Dienstag, 9. Juni 2021
Vor einem Jahr ging das Riptide an seinem neuen Standort hier im Magniviertel an den Start. Und in diesem Jahr öffnete es überhaupt erst vor genau einer Woche. Mein erstes gastrononisches Draußenbier hatte ich nach der Pandemiepause zwar bereits im MokkaBär, meine ersten gezapften kurz darauf in Harrys Bierhaus und im Gambit, meine nächsten demnächst im Herman‘s, aber mein erstes Essen werde ich heute hier vor dem Riptide haben. Wie fühlt sich das an? Vor dem MokkaBär war es am vergangenen Donnerstag bereits so, als wäre nie etwas gewesen, wir unterhielten uns nicht über pandemische Pannen, sondern setzten einfach dort an, wo wir im Herbst aufzuhören gezwungen waren. Als hätte es keine Unterbrechung gegeben. So geht das, mit den richtigen Leuten. So wird das hier im Riptide sicherlich ebenfalls sein.
Bevor ich meinen reservierten Platz einnehme, freue ich mich, im Café Chris hinter der Theke am Computer zu erwischen, umringt von Melissa, Madeline, Lara und Lucie, die mit vollen Tabletts das Riptide verlassen und mit leeren zurückkehren, nur um sie flugs neu zu bestücken. Auch wenn das Wetter heute klebrig ist, weil die Luft zu viel Feuchtigkeit transportiert: Es ist warm, man kann draußen sitzen, und der Magnikirchplatz lädt an allen Stationen, also neben dem Riptide auch an Barnaby’s Blues Bar, Café Lineli und Das kleine Café, fröhlich dazu ein. Man kann sich seine Abstinenz ja auch so zurechtdenken, dass es wegen der Kälte seit Herbst gar nicht attraktiv war, irgendwo eine Außengastronomie in Anspruch genommen zu haben. Selbstbetrug, okay.
Zwar hat Chris nur wenig Zeit, erklärt mir aber trotzdem Details zur Riptide-Nacht beim Wolters-Applaus-Garten am Samstag, 10. Juli, ab 19 Uhr eben im Wolters-Applaus-Garten, also dort, wo einst das Hoffest der Brauerei stattfand. Nicht nur dieser Abend, auch einige andere Programmpunkte gehen auf Chris‘ Konto, darunter Radical Radio und No King No Crown aus Dresden, „die haben einen Online-Benefiz-Gig gespielt fürs Riptide, ich revanchiere mich mit einem richtigen Gig“. Das war am 1. April 2020 im Rahmen der Aktion Save The Riptide. Auch Matze Rossi war damals dabei, Chris‘ persönliches Highlight der inzwischen bereits laufenden Applaus-Reihe.
Die Riptide-Night nun sei „eine bunte Tüte an Programm“, versichert der Kurator. Als erstes paradoxerweise „ein Newcomer, der seit Jahren Musik macht“, so Chris. „Er hat jetzt seinen ersten Plattenvertrag abgeschlossen – auf Riptide-Recordings: Siggi The Kid!“ Chris findet den Helmstedter „unfassbar gut“, er mache „Gitarrenpunkrock und rappt dazu“. Mit einem Schlenker erwähnt Chris, dass es auf seinem Label demnächst auch etwas Neues von Boy Omega geben soll, „aber erst nächstes Jahr“, weil es wegen Corona bekanntlich zurzeit „schwierig mit Touren“ ist, und ohne Tour verkauft man heutzutage ja weniger Platten.
Zurück zur Riptide-Night: Der zweite Act ist Poly Ghost, „Freunde von uns“, betont Chris, „aus Braunschweig, mittlerweile in Chemnitz zu Hause“ und ebenfalls Teil des Benefiz-Gigs gewesen. Zudem „die letzte Band, die im alten Riptide aufgetreten ist“, Anfang 2020 – nur wenige Tage danach waren die Räume im Handelsweg „geschlossen für immer“. Etwas Wehmut weht kurz zu mir herüber. Poly Ghost machen „cheesy Elektro-Italo-Pop mit guten Texten“, setzt Chris fort. Ein Lied von denen habe jüngst „Wellen geschlagen“, berichtet er: „I Can’t Relax In Deutschland“ nämlich. Die Hauptband des Abends ist dann Hi! Spencer aus Osnabrück, „die machen schönen satten getragenen deutschsprachigen Punk-Indierock“, findet Chris, und nennt als Vergleichswerte Bands wie Turbostaat und Jupiter Jones. „Sehr abwechslungsreich“ sei das Programm für die Riptide-Night somit. Die Tickets dafür gibt’s über Eventim, übrigens.
Ist das schön, wieder im Ritpide zu sein! Trotz der Pandemie hatte ich das ehrenvolle Glück, mich regelmäßig in den neuen Räumen aufhalten zu dürfen, deshalb sind sie mir gottlob vertrauter, als wäre ich wie alle anderen dieser Tage zum ersten Mal in diesem Jahr wieder hier. Auch im Magniviertel ist das Riptide für mich längst ein Zuhause, das ging schnell und hält dauerhaft an – ein Geschenk.
Lediglich eine Mitarbeiterin fängt nach dem Lockdown nicht mehr mit dem alten Team wieder an, nicht zwei, erzählt Chris erfreut. Einige kommen jedoch erst im Juli aus dem Urlaub zurück, weshalb er jetzt einen kleinen Engpass hat und auch wieder offiziell eine Stellenausschreibung schaltete. Mit einem kuriosen Feedback: Max Bergmann, „der Bestangezogene“ im Team, so Chris, ist einer von denen, die erst im Juli zurückkehren, und als sich jetzt auf die Ausschreibung ein Max Bergmann bewarb, wollte Chris ihm schon scherzhaft antworten, jaja, ich weiß ja, du arbeitest längst hier und kommst später, doch beim Blick auf die Biografie kamen ihm die Details merkwürdig vor, weil sie nicht passten: „Hä, das macht unser Max gar nicht!“ Erst lud, dann stellte Chris den Bewerber ein – „jetzt haben wir zwei Max Bergmann im Team“, lacht er. Der erste hat den Zweitnamen Milan, so wird er bisweilen auch gerufen, Max Milan, und der junge Bewerber berichtete, dass auch sein Zweitname mit M beginne. Wie er weitergeht, verriet er noch nicht, grinst Chris: „Hoffentlich nicht Milan!“ Und dann muss Chris „wieder hoch ins Büro“, er hat allerhand zu tun, den „Neustart“ etwa und den anstehenden Record Store Day am Samstag.
Platten sind jetzt auch mein Ziel, ich blättere durch die Neuerscheinungen und entdecke dort die „Ship“-10“ von The Notwist. Neben mir stöbert Johannes im Vinyl herum, wie ich zum ersten Mal in diesem Jahr. „Das hat lange gedauert – schön, dass man das kann“, nickt er. „Ich komme grad von der Arbeit, schön, wieder rumzustreunern.“ So richtig am suchen ist er in den Platten nicht, „es ist die Indieschiene, wo ich gucke“, weil er sich im vergangenen Jahr „einen ganz anständigen Plattenspieler“ zulegte und den nun auch nutzen will, vorrangig mit den Alben, die er hörte, als er „15, 16, 17“ war, „Mando Diao, Kooks“. Damals, erinnert er sich, hatten alle einen mp3-Player, „da kamen die iPods auf, das hatte man da drauf“ oder hörte es am Computer per Winamp, „oder sogar gebrannt“, er lacht, „das war witzig“, denn heute sind CD-Rohlinge gar kein Thema mehr.
Einige der Platten, für die sich Johannes interessiert, „sind megateuer“ mittlerweile, etwa von Mando Diao, dafür müsse man heute einiges „Geld in die Hand nehmen“, und das findet er wiederum „irgendwie auch cool, das hat irgendwie was“, weil es quasi eine Antithese zur allgegenwärtigen Verfügbarkeit auf Spotify darstellt, „da hat man alles jederzeit“. Er sinniert, dass das „früher cooler“ war, weil jeder aus seinem Freundeskreis andere Musik auf Tonträgern hatte und man sich austauschen musste, man dabei sogar „wählerisch“ war, weil man nicht jedem alles mitgab. Das sei heute nicht mehr erforderlich, „okay, man kann sich auf Spotify vernetzen“, aber vorrangig regieren dort die Algorithmen, worin Johannes wiederum ebenfalls etwas Positives findet, denn dadurch „lernt man auch was Neues kennen“. So hörte er „eine zeitlang viel holländische Musik“, über einen Freund auch französische. Er stellt als nächste Entwicklung bei sich selbst fest, dass er sich heute nichts mehr so merken kann wie früher, als er ein Lied hörte und sofort Titel und Album nennen konnte, und kommt zum nächsten Aspekt: „Das ist manchmal schade, dass man nicht mehr ein Album durchhört und auch ein Lied erträgt, das man nicht mag.“
Die Digitalisierung und Internetisierung erfuhr ich im Bereich Festivals als hinderlich: War ich 1994 noch zum Roskilde Festival gefahren, ohne zu wissen, wer dort überhaupt spielte, wusste ich es 1997 bereits aus diesem neuen Internet und kannte 2001 bereits die Hits der jeweiligen Bands ebendorther. Das nahm mir einiges an Forscherfreude, lernte ich doch noch 1994 mir unbekannte Bands aus aller Welt in Roskilde live lieben und erwarb daraufhin erst hinterher die Alben. Johannes führt das SNNTG-Festival eines Kulturvereins bei Hannover ins Feld, auf dem noch vorrangig „kleinere Interpreten“ auftreten, gibt aber zu, dass man sich auch diese vorher im Internet anhören könne.
Johannes stöbert noch weiter, ich möchte meine 10“ zu meiner eingetroffenen Bestellung legen, bis ich nachher die komplette Rechnung begleiche, denn das Debüt von Man On Man ist eingetroffen, thematisch passend auf pinkem Vinyl. Das darauf seine Homosexualität feiernde Duo besteht aus Roddy Bottum, Keyboarder von Faith No More, und seinem „Boyfriend“, so die Info, Joey Holman. Bottums zweite Band Imperial Teen feiere ich für die tollen catchy-melodiösen Indiepopsongs und bin enorm gespannt auf Man On Man. An der Theke schenkt Lara gerade ein Hefeweizen in ein Glas, während ihr Lucie auf meiner Seite des Tresens mit dem leeren Tablett in der Hand fröhliche Tipps dazu gibt. Also drücke ich Madeline die Platte von The Notwist in die Hand, die sie gleich aus dem Bestand bucht, damit niemand sie versehentlich aus dem Onlineshop kaufen kann, obwohl sie bereits weg ist. Ist sie wiederum nicht, denn es gibt noch mindestens ein weiteres Exemplar im Lager, aber der Bestand ist jetzt eben angepasst. Das erklärt ihr Chris, der soeben die Treppe herunterkam und gutgelaunt dem Team zurief: „So, ich gehe jetzt noch in die Filiale.“ Die es nicht gibt, klar, aber mich erinnert das an das Büro, das Chris und André kurzzeitig auf dem Kohlmarkt anmieten mussten. „Das war liebreizend“, sagt Chris, „aber aus der Not heraus – ich bin froh, hier alles unter einem Dach zu haben.“
An der Kühltheke mit den Kuchen diskutieren Mariia und Ingo darüber, was sie als nächstes probieren wollen. „Wir haben schon ein Stück gegessen“, sagt Ingo, „wir haben uns das geteilt, russischer Zupfkuchen, der war ziemlich geil.“ Mariia summt zustimmend „Hm, ja!“, und Ingo fragt sie: „Rhabarber oder Brownie?“ Gegen letzteren spricht Mariia sich aus. „Es sieht beides gut aus“, findet Ingo, und Mariia stellt fest: „Rhabarber ist der letzte.“ Was das Stück interessanter macht, meint Ingo, und Mariia bestätigt das. „Brownies gibt’s immer“, fügt sie hinzu, und Ingo fällt die Conclusio: „Also Rhabarber!“
Etwas früher als gebucht – ich bin nachher mit Claudy verabredet – nehme ich meinen Sitzplatz draußen ein, unter einem der Sonnenschirme, was sich angesichts des sich mit Donner ankündigenden Regens als vorteilhaft erweist. Am Nachbartisch klappt Inga ihren Laptop auf und hofft, jenen trocken halten zu können: „Der ist nicht mit Regen kompatibel.“ Die Sonne strahlt die umliegenden Häuser an, während gleichzeitig und plötzlich der Wolkenbruch über uns herniedergeht, das sieht beinahe apokalyptisch aus. Mariia und Ingo retten sich mit ihrem Kuchen an meinen Tisch, bei ihnen ist Yulia. Vor Nässe schützt uns das nicht, und ich sehe, wie Inga mit ihrem empfindlichen Arbeitswerkzeug durch den strömenden Regen ins Café flüchtet. Was für ein Sturzbach! „Ein leichter Niesel“, wie Ingo auf seiner Wetterapp vorhergesagt bekam und was bei Mariia und Yulia für schwere Heiterkeit sorgt. „Apple hat immer das beste Wetter“, fügt Ingo schulterzuckend hinzu.
Mariia und Yulia sind Schwestern, eigentlich aus der Ukraine, aufgewachsen aber in Bremen und nun bunt in der Gegend verstreut, denn Mariia studiert an der HBK hier in Braunschweig und Yulia lebt in Würzburg. Das doppelte I in Mariias Namen geht vermutlich auf einen Transkriptionsfehler bei der Einreise zurück, denn im kyrillischen Original wird sie nicht so geschrieben, erklärt sie. Unser Aufenthalt unter dem Schirm wird nun auch ohne Alkohol feuchtfröhlich, es schüttet im Übermaß, wir sind durchnässt, retten Papier und Mobiltelefone und sehen auch um uns herum die Gäste unter den Schirmen zusammenrücken. Alle in bester Laune, wie es sich gehört. Später auf dem Heimweg werde ich Frank und Stef am Gambit begegnen, und als ich ihnen erzählen werde, dass ich aus dem Riptide käme, wird Frank bereits wissen, wie es dort zugegangen sein wird: „Das habe ich in Ingas Instagram-Story gesehen.“ Hier bleibt auch gar nichts verborgen.
Noch vor meinem Besuch im Riptide besuche ich einen neuen Nachbarn im Magniviertel. Heute ist es Krambambuli, der nach einer Erzählung von Marie von Ebner-Eschersbach benannte Spielwarenladen im Ölschlägern 39. Jeder kennt vom Vorbeigehen die Phalanx der Spieluhren, die draußen aufgebaut sind und die Passanten begeistert ausprobieren. Vornehmlich aus Holz und Stoff sind die Spielsachen in dem verwinkelten und großen Geschäft, versetzt mit allerlei zeitgemäßen Begehrlichkeiten jeglichen Geschmacks. An der Kasse überreicht Katrin einer Kundin und ihrem Kind die Papiertüte mit den erworbenen Spielwaren. Und mir hernach das Telefon: Eine Auskunft über Krambambuli überlässt sie lieber ihrer Chefin, und so telefoniere ich zwischen kuscheligen Plüschhasen und bunten Holzbauklötzen, zwischen Büchern und CDs, zwischen riesigen Objekten und winzigen Mitbringseln mit Dorit. „Im Riptide war ich noch nicht“, bedauert sie zu Beginn, was sie aber darauf zurückführt, dass sie keine Braunschweigerin sei und es während des Lockdowns ohnehin keine Möglichkeit zu einem Besuch dort gab.
Krambambuli betreibt Dorit mit ihrer Kollegin Claudia „seit über 38 Jahren“. Mit Hochs und Tiefs, wie ich ahne, und sie seufzt bestätigend. „Das hätten wir uns nicht vorstellen können, dass sowas passiert“, sagt sie über die zurückliegende Zeit. „Da musste man sich ein bisschen neu erfinden“: So gab es Krambambuli vorher nicht bei Facebook, die Homepage erhielt eine Überarbeitung, Kataloge verschicken die beiden Inhaberinnen jetzt auch per Email, zudem boten sie während der pandemischen Schließungen Click & Collect und Click & Meet an. „Das haben wir auf Facebook kundgetan, damit die Kunden informiert sind“, erzählt sie, und in der Tat: „Das hat was gebracht.“
Wie fühlt sich das an, seit über 38 Jahren Kinder als Kundschaft zu haben? „Ganz normal“, lacht Dorit, und freut sich, dass die Familien, die früher für ihre Kinder vorbeikamen, hier heute für ihre Enkel einkaufen – so ergibt sich eine Stammkundschaft über Generationen. Mit stabilem Geschmack: „Das Grundsortiment hat sich nicht verändert“, so Dorit, „aber es gab immer mal aktuelle Sachen.“ So war vor einiger Zeit die Tigerente von Janosch ein Hit und ist dies heute nicht mehr, dafür gehen heute „Jongliersachen und Aktionsspielzeug“ am besten. Verändert hat sich laut Dorit in der Zeit, dass auch Erwachsene vermehrt nach Spielen suchen. Und während der Pandemie kauften die Kunden „viele Spiele, Beschäftigungsspielzeug und Bastelsachen, um die Kinder zu Hause zu beschäftigen“. Den Standort übrigens wechselte das Traditionsgeschäft zweimal: Claudia und Dorit begannen in der Schubertstraße, wechselten kurzzeitig in die Kuhstraße und residieren nun also im Ölschlägern – „frag nicht nach der Jahreszahl“, lacht Dorit. „Wir gehen auch bestimmt mal ins Café Riptide“, versichert sie zum Abschluss. „Wir freuen uns, dass so ein tolles Café ins Magniviertel gekommen ist – es passt, glaube ich, gut rein.“
Matthias Bosenick
www.krautnick.de
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