#140 Aashaalige

Donnerstag, 9. Mai

Endlich Mai! Endlich den Wintermantel wieder auspacken, nachdem wir im Februar und April schon beinahe im T-Shirt im Achteck saßen. Oder, wie es ein Musiker sagte, den Henrik und ich im März bei unserer Flyer-Verteile-Aktion für die Nexus-Indie-Ü30-Party instrumenteschleppend vor dem B58 trafen: „Das ist Frühling in Deutschland, wenn man morgens beim Eiskratzen einen Sonnenbrand bekommt.“ Die Braunschweiger nennen das dieser Tage die Aashaaligen, aber vom Draußensitzen lassen wir Ostfalen uns ja mal gar nicht abhalten. Also, auf ins Riptide!

Dem nähere ich mich von der Breiten Straße aus und schwenke kurz bei Marion ein, die mir durch die Schaufensterscheibe ihres Second-Hand-Bekleidungsgeschäftes Fifty-Fifty zuwinkt. Sie ist mit ihrem Mobiltelefon beschäftigt und postet auf Instagram etwas über neu eingetroffene Schuhe. „Eigentlich habe ich nicht die Zeit dafür“, stellt sie tippend fest. Sie versucht, solche notwendigen Aktivitäten in ihren raren ruhigen Minuten zu bewältigen, wird aber häufig abgelenkt, und sei es nur gedanklich, weil sie schon wieder neue Projekte ersinnt: „Ich springe ständig hin und her“, sagt sie. Und bemerkt: „Ich bräuchte jemanden, der das für mich macht.“ Dann, sagt sie, loggt sie sich mal wieder in ihren Social-Media-Accounts ein und bekommt die Information, einer ihrer Freunde habe nach längerer Zeit mal wieder etwas gepostet: „Das macht mir ein schlechtes Gewissen, ich fühle mich unter Druck gesetzt von den sozialen Medien.“ Doch sie freut: „Es gibt noch Leute, die zum Telefonhörer greifen und fragen, ob man die Siebziger-Kombi noch hat.“ Oder man kommt persönlich vorbei. Marion nickt: „Das ist das Beste!“ Zurzeit hat sie einen großen Zulauf an Swing-Bekleidung und sucht nun Kontakt zur Szene, ich empfehle ihr die Flapper-Swing-Sause, die der Kufa-Verein regelmäßig im Kulturpunkt West veranstaltet. Im Gegenzug leakt Marion den Termin für den nächsten Sedan-Bazar, den der Handelsweg jeden Sommer mit vielen Aktionen feiert: Am 17. August ist der geplant. Kundschaft trudelt ein und probiert Schuhe an, ich kehre aus und bleibe direkt gegenüber bei Comiculture hängen.

Wo wenn nicht hier bekomme ich Infos über Pokémon-Merchandise, denke ich mir, nachdem Andrea und ich den „Pokémon Detective Pikachu“ gestern in der Vorpremiere im C1 sahen und begeistert darüber waren, dass unsere Lieblingsmonster nicht nur fabelhaft animiert waren, sondern uns der Film drumherum auch noch überzeugte. Doch Stefan, der sich mit Jascha im Türrahmen unterhält, meint, dass eine Promotion des Films gar nicht nötig sei: „Die erreichen die Leute, die acht oder neun Jahre alt waren, als das Spiel in Deutschland rauskam, und die drangeblieben sind.“ Dieser Automatismus gewährleiste ein notwendiges Mindestpublikum, und andere Zuschauer könne der Film ohnehin nicht erreichen, weil die Vorkenntnisse fehlen. „Pokémon ist als Lizenz dreimal so erfolgreich wie Star Wars“, weiß Stefan. Jascha erinnert sich noch daran, Mitte der Neunziger mit den ersten Pokémons in Berührung gekommen zu sein. Stefan nickt: „Die waren damals alle Feuer – und sind es heute immer noch.“ Lukas und Ivalu treten aus dem Comiculture in unser Dreieck und erweitern es zum Kreis. Stefan sagt: „Ein guter Einstieg ist, die Leute zu fragen: Was ist dein Lieblings-Pokémon?“ Er dreht sich auffordernd zu den Neuankömmlingen um. „Chelterrar“, sagt Lukas. „Evoli“, sagt Ivalu. „Son Goku“, grinst Jascha. Meins dürfte Phanpy sein. „Gengar“, sagt Stefan. Und löst damit bei Lukas sofort eine Debatte über gelungenes und missglücktes Design bei Pokémon-Monstern aus. Der schließe ich mich nicht an, empfehle aber nochmal schnell den Film und wende mich dem Riptide zu.

Dabei komme ich noch bei Helmut und seiner Strohpinte sowie an der Einraum-Galerie vorbei, vor der zwei der vielen Stefans auf der Bank sitzen. Im Achteck winken dafür schon alte Bekannte: Rainer, Schepper und Frank sitzen um einen Tisch herum, Chris steht mit einem großen Stück Papier und einer Rolle Tesafilm bei ihnen. Für das Konzert der Band Bonefish morgen im Riptide wirbt das Plakat, das Chris an der Wand gegenüber befestigt. „Ich wollte eigentlich gerade gehen“, sagt Frank, erhebt sich und beteuert, dass das nichts mit meinem Eintreffen zu tun habe; das hätte ich auch so gesagt und habe ich auch gar nicht anders erwartet. Er lässt sich nieder und bestellt doch noch einen weiteren Kaffee, ich einen Milchkaffee und Schepper eine Fritz ohne Zucker. Rainer hebt zu einem Vortrag an, den Schepper und Frank schon kennen: „Kennst du Hemingway?“, fragt er. Kenne ich. „Kennst du Ferdinand von Schirach?“, fragt er. Namentlich, ja. Schirach habe ein Buch namens „Kaffee und Zigaretten“ herausgebracht, setzt Rainer an. Ist das geklaut? „Du meinst von Jim Jarmusch?“, fragt Rainer. „Damit hat das nichts zu tun.“ Er will auf etwas anderes hinaus: In dem Buch behauptet Schirach auf Seite 40, Hemingway habe einen zitierten Satz 1964 in seinem Buch „Paris, ein Fest fürs Leben“ geschrieben. Rainer springt beinahe aus seinem Sitz auf: „Pass auf: Hemingway war 1964 schon lange tot!“ Er lehnt sich zurück. „Das Buch wurde 1964 veröffentlicht, geschrieben wurde es früher“, weiß er und echauffiert sich: „Das darf nicht passieren!“ Frank nickt: „Zumal nicht einem Juristen wie Schirach.“ Das hätte auch mindestens dem Verlag auffallen müssen, sind wir uns einig, und auch darin, dass Verlage und Redaktionen heutzutage Lektorate für überflüssig zu halten scheinen. An manchen Grammatikfehlern kann ich erkennen, aus welchem Musikmagazin sie stammen.

Rainer ist schon wieder weiter, der Name Camus fällt. „Von dem hab ich auch mal was gelesen“, sagt Schepper. „Im Studium – das ist laaaaang her!“ Er sinniert: „Irgendwas mit Sisyphos?“ Rainer und Frank nicken, „Der Mythos des Sisyphos“, und führen unisono „Der Fremde“ an. Dazu fällt mir The Cure ein, ich meine, dass sich deren „Killing An Arab“ darauf bezieht. Frank winkt ab: „In Cure bin ich schwach.“ Schepper nickt: „Cure finde ich auch schwach.“ Frank lacht. Ich erinnere mich, dass Robert Smith Anfang der Neunziger in Erklärungsnot kam, als der erste Golfkrieg ausbrach und es hieß, „Killing An Arab“ sei antiarabisch, und er immer erklären musste, dass sich das Lied auf Albert Camus beziehe. Später sang er bei Livekonzerten oft „Kissing An Arab“, um den Dampf aus der Debatte zu nehmen; so habe ich es auch in Roskilde und Berlin gehört. Rainer nickt nun: „Der Fremde erschießt einen Araber.“ Also! Und Frank weiß dazu: „Camus war Algerier.“

Ein Personalwechsel steht an: Rainer verlässt uns, Schlagzeuger Wumme nimmt den Platz neben Bassist Schepper ein. Dabei fällt mir ein, dass ich jüngst Franks Bassisten-Bashing im Rolling Stone las. In der aktuellen Ausgabe veröffentlichte er nämlich einen Artikel über die Geschichte der Stromgitarre und ließ an einer Stelle die Aussage fallen, dass Gitarristen sinngemäß von Natur aus zur Rampensau vorgesehen seien, und wer nur still in der Ecke stehen wolle, wäre eben Bassist geworden. Frank lacht laut los und Schepper grinst. „Was für eine Koinzidenz“, sagt Frank und nippt an seinem Kaffee. „Ich hätte nicht gedacht, dass du das mitbekommst“, sagt er zu Schepper. Der lacht seinerseits und sagt: „Ich hab meine Augen und Ohren überall!“

Da Wumme auch als Schlagzeuger gelegentlich an Scheppers Bassstammtisch teilnimmt, erzählt ihm der Organisator von der jüngsten Zusammenkunft im Riptde. Es gab einen Neuzugang aus Helmstedt, ein Bassist, der mit einer Frau zusammen ein Duo bestreitet. Chris tritt an unseren Tisch und verabschiedet sich in den Feierabend, nicht ohne uns einmal mehr auf das Konzert morgen mit Bonefish hinzuweisen. Dabei fällt Schepper ein, dass er und Frank sich noch über neue Alben unterhielten und davon abgekommen waren, und Frank deutet mit leuchtenden Augen auf mich und gibt preis, dass D.A.D. acht Jahre nach „Dic.Nii.Lan.Daft.Erd.Ark“ ein neues Album herausbringen. Das wusste ich nicht, ich hörte gerade erst die letzte Raritätencompilation „Behind The Seen“ und stellte einmal mehr fest, wie wenig sich die nach Sammlung anhört, vielmehr nach einem geschlossenen Album, was Frank bestätigt. Die neue Platte hat Frank schon gehört, er ist hingerissen: „‘A Prayer For The Loud‘ heißt die, obwohl, so laut ist die gar nicht.“ Er zählt die Vorzüge dieses Albums anschaulich auf – und ich vermerke einen weiteren Posten auf meiner inneren Einkaufsliste.

Schepper erwähnt die letzte Platte von Voivod, „The Wake“, und weckt Franks Interesse. Sie tauschen sich über ihre Lieblingsstücke in der Voivod-Discografie aus. „‘The Outer Limits‘ war sehr geil“, findet Schepper. „Da waren tolle Ideen mit bei.“ Dazu fällt Frank die finnische Band Kaleidobolt ein, die auf ihrem Album „Bitter“ eine Art Garagerock aufführt und unvermittelt in Mathcore fällt, aber mit clean gespielten Gitarren. Frank ist kaum zu halten und erzählt wort- und gestenreich den Bandsound nach: „Hundert pro auf die Eins“, schließt er. Das wollen wir uns merken. Und Schepper kommt nicht von der neuen Platte von The Claypool Lennon Delirium los, von der gelungenen Mixtur aus dem hanebüchenem Unsinn Claypools und Lennons Popgespür. Frank bestätigt: „Lennon hat Popmelodien mit der Muttermilch bekommen.“ Schepper grinst: „Mit der Vatermilch auch.“

Und Schepper hört seit längerer Zeit mal wieder Blue Cheer, „da hat Wumme mich drauf gebracht“. Und mit Wumme haben wir einen Experten zu dem Thema am Tisch: „Wichtige Band“, nickt der nur knapp. Frank erzählt, dass Rockjournalist Lester Bangs über das Debütalbum „Vincebus Eruptum“, was der Bandname auf Latein ist, sagte, Blue Cheer sei die einzige Band, die rückwärts abgespielt so geil sei wie vorwärts: „Und das war ein Lob!“ Zudem gefalle Frank, dass Bandkopf Dickie Peterson betont habe, Musik als etwas Physisches aufgefasst zu haben. Das Album fehlt mir noch in meiner Sammlung, mein einziger Bezug zu „Vincebus Eruptum“ ist bis dato das gleichnamige Label und Schallplattengeschäft von Davide aus Savona, das ich dort einst entdeckte. Wumme spricht von Proto-Metal und erklärt uns, warum das zweite Album den Titel „Outsideinside“ trägt: „Weil es zur Hälfte draußen aufgenommen wurde“, und zwar deshalb, weil die Band drinnen die PA „zerschossen“ habe. Frank ist begeistert von solchen Schnurren aus der Rock’n’Roll-Historie: „Das will ich hören!“

Etwas in Eile schnurrt Serge mit einem jungen Begleiter durch den Handelsweg in Richtung Breite Straße. „Du bist mir noch etwas schuldig“, sagt er, und ich weiß das, habe aber längst eine Rezension zu seinem Buch „Augentrost: Ein Stummfilm“ auf Krautnick veröffentlicht. Das haben seine verinternetzten Vertrauten ihm noch gar nicht mitgeteilt, und ich beginne, meine Eindrücke nachzuerzählen, etwa, dass es sich zunächst liest, als trüge sich die Handlung im Zweiten Weltkrieg zu, was mit später fallen gelassenen Wörtern der Jetztzeit negiert wird. Serge ist lachend entsetzt über meine Fehleinschätzung: „Das spielt heute!“ Ja, aber so ist das mit Rezipienten. Serge betont seine Eile und sagt: „Wir reden, wenn ich das gelesen habe!“ Das machen wir.

Auch unsere Tischrunde löst sich auf. Schepper und ich verweilen noch einen Moment an der Einraum-Galerie und schlendern dann an Achims Tante Puttchen vorbei in Richtung Innenstadt. Ein kurzer Schwatz mit Nils von Guidos Pizzeria, dann trennen wir unsere Wege, vorläufig. Spätestens nächste Woche Samstag sehen wir uns im Café MokkaBär wieder, wenn nicht wie heute zufällig im Riptide. Das hat ja jetzt dem Sommer angepasst die Öffnungszeiten verändert, wie angekündigt: Donnerstags bis samstags öffnet das Café wieder schon um 12 Uhr, nur dienstags bis mittwochs bleibt es bei 16 Uhr als Beginn. Draußen sitzen wieder mehr Gäste, auch heute, das Achteck war voll, den Eisheiligen zum Trotz. Wird schon noch, mit dem Sommer!

Matthias Bosenick
www.krautnick.de
Fakebook

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