen den Abstieg spielen. Das erfahren wir per Smartphone auf unserem Heimweg, den wir bis zum Video-Buster gemeinsam antreten, denn dort kehren wir ein, weil der Buster schließt und Ausverkauf hat, wo Micha nochmal zuschlagen will. Schade um den Laden, denn wenn Micha und ich dort Martin besuchten, war das immer fast wie in „Clerks“, ein anachronistisches Abenteuer mit aus der Welt gefallenen Geschichten. Zwar habe ich mir nie eine DVD geliehen, aber die Zeit dort war immer charmant. Irgendein überlebensgroßer Dämon posierte vor den Verkaufs-DVDs, veraltete Pappaufsteller lungerten in Ecken und struppige Grünpflanzen auf dem Tresen herum, es gab Knabberzeug und Getränke, irgendein Action-Film lief immer auf einem kleinen Fernseher, während das Radio eingeschaltet war. Es kamen Leute in Jogginghosen hereingestürmt, oft junge Paare, die sich gemeinsam Filme aussuchten, oder einzelne, die die geliehenen DVDs zurückbrachten. Wir unterhielten uns natürlich über Filme, logo, und es war immer ein Genuss, Micha und Martin beim nerdnahen Fachsimpeln zuzuhören. Vorbei. Bedauerlich. Bin gespannt, wo Martin nächsten Monat unterkommt. Ich habe mit meinen beiden Schallplatten für heute genug eingekauft und verlasse die beiden. Fröhlich lachend, wie immer. Das geht an einem solchen Ort auch gar nicht anders. Gottlob.
Matze van Bauseneick
www.krautnick.de
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