#139 Weltfrieden

Sonntag, 7. April 2019

Was für ein Geschenk für Aline und Melissa! Ausgerechnet an dem Wochenende, an dem sie den Handelsweg mit ihrer Aktion Frühlingsgestöber verzaubern, zeigt sich der Frühling von seiner frühlingshaftesten Seite: Die Sonne strahlt, es ist warm und es flanieren schubweise bunte Leute durch die Passage. Bei diesem Frühlingsgestöber handelt es sich um eine Art Flohmarkt, der als Plattform für die Handelsweganrainer sowie befreundete Gewerbetreibende gedacht ist. „Wir haben die Händler angeschnackt, habt ihr Lust, mitzumachen, den Handelsweg wieder ein bisschen zu beleben“, erklärt Aline. Die Aktion stellt ein Alternativprogramm zum parallel sattfindenden verkaufsoffenen Sonntag in der Stadt dar, „nachhaltig, Fair Trade, bio“, so Aline, „um lokale, kleine Läden zu unterstützen“.

Doch nicht nur zum Stöbern kommen Leute, es gibt Livemusik und natürlich Verpflegung, Getränke zumeist, zumindest bei Helmut in der Strohpinte und bei Achim im Tante Puttchen. Im Riptide kaufen die Leute zudem Platten, als gäbe es sie dort sonst gar nicht. Die übrigen Flächen im Café und in der Lounge sind mit gebrauchter Kleidung bestückt. Andrea und ich bestellen uns zwei Kaffee und einen Muffin, Spezialangebot zur Aktion. Wir haben die Wahl: Schokolade oder Mandel-Marzipan? Klare Entscheidung von Andrea: „Mannelmassipan“, darin sind wir uns einig, das geht so flott von der Zunge und erfreut sie zudem geschmacklich. Wir treffen Arni, der sich von unserer Muffinwahl zwar inspiriert fühlt, sich aber doch zunächst für ein alkoholfreies Wolters entscheidet. Andrea zieht schon bald wieder weiter, dafür tritt Schepper zu uns. Wir hocken uns auf die Barhocker am Fernsehfenster, das als solches heute gar nicht fungieren kann, weil einer der vielen Aussteller es mit seinen T-Shirts verhängte. Schepper nimmt sich eine Fritz ohne Zucker mit, Arni greift jetzt ebenfalls zu Kaffee und MMM, Mandel-Marzipan-Muffin. Weiß der Geier, wie die beiden darauf kommen, irgendwas über Berichterstattung und so, jedenfalls sagt Arni gerade, „die schönsten Prügeleien vom Wochenende, präsentiert von“, und Schepper schließt nahtlos an mit „aufdiefresse38“.

Jetzt aber raus an die Sonne und zur Mucke. Guckt man nur gelegentlich hin, was man da hört, hat man den Eindruck, es säßen jedes Mal andere Leute auf den Stühlen im Achteck. Sie spielen Bluesrock und heißen eigentlich The Mojo Circus. Eigentlich, erklärt Gitarrist Luca: „Heute haben wir keinen Namen, heute sind wir individuell, eigentlich Mojo Circus, aber die Mädels nicht, heute also Riptide-Freunde.“ Während die Band eigentlich noch spielt, steht er am Rande: „Ich hab schon ein paar Songs gemacht mit meiner Freundin“, erzählt er. „Wir haben uns immer mal wieder abgewechselt.“ Deshalb also der vielfältige Sound – und deshalb der Eindruck von wechselnden Musikern. Er trifft zu.

Das passt zum vielfältigen Publikum, das sich ganz entspannt durch den Handelsweg schlängelt, gelegentlich verweilt, sich in der Musik wiegt, quatscht, austauscht, ausprobiert, stöbert, den Handelsweg mit Leben füllt. Adela und Dirk ermuntern mich dazu, dass wir drei uns gegenüber von Serges Laden von Ferdinand schnellzeichnen lassen, alle auf einem Bild. „Matze rechts, die Frau in der Mitte“, arrangiert Dirk uns drei. Ferdinand nimmt Augenmaß und kündigt an: „Ich mache alle nacheinander.“ Durcheinander wäre auch lustig, oder ein Porträt aus allen dreien. „Dann pass aber auf, wem du welche Haare gibst“, sagt Adela und guckt mir skeptisch auf die hohe Stirn. Mit dem Stillstehen ist es jedoch schwierig, Stef und Sarah begrüßen mich, die nächste Band schiebt ihre Instrumente an uns vorbei. Marian guckt Ferdinand über die Schulter und sieht, dass ich mir Notizen mache: „Zeichnest du Ferdinand auf?“, fragt er. Genau, nur schriftlich! Serge, der gern für seine Bücher auf Ferdinands illustratorische Künste zurückgreift, wirft einen kritischen Blick auf das Ergebnis mit uns Dreien: „Ferdinand, Frauen liegen dir einfach besser.“ Ach was, wir finden es gut!

Auch Chris schlendert durch den Handelsweg, aber komplett undienstlich heute: „Ich bin nur auf ein Stündchen privat hier.“ Marian greift das auf: „Was machst du denn hier, es ist Flohmarkt!“ Und Chris kontert phonetisch ähnlich: „Ich hab den Flow!“

Dirk schwärmt von den veganen Hanfbällchen, die es am Stand der Hanfbar zu verkosten gibt. „Da musst du schnell zugreifen“, sagt er, denn die gehen ganz gut weg. Also hin da. „Wir bieten alle möglichen Produkte rund um Hanf an“, sagt Denise, die den Stand zusammen mit Saskia bedient. Sie zählt auf: „Aufstriche, Pesto – für Nudeln –, Tee, Energy Balls, in Schoko-Sesam und Kokos-Cashew“, und beginnt, mit einem groben Messer auf einem Holzbrett Brot zu schneiden. „Das Brot ist nicht von uns, das ist nur zum Probieren“, sagt Denise. Dirk erinnern die Energy Balls an diejenigen, die Krishna-Jünger früher verteilten, und Adela stellt fest, dass das Messer nicht eben scharf sei, so mühsam, wie Denise das Schneiden zu fallen scheint. „Es geht“, wehrt Denise aber ab, „nur der Tisch ist wackelig, und ich muss aufpassen, dass ich nix umreiße – da habe ich das Talent für.“

Wir wackeln weiter zur Einraumgalerie. Peter lehnt in der Tür, Künstlerin Ulrike sitzt auf der Bank daneben, alle umringt von Kunst und fröhlichen Leuten. „Ein schön peaciger Sonntagnachmittag“, sagt Peter. „Wenn du den Weltfrieden irgendwo suchst, guck mal im Handelsweg Sonntagnachmittag.“ Recht hat er. Er erblickt die Papiertüte mit Ferdinands Bild in Adelas Hand und greift neugierig danach. Etwas enttäuscht jedoch: „Ich dachte, das ist eine Single.“ Adela wehrt ab: „Nee, nur ein Bild.“ Peter nickt: „Genau, erstmal das Cover machen.“ Findet Adela auch: „Das Drinnen ist nicht so wichtig.“ Dirk unterbricht: „Ich bin hungrig.“ Da springt Ulrike von der Bank auf, sagt „oh, ich habe was“, legt die Zigarette zur Seite und schwirrt in die Galerie, aus der sie nur Augenblicke später mit einer Papiertüte zurückkehrt und sich wieder auf die Bank setzt. Wir dürfen uns bedienen, sagt sie, und Dirk ist dankbar: „Ich nehme mir gleich zwei“, sagt er, und fördert zwei Zigarrenböreks zutage.

Stefans Comiculture ist gar nicht geöffnet, an seinem Schaufenster informieren stattdessen Michael und Mareike über die Initiative Ingenieure ohne Grenzen, eingeladen von Marion, die gegenüber den Second-Hand-Kleidungsladen Fifty-Fifty betreibt. „Wir stellen hier unsere Arbeit vor und machen Werbung dafür“, erklärt Michael. Der Kontakt zu Marion ist schon älter: „Wir sind auch bei der Fashion-Börse dabei, die sie organisiert.“ Ingenieure ohne Grenzen sieht er nicht analog zu Ärzte ohne Grenzen: „Wir haben eine andere Zielsetzung, Ärzte ohne Grenzen leisten Soforthilfe, wir Entwicklungszusammenarbeit, Stichwort: Hilfe zur Selbsthilfe.“ Die Initiative sei da um Nachhaltigkeit bemüht. Wie beispielsweise beim Bau einer Zisterne für eine Schule in Balanka in Togo, die die Ingenieure lediglich konstruierten, „gebaut wurde sie von Ehrenamtlichen vor Ort, damit die das weitergeben können“, so Michael. „Uns ist wichtig, dass nicht eine Abhängigkeit entsteht, dass die Leute sich selbst helfen.“ Mareike und Michael gehören der Regionalgruppe Braunschweig an, als einer von 28, 29 Regionalgruppen in Deutschland. „Jede betreut ein eigenes Projekt, unsere ist die Zisterne“, sagt Mareike. Vor Ort sind einige der Ingenieure trotzdem gelegentlich, um Workshops anzubieten, etwa vom richtigen Umgang mit Wasser, insbesondere für Kinder: „Es ist ja eine Schule, wo wir die Zisterne gebaut haben“, sagt Michael. Auch erarbeiten die Ingenieure dann Möglichkeiten für Verbesserungen und Weiterentwicklungen der Projekte.

Die Resonanz vom Handelsweg-Publikum auf den Ingenieursstand ist zwar zielgruppenbedingt verhalten, aber ignoriert fühlen sich Mareike und Michael nicht: „Es haben schon einige Leute nachgefragt“, sagt er. Außerdem verkaufen sie gegen Spenden Taschen, die eine junge Togoerin aus weggeworfenen Trinkwasserbeuteln herstellt. Sie nennt sie KonoLom, was laut Michael so viel bedeutet wie wiederverwerten, recyclen. Selbst sind die beiden im Handelsweg aber nicht fremd: „Wir sind Braunschweiger, wir sind unterwegs“, sagt Michael. Und Mareike ergänzt: „Wir hatten auch schon ein Treffen im Riptide.“

Und gleich soll ja die zweite Band spielen, You Silence I Bird, die ich gern endlich mal persönlich sprechen wollen würde, weil ich kürzlich mit Paul für das Gifhorner Kurt-Magazin ein telefonisches Interview machte. Die Bühne im Achteck ist leer, aber am Gespräch zweier Leute im Publikum erkenne ich, dass einer der beiden zur Band gehören muss. Richtig, Moses bestätigt meine Annahme und führt mich ums Eck, in die Breite Straße, wo Jonas und Paul mit Getränken in der Sonne sitzen. „Wir ziehen uns vor dem Auftritt gern noch zurück“, erklärt Moses. Und ich habe jetzt ein Gesicht zur Stimme von Paul. You Silence I Bird spielen heute „reduziert“, sagt Jonas, und ich vermisse den vierten Mann. „Das Piano ist nicht dabei“, bestätigt Jonas. „Wir spielen ein Straßenhalbakustikset“, formuliert es Moses. Eines, das sich angenehm in die Stimmung der Veranstaltung fügt, chillig, peacig, fließend, und einige Zuschauer tanzen dazu, von Sonne beschienen.

Die Runde ist gemacht, und das noch nicht mal vollständig. Am Stand vom Selbstfilmfest kam ich nur vorbei, und wer da alles noch Schmuck, Kleidung und CDs verkaufte, habe ich gar nicht in aller Ausführlichkeit eruieren können. Ich kehre zurück zu Schepper und Arni und nehme mir noch eine Getränkebestellung von ihnen mit zur Theke. Dort wartet schon ein anderer Paul mit einem Stapel Schallplatten unter dem Arm darauf, bedient zu werden. „Wer bekommt?“, fragt Max. Ich deute auf Paul, doch der sagt: „Mach du, bei mir dauert es länger.“ Zusätzlich zum Vinyl hätte er nämlich noch gern einen Kaffee. Vorn auf dem Stapel erkenne ich eine Maxi-Single von Peter Schilling, Paul nennt noch Supertramp: „Ich beginne eine Sammlung“, sagt er. Er stellt fest, dass heutzutage zwar jede Musik jederzeit online verfügbar sei, aber: „Wenn du etwas von Vinyl auflegest, das berührt hier“, sagt er – und drückt sich seine Faust aufs Herz.

Matthias Bosenick
www.krautnick.de
Fakebook

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