#146 Relativer Glühwein

Donnerstag, 14. November 2019

Wie in einer unwirklichen Zwischenjahreszeit sieht es heute im Handelsweg aus. So früh am Nachmittag einsetzende Dämmerung kündet zwar vom nahenden Winter, aber die von Strohpinte bis Tante Puttchen ausgestellten Draußensitzgelegenheiten scheinen den Sommer verlängern zu wollen. Auf allen Tischen flackern Kerzen, im Achteck vor dem Riptide auch Ölfackeln. Alles wirkt so einladend, doch sind sämtliche Tische draußen leer: Mag man den Sommer auch noch so sehr vermissen, einstellige Temperaturen dringen auch durch dicke Jacken – da lässt man sich lieber drinnen nieder.

Heute vergibt das Hermans wieder den Bier-Bachelor, wie es sich für ein Etablissement aus dem Univiertel gehört, und das Café Riptide nimmt erstmals an dieser akademischen Aktion teil. Auf einem Plakat an der Theke sind sämtliche beteiligte Einrichtungen aufgelistet: „Damit die Leute wissen, wo sie hinmüssen“, erklärt Melissa, die zurzeit mit André den Dienst verrichtet. Ich stelle fest, dass ich gar nicht alle genannten Kneipen kenne. Aufgeführt sind außer Riptide und Hermans: Shotz, Shamrock, Roots Sportsbar, dann das Bild von einem Affen mit einem Ast über dem Kopf, eindeutig von Pott gestaltet, das André und ich aber nicht zuordnen können, von dem das Internet mir später aber verrät, dass es sich um das Monkey Island handelt, Klaue, Heat, Flint, Eusebia und Dax. „Wir gucken mal, was passiert“, sagt André neugierig. Im Angebot hat das Riptide „unser Programm“, so André, also Wolters, Bayreuther Hell und Astra Urtyp, zusätzlich einige posthedonistisch als Shots deklarierte Kurze.

Meinen Weg in den Handelsweg startete ich vorhin um die Ecke von zu Hause, im MokkaBär am Frankfurter Platz, wo ich davon erfuhr, dass es im Westen jetzt noch ein neues Café gibt, nämlich mit dem MokkaBär und dem Kufa-Haus ein Dreieck bildend, an der Ecke von Hugo-Luther-Straße und Ringgleis. Dort eröffnete am Samstag nämlich das Spunk. Auf meinem weiteren Weg traf ich danach im Café Bruns auf Micha, der da wie ich Plakate und Flyer deponierte, ich für den nächsten Ball im Bierhaus mit Rille Elf am 13. Dezember, er für das Filmfest in der kommenden Woche. Dafür sind wir ohnehin verabredet, wir wollen mindestens einen Film zusammen sehen, ganz bestimmt „A Dog Called Money“, die Doku über PJ Harvey, die in der Sub-Reihe Sound On Screen läuft, die wiederum das Café Riptide ganzjährig mit dem Universum-Kino ausrichtet. Mit ins Riptide wollte er leider nicht kommen, von dort war er gerade aufgebrochen.

Strahlend gelb von der Filmfest-Werbung wird Braunschweig immer im November, und dieses Gelb erstrahlt auch unterhalb des Riptide-Fensters, an dem man sich im Inneren die Platten anhören kann. Mit einem fragenden Blick stöbert Christine in den Fächern herum, André, der gerade die Neuerscheinungen für morgen auspackt, bietet seine Hilfe an. An Tocotronic ist sie interessiert, sagt Christine, es solle ein Geschenk sein. „Ich kann dir zu denen, die wir haben, etwas sagen“, sagt André und hantiert mit den Verpackungen herum. Vorsichtshalber übernehme ich kurzerhand, obwohl ich nach der zweiten, dritten Platte damals an Tocotronic das Interesse verlor. Ausgerechnet diese Alben hat das Riptide aber ausschließlich im Angebot, welch Glück. Christine kennt eher neuere Songs von den Hamburgern, etwa „This Boy Is Tocotronic“, von denen ich wiederum keine Ahnung habe. Auf dem Debüt „Digital ist besser“ gab es damals die Indie-Hits, die auch heute noch zünden, weil es diese Art von Rockmusik mit deutschen Texten kombiniert vorher nicht gab. Für mich nutzte sich deren Habitus aber schnell ab, die Klagehaltung, die sich im Titel des übernächsten Albums „Wir kommen, um uns zu beschweren“ (im Original indes ohne Komma) manifestiert. Trotzdem mag ich das Debüt – und das nimmt Christine auch mit.

Ein Geschenk soll es sein, aber nicht zu Weihachten oder zum Geburtstag, sondern weil ihr ein Freund während ihrer Prüfungszeit zur Seite stand: Christine schaffte kürzlich ihr Referendariat am Albert-Schweitzer-Gymnasium in Wolfsburg und sucht nun eine Stelle, idealerweise in ihrer Heimatstadt Braunschweig. Das Ref war schwer, sagt sie: „Man kommt an seine Grenzen, man wird ständig kritisiert.“ Dafür brauche man ein starkes Selbstvertrauen. Aber andere haben es auch geschafft: Schließlich gibt es bereits Lehrer. Sie vertraut darauf, dass meine Plattenempfehlung korrekt ist: „Tocotronic waren am Samstag in Braunschweig, das hat er erzählt“, also gehe sie davon aus, dass der zu Beschenkende sich nach wie vor für die Band interessiere. „Jetzt habe ich fast alle Geschenke zusammen“, sagt sie. „In dem neuen italienischen Laden an der Ecke habe ich eine Flasche Wein gekauft.“ Sapori Toscani eröffnete kürzlich in dem früheren Strickwarenladen am Altstadtmarkt. Sie hat weitere zu besorgende Geschenke auf ihrer Liste, daher macht sie sich nun mit dem zweiten erworbenen unter dem Arm auf dem Weg.

Nachdem ich meinen Kafka genüsslich leerte, bietet mir André einen Glühwein an. Merkwürdig, dass er das sagt, ich hatte beim Reinkommen schon so ein unbestimmtes Verlangen nach ebenjenem Heißgetränk. „Strahle ich das ab?“, fragt Melissa. „Vielleicht, weil ich so in Weihnachtsstimmung bin.“ Jetzt schon, noch vor Totensonntag? Sie wägt ab: „Weihnachten nicht direkt, aber ich mag die Lichter.“ Da stimme ich zu, die vertreiben die Winterdüsternis, wenigstens zum Jahresende. „Weihnachtsmarkt ist nicht so mein Fall“, schränkt Melissa dabei ein. „Aber Glühwein gibt‘s ja auch hier, dazu Crêpe“, sie zwinkert, „da muss man auch nicht so lange warten wie auf dem Weihnachtsmarkt.“ Und verschwindet vorübergehend in die Dunkelheit.

Der Glühwein – nicht nur lecker duftend, überdies – bilde den Auftakt für die Winterspecials, die das Riptide anbietet, erklärt mir André: „Apfel-Amaretto-Zimt, 43er-Banane, die kommen am Samstag, und Glühwein, Grog.“ Es gibt also doch Anlass, sich auf die Kälte zu freuen. „Wir wollen nicht länger auf den Winter warten“, bestätigt André, „es sind die Temperaturen da – bevor es im Januar wieder vorbei ist, wollen wir schnell …“ und konzentriert sich nun lieber darauf, die Bierflaschen korrekt in den Kühlschrank zu räumen, als Vorbereitung für nachher.

„Das ist mein zweiter Plattenladen heute“, sagt Alex, der ins Café strömt, sich die Jacke auszieht und sofort mit leuchtenden Augen auf die LP-Auslagen blickt. „Ich habe seit zwei Wochen zu meiner alten Musik zurückgefunden, ich habe vorher zehn Jahre lang nur Techno gehört.“ Alex drapiert Jacke und Schal auf einem Stuhl an den Stehtischen in der Vinyl-Ecke. „Ich komme von Dannenberg, da gibt‘s gar keinen Plattenladen“, erzählt er und stürzt auf ein bestimmtes Fach zu: „Ich habe gefunden, was genau meins ist“, ruft er und zückt eine LP von Joy Division. Seine musikalische Sozialisation begann früh mit Punk, Wizo zum Beispiel, und ging dann über in Richtung Einstürzende Neubauten, die ihm kürzlich beim Wiederhören indes als zu düster erschienen. „Ich bin großgeworden im Heim, ich hatte eine supercoole Erzieherin“, schwärmt er. „Die hat mir Musik mitgebracht.“ Vorher hatte er, wie wir alle, Musik aus dem Radio mitgeschnitten, allerdings mit einem für mich fremden Vorgehen: Die Stellen, an denen der Moderator dazwischenquatschte, löschte er nicht einfach wieder, sondern klebte sie mit Tesafilm über. Diese Erzieherin nun hatte einen speziellen Geschmack: „Die hat mir Relatives Menschsein mitgebracht“, sagt er, und setzt, als ich überrascht lache, grinsend nach: „Mit acht, neun Jahren!“ Alex‘ Vater war zudem Rocker, mit fetten Gürtelschnallen und allem, „der hat selbst Musik gemacht, und so bin ich zu Judas Priest, Whitesnake und diesen Konsorten gekommen.“ Dann zehn Jahre Techno, Electro, Minimal, Dub, Drum And Bass. „Und jetzt höre ich alles“, sagt Alex, und fügt hinzu, wie zur Erklärung: „41 bin ich jetzt.“

Ursprünglich kommt Alex aus dem Saarland, in Braunschweig fand er seine Freundin. „Die arbeitet hier am Theater“, sagt er: „Fernbeziehung.“ Außerdem hat er eine Tochter, die zwei Jahre und sieben Monate alt ist und „Hexenmusik“ macht, wie er mir per Video auf dem Smartphone vorführt: Das Mädchen spielt einige dunkle Töne auf dem Synthesizer und staunt offenbar selbst dazu. „Guck mal auf den Mund“, freut sich Alex. Das Lieblingslied seiner Tochter ist Atmosphere von Joy Division, sagt er strahlend. „Ich hole mir mal was zu trinken“, schiebt er nach und wendet sich an André am Tresen. Dort entscheidet er sich für ein Zwick‘l. „Ich kaufe mir vielleicht auch noch eine Platte“, sagt er, was André freut: „Welche Richtung?“ Alex: „Alle.“ André empfiehlt ihm die Second-Hand-Kisten mit Indie-Platten eines Freundes, die direkt vor der Theke stehen und von denen er weiß, dass sie sich vornehmlich im Bereich Hardcore bewegen. Deshalb kenne ich da so gut wie gar nichts von! Alex wird fündig und borgt sich bei André das Nadelsystem aus, damit er sich am Fenster mit seiner Auswahl akustisch befassen kann.

An dem Fenster mit der Filmfest-Werbung. „Wir haben eine eigene Reihe mit Sound On Screen mittlerweile“, berichtet André von der Riptide-Beteiligung am Filmfest. „Und wir haben die Sound-On-Screen-Filmfest-Party am Freitag nach ‚Rudeboy‘ hier, da legt einer auf von den Bonz-Jungs, einem legendären DJ-Duo, der greift das auf mit Ska, Reggae, Soul – ein bisschen feiern.“ Sechs Filme steuert Sound On Screen zum Filmfest bei: Außer dem über PJ Harvey und „Rudeboy: The Story Of Trojan Records“ sind das „Mr. Jimmy“ über einen Led-Zeppelin-Tribute-Gitarristen aus Japan, „Musica Cubana – A Story To Be Told“ über kubanische Musik an sich, „Once Aurora“ über die Künstlerin Aurora Aksnes und „Show Me The Picture: The Story Of Jim Marshall“ über den Fotografen, nicht den Turmbauer. „Filme gesichtet, für gut befunden, zeigen – und unsere Fete halt“, fasst André zusammen.

Aber es steht ja für das Riptide nicht nur das Filmfest an. „Morgen die nächste Ausgabe von Songs And Whispers mit Alexander Peppler und Band, sehr kurzfristig“, sagt André. Aus der Küche ergänzt Melissa: „Am 8. Dezember das Advents-Brunch, unser beliebtes veganes!“ André grinst: „Ich wollte das in der richtigen Reihenfolge aufzählen“, und fährt mit der Quiz-Night nächste Woche Mittwoch fort, „mit Quizmaster Sven“. Und Bassm kehren ins Riptide zurück: „Am 6. Dezember zu unserem Nikolauskonzert“, listet André auf. „Und genau, am 8. Dezember der Brunch.“

Weil das Riptide wegen des Bier-Bachelors einigen Ansturm erwartet, tritt Chris nun ebenfalls seinen Dienst an. Ich trete ab, es wird Zeit für etwas Sofa. Dieses Mal halte ich nicht an der Einraum-Galerie an – es ist ausnahmsweise einmal niemand vor Ort. Am Samstag stellte sich dort Pott im Rahmen des Braunschweiger Grafik-Tages als Tätowierer vor, morgen eröffnet Denis Stuart Rose in dem Raum eine Ausstellung. Ihn kenne ich noch vom Silver Club, da steuerte er im Rebenpark-Gewölbe gruselige Plastiken zur überwältigenden Atmosphäre bei. Im Rebenpark nun sind wir an Nikolaus mit Rille Elf eingeladen, als Beschaller der nächsten Ausgabe der Stadtfinder, deren Mit-Initiator Stefan wiederum Teilhaber am Einraum ist, und so schließen sich Kreise.

Die Kerzen brennen immer noch auf den Tischen im Handelsweg. Gelegentlich wärmen sich sogar einzelne Raucher oder kleine Rauchergrüppchen an ihnen. So ein Glühwein wärmt aber auch ganz fein, und lecker war er zudem ebenfalls. Der erste in dieser Saison. Ein schöner Auftakt, im Riptide!

Matthias Bosenick
www.krautnick.de
Fakebook

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