#123 Der kleinste Akt der Freundlichkeit

Freitag, 19. Januar 2018

Beate schafft, was unmöglich scheint, immer wieder und heute erneut: „Anne Clark: I’ll Walk Out Into Tomorrow“, die Doku über die seit 35 Jahren aktive New-Wave-Poetin, läuft eine Woche vor dem Bundesstart in Braunschweig. Anlass und Rahmen ist die Musikfilmreihe Sound On Screen, die Beate als Vertreterin des Filmfests und des Universum-Kinos einmal im Monat mit dem Café Riptide ausrichtet. Für heute ist als After-Film-Programm ein Konzert der Band Atari Collage in dem Schallplattenladencafé vorgesehen.

Was Beate auch immer wieder gelingt, ist, das Kino auszuverkaufen. Sound On Screen hat sich im achten Jahr ihres Bestehens als verlässliche Reihe mit geschmackvollem Programm etabliert, und das honoriert das Braunschweiger Publikum mit Anwesenheit. Und mit Recht! Vor dem Film stellt Beate das Programm der Frühjahrsstaffel von Sound On Screen vor; zunächst läuft als dritter Film der laufenden Staffel im Februar „Score“ über Filmmusik an sich und nächste Woche mit „Bloodlight And Bami“ außer der Reihe eine Dokumentation über Grace Jones, dann folgen ab März „Liberation Day“ über Laibachs Auftritt in Nordkorea, „Wildes Herz“ über die linke Band Feine Sahne Fischfilet im rechts geprägten Mecklenburg-Vorpommern sowie in Zusammenarbeit mit der Initiative Jazz Braunschweig „Space Is The Place“ von Sun Ra aus dem Jahr 1974.

Bekannt und verlässlich tanzflächenfüllend bis heute sind die Hits „Our Darkness“ und „Sleeper In Metropolis“ der Londonerin Anne Clark. Obwohl beide Stücke grob dem wavigen Synthie-Electro zugeordnet sind, weckt Anne Clark Begeisterung bei einem Publikum, das nicht an Genres gebunden ist. Selbst Metalhörer sitzen heute im Kino, junge Leute indes kaum. Ja, die Hits sind aus den Jahren 1983 und 1984; seitdem hat Anne Clark eine Menge weiterer Platten in den unterschiedlichsten musikalischen Ausrichtungen veröffentlicht, und doch sind es diese beiden Lieder, für die sich die Leute auf die Tanzfläche oder eben ins Kino begeben. Eine Dokumentation über Anne Clark könnte Fans und Gelegenheitshörern also eine Menge Aufschluss geben.

Zehn Jahre lang, so kolportiert es die Info, begleitete Regisseur Claus Withopf die musikalische Poetin Anne Clark. Sein Film „I’ll Walk Out Into Tomorrow“ hat also das Potential, der Künstlerin so nahe zu kommen, wie sie es in den 35 Jahren ihrer Karriere so gut wie niemandem gewährte. Woran auch immer es liegt: Das Experiment geht gnadenlos schief. Der Fan gewinnt ein halbes Dutzend neue Erkenntnisse und der Nichtauskenner nicht wesentlich mehr. Was ist der Grund, hat der Regisseur keine Ahnung von seinem Job oder lässt die Porträtierte nicht mehr als das Bisschen zu?

Es geht damit los, dass Anne Clark zum Eingang darüber jammert, dass Plattenfirmen sie am Anfang ihrer Karriere über den Tisch gezogen haben. Damit eröffnet Withopf das Porträt mit einem Themenfeld, das man eigentlich gar nicht mit Anne Clark assoziiert: Kommerzialität, Kohle, Kapitalismus. Von Kunst keine Spur, und auch in den nächsten 80 Minuten erfährt man kaum mehr darüber. Es ist kein angenehmer Eindruck, den man so von Clark bekommt; der Film korrigiert dieses Bild nur unwesentlich, Clark wirkt verbittert, wenn sie spärlich Details aus ihrem Leben preisgibt. Nicht zuletzt die zwei Momente, die sie im Umgang mit ihren Mitmusikern zeigen, festigen den befremdlichen Eindruck von einer herrischen Dame, die rasch ungnädig sein kann.

Es kann also durchaus an Clark selbst liegen, dass der Film misslingt. Sie scheint sich die ganze Zeit über zu weigern, überhaupt mitzumachen. Wer weiß, ob sie beim Sichten des Materials nicht unablässig Szenen gestrichen hat, so dass für einen ganzen Film nur eine halbe Handvoll übrig blieben. Diese fügt Withopf nun ohne einen Hauch von Erzählstrang aneinander, getrennt durch Clarks Musikstücke. Möglicherweise greifen diese inhaltlich die vorangegangenen Themen auf und stellen so tatsächlich ein Bindeglied her; in ihrer Länge vermitteln sie eher den Eindruck von Füllmaterial, weil die reinen Erzählsequenzen zusammen keine Viertelstunde ergeben. Dabei beachtet Withopf keinerlei Chronologie; sowohl die Lieder als auch die Geschehnisse folgen keiner zeitlichen Abfolge. Vermittelnde Erklärungen, nicht nur für Neueinsteiger, fehlen vollends. Wer sich nicht zufällig mit Clarks Vita und Discografie einigermaßen auskennt, ist vollkommen aufgeschmissen. So ist etwa regelmäßig die Rede von einem Album, an dem Clark arbeitet; der Titel „The Smallest Act Of Kindness“ fällt keinmal, der Hinweis, dass das Album bereits vor zehn Jahren erschien, fehlt auch. Man könnte denken, es stünde ein brandneues Album zur Veröffentlichung an.

Withopf zeigt Clark an nur drei, vier verschiedenen Standorten, die meisten Szenen sind an ein und demselben Tag gedreht. Da begibt er sich dann einmal mit der Künstlerin nach London, um sich alte Wirkungsstätten zeigen zu lassen, die sie dann auch brav vorzeigt – und zu sehen bekommt man dabei lediglich Clark im Taxi, aber beinahe kein Stück von London. Noch schlimmer sind die Musikstücke unterlegt, nämlich mit schlechten Lettergrafiken, zumindest am Anfang, und das im Falle von „I Of The Storm“ auch noch fehlerhaft, nämlich als „Eye Of The Storm“.

Zwischendurch schimmert immer wieder durch, dass Clark sehr wohl Spannendes zu berichten hat. Doch sind diese Infos so reduziert, sogar mit Ansage, die Withopf nicht herausschnitt, dass sie auch in einem kurzen Bericht Platz gefunden hätten: Anne Clark wuchs in einem sehr gewalttätigen Umfeld auf, Sexualität war die erste nichtgewalttätige körperliche Erfahrung für die allen drei Geschlechtern gegenüber aufgeschlossene Frau, Clark ist zwar spirituell, verachtet aber Religionen, sie arbeitete eine Weile in einer Psychiatrie, die sie verließ, als die Mitarbeiter begannen, die Insassen zu drangsalieren, eine TV-Sendung über die Sex Pistols weckte den Punk in ihr, ihre Lyrik ist nicht akademisch, sondern emotional, und „Sleeper In Metropolis“ ist von einem Wohnblock in Croydon inspiriert.

Nicht erfährt man, was wann und warum geschah. Nach dem finanziellen Kollaps verbrachte sie einige Zeit in Norwegen; mehr als das berichtet niemand, den Zeitpunkt, die Dauer, den Grund für die Rückkehr. Man weiß nicht, wer die Stücke komponiert, die ihre Lyrik untermalen. Die Zeitpunkte und Orte der Liveaufnahmen und Viceoclips bleiben unerwähnt. Familienstand, Interessen abseits von Lyrik, Lebensweise, musikalische Sozialisastion: Die Künstlerin hält sich bedeckt. Und lacht auch nur zweimal. Gute Laune, so sagt sie, sei für sie nicht inspirierend.

Die Songs indes sind unantastbar. Da hat Anne Clark von Anfang an, also seit 1982, Glück gehabt: Obschon die Musik – wie knapp zehn Jahre zuvor bei Patti Smith – zur Begleitung ihrer Gedichte gedacht war, hatte sie immer Leute an ihrer Seite, die ihre Stücke auch musikalisch zu großartigen Werken machten. Und das in wechselnden Genres. Mit ihrem unverwechselbaren Vortragsstil zu diesen Songs, die keinen Popstrukturen folgen und trotzdem mitreißen, erarbeitete sie sich die Treue vieler Fans – und nicht etwa durch sexualisierte Weiblichkeit, die respektablerweise keinerlei Rolle bei der Darstellung dieser Künstlerin spielt. Das entspricht ungefähr dem Bild, das man als Publikum von Anne Clark hat.

Wer Anne Clarks Werdegang ohnehin verfolgt und bestenfalls noch ihre Semi-Autobiografie „Notes Taken, Traces Left“ gelesen (oder die Hörbuchvariante verinnerlicht) hat, ist am Ende besser bedient als mit diesem Film. Der unterstreicht höchstens die hohe künstlerische Qualität Clarks, mitnichten indes die des Regisseurs. So eine schlechte Musikerdokumentation war im Jahre 2018 und nach einer Vielzahl umjubelter Vergleichswerke, die zu einem großen Teil auch bei Sound On Screen zu sehen waren, nicht zu erwarten.

Immerhin, nach dem Film gehen die Meinungen dazu weit auseinander. Viele Zuschauer sind enttäuscht, andere jubeln. Besonders die gezeigten Songs wecken in vielen das Bedürfnis, sich einmal wieder mit Clarks Oeuvre auseinanderzusetzen. Das lohnt sich; ihre letzte Veröffentlichung war eine Single gegen Donald Trump, mit dem Titel „Donald Trumb Praesidend (Quack Quack)“, in Zusammenarbeit mit jemandem namens Ludwig London. Eher meiner Meinung ist unter anderem Micha, der uns in einer mitreißenden Anklage den Film zerpflückt. Er moniert, dass jemand zehn Jahre braucht, um Material für knapp 80 Minuten zusammenzutragen, und korrigiert seine errechnete Materiallänge mit jedem identifizierten Liveclip aus fremder Quelle.

Nur wenige Schritte weiter gelangen wir in den Handelsweg, in dessen Mitte sich nicht nur Kinogäste sammeln, um Getränke zu sich zu nehmen und auf das Anschlussprogramm zu warten. Wie vor, im und nach dem Kino schallt auch hier ein großflächiges Hallo durch den Abend, weil sich unablässig Menschen erfreut wiedersehen. Bald wummern die Beats von Atari Collage aus dem Riptide heraus, aber wir sind zu sehr in Gespräche vertieft, um uns ausführlich der Musik zu widmen. Micha zeigt Andrea, Maren, Jens und mir seine fotografierten Hunde, die er auf Instagram postete; ihm schwebt die Idee von einer Fotoausstellung im Café Riptide über wartende Hunde vor, unseren Zuspruch hat er, bei den herrlichen Beispielen, die wir zu sehen bekommen. Hunde gehen immer. Und Katzen. Schwarze.

Überraschenderweise treffen wir Schepper, seine Schwester Märry und ihren Freund Henrik in der Rip-Lounge. Sie haben Anlass zu feiern und tun dies ausgiebig. Extra dafür sind letztere zwei aus Dänemark angereist. Es bereitet mir immer ein großes Vergnügen, wenn Menschen Redewendungen aus ihrer Sprache ins Deutsche transportieren; auf Dänisch etwa ist es üblich, Ge- und Missfallen über Negation auszudrücken, ähnlich wie es Engländern nachgesagt wird. So empfindet Henrik, nachdem er Biernachschub aus dem Café holte, die Musik von Atari Collage als „nicht hervorragend“, Wolters aber als „nicht so schlecht“. Zumindest in letzterem sind wir uns einig, sofern ich die spärlich verfolgten Sounds rekapituliere, die zu mir herübergeweht waren.

So endet der Abend in einer mehr als unterhaltsamen großen Runde in der Lounge. Micha bringt noch Michel, Stef und Carsten herein, Jacqueline setzt sich dazu, das Lachen wird lauter, neue Verknüpfungen entstehen. Vom Film bleibt eine eigenwillige Enttäuschung zurück, aber nur über den Filmemacher, nicht über Sound On Screen oder irgendwen der Beteiligten; Braunschweig kann froh und dankbar sein über das, was Universum und Riptide hier präsentieren, und so umtriebig, wie Beate darin ist, exklusive Präsentationen direkt vor Ort bei den Verantwortlichen herauszuboxen, ist ihr nicht ansatzweise genügend Respekt und Dank entgegenzubringen. Und zu Hause hören wir uns einmal quer durch Anne Clarks Werk. Quack Quack.

Matthias Bosenick
www.krautnick.de
Fakebook

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