Dienstag, 20. Juli 2021
Ein neuer Magniviertel-Nachbar des Café Riptide liegt, von der Innenstadt aus gegangen, quasi auf dem Weg: Die Braunschweiger Abteilung des Wolfsburger Tattoostudios Culture Shocks residiert mittlerweile auch schon seit einer Dreivierteldekade im Magniviertel. Als ich in der Langedammstraße 17-18 eintreffe, nehme ich zunächst wahr, dass ich wahrgenommen werde: Von über einem Sichtschutz aus bittet mich Martin um Geduld, während er seine für mich verdeckte Arbeit an einem Kundenkörper vollendet. Zitate von George Bernard Shaw und Oscar Wilde sowie Fotos von ganzkörpertätowierten Menschen höheren Alters auf dem Sichtschutz und einer Wand laden dazu sein, den Blickwinkel auf sein eigenes Leben zu verändern und sich je nach Ausgang dieser Änderung womöglich tätowieren zu lassen, idealerweise direkt vor Ort. Auf mit lila Stoff bezogenen Kinosesseln sitzend, betrachte ich die überdimensionale bunte grafikdesignte Schlange, die sich neben einem Regal aus räderlosen Skateboard-Brettern am Schreibtisch erhebt. Plötzlich ertönen erleichterte Ausrufe von hinter Oscar Wilde aus: Die Kundin ist mit Martins abgeschlossener Arbeit offenkundig zufrieden – und der Meister begibt sich für eine oder zwei Zigaretten mit mir vor die Tür, mit Blick auf die Rückseite von Hochten.
Im neuen Riptide war Martin „leider noch nicht“, hat aber dafür eine überraschende Auskunft parat: „Ich habe den Chef tätowiert, mit einem Blechroboter.“ Den kenne ich von Chris‘ Arm tatsächlich! Verdammt kleine Welt. Mal eine Pause im Riptide einzulegen, sei inzwischen immerhin wieder möglich, nach dem Coronalockdown, die Normalität kehre zurück. Zudem sei Martin ohnehin „bemüht, den Kiez zu pflegen“, also das Umfeld von Culture Shocks in Braunschweig, und benachbarte Etablissements zu frequentieren. Diesen Arm des Wolfsburger Traditionsstudios gibt es seit sechs, sieben Jahren, ursprünglich, um den in Wolfsburg tätigen Tätowierern aus Braunschweig kürzere Wege zu ermöglichen und „weil Braunschweig ein schönes Städtchen ist, besonders das Magniviertel“, so Martin, und so startete Studio-Chef Olli die Dependace eben genau hier. Martin verteilt seine Anwesenheit in Wochen drei zu eins auf Braunschweig und Wolfsburg, da er in keiner der beiden Städte lebt, sondern auf dem Land, und weil es ihm hier so gut gefällt.
Veränderungen gab es derweil auch am Hauptstandort, der sich Anfang 2019 vom Schachtweg in die Kleiststraße einige Meter weiter vergrößerte. „Das erste Jahr lief normal“, berichtet Martin, und dann erwischte Corona das Studio. Für Tätowierer eine schwere Zeit, es gab nichts, was sie außer Haus anbieten konnten, „Arm abschrauben ging nicht“, doch kehre die Normalität auch hier allmählich zurück. Und damit auch für ihn die Möglichkeit, Zeit im Riptide zu verbringen, etwa, wenn die Wolfsburger dereinst einen Ausflug nach Braunschweig machen, dann könne man dort „abends mal einkehren“.
Zwar ist Martin „amtsältester“ Tätowierer im Team, seit 1999 nämlich, „aber ich war zwischendurch abtrünnig“, erzählt er, seit 2014 indes wieder fest im Sattel. Mit ihm bestreitet Doro ihre Arbeitszeit zur Hälfte in Braunschweig, eine frühere Auszubildende des Studios. Zur Freude der Braunschweiger Kunden, die sich den Weg in die Nachbarstadt sparen; dabei waren lange Wege einst üblich, so Martin: „In den Neunzigern musstest du fahren, um einen guten Tätowierer zu finden!“ Bis Olli eben Culture Shocks eröffnete.
Vor elf Jahren hatte ich in der Wolfsburger Adresse eine Fotoausstellung, „StarkStrom“, als Olli sein Studio frisch für Kultur öffnete. Was mir indes entging, war der zusätzliche Laden, den Olli einige Zeit darauf im Schachtweg einrichtete, das so genannte Wohnzimmer, „vor Bingo“, so Martin, extra für Kulturveranstaltungen. „Rummelsnuff kam zur Eröffnung, wir hatten ein Black-Metal-Konzert“, erzählt Martin. Ich staune. Doch im Zuge des Umzugs schloss Olli den Laden wieder, an der neuen Adresse ist hinreichend Platz für beide Ausrichtungen des Studios. Dafür richtet Olli im Kulturzentrum Hallenbad regelmäßig die Tatoo-Conventions aus, die zuletzt wegen Corona natürlich ausfielen. Ein Ende der Kulturtätigkeiten ist mit der Schließung des Wohnzimmers also nicht vorgesehen, laut Martin hat Olli neue Pläne in der Schublade: „Mal gucken, wie es sich entwickelt.“
Wenn Doro nicht bei ihm ist, wuppt Martin den Braunschweiger Laden „mehr oder weniger allein“. Was ihn nicht stört: „Das mag ich an Braunschweig und am Magniviertel, dass es ein bisschen cool ist, ich sehe das als Kiez, ich bin gerne hier!“ Und schon begrüßt er seinen nächsten Kunden mit der seit Corona landläufig üblichen Faust, drückt seine Zigarette aus und schreitet zurück ins Studio.
Im Riptide richte ich Chris die Grüße von Martin aus, zu seiner Freude: „Ich habe früher in Wolfsburg meine ersten Tattoos machen lassen“, erzählt er, „und seit die hier sind, in Braunschweig.“ Von Culture Shocks hält er viel: „Einer der Besten Niedersachsens!“ Mit meinem Milchkaffee setze ich mich an einen Tisch, während Chris die neue Kollegin Merle mit der Bedienung der Kasse vertraut macht. „So einfach ist es“, schließt er nach einigen Erläuterungen, „die Kasse rechnet alles für dich aus.“
Kurz setzt Chris sich zu mir, kurz nur, weil er einen Termin hat. Ich bin neugierig auf die Riptide Night beim Wolters-Applaus-Garten vorletzten Samstag, die ich nicht wahrnehmen konnte, weil wir zeitgleich mit Rille Elf die erste Show des Jahres in Harrys Bierhaus ausrichteten, das dritte Betreute Trinken mit Musik nämlich. „Es war ein toller Abend“, strahlt Chris. „Bands, wie sie unterschiedlicher nicht sein könne, einen größeren Unterschied gibt‘s nicht, außer zwischen Klassik und Grindcore.“
An dem Abend war es „rappelvoll“, sagt Chris, über 300 Gäste und eine ausgelassene Stimmung: „Die Leute haben zwischen den Tischen getanzt.“ Erster Act war Siggi The Kid, „der war aufgeregt, sein erster Auftritt vor so vielen Leuten“, erzählt Chris, und ausgerechnet dann muss der Musiker kleinlaut von der Bühne aus gestehen, sein eigens selbst angefertigtes Merchandise mit T-Shirts und gebrannten CDs zu Hause vergessen zu haben. Da standen ganz unerwartet viele Fans auf, die seine T-Shirts mit dem „38666“-Aufdruck von seiner EP trugen, und es entwickelte sich die Idee, sie könnten ihre Shirts ja ausziehen und ihm zum Wiederverkauf zur Verfügung stellen. Was nicht geschah, Gott bewahre!
Anschließend brachten Poly Ghost „die ersten Leute zum Tanzen“, erzählt Chris weiter, und beim dritten Act Hi! Spencer entwickelte sich der Tanz zum schieren Pogo. Für diesen Abend richtete Chris einen Riptide-Tisch ein, für Helfer und Team, auch André war dabei, mit Essen und Trinken „aufs Haus“ und einem Spaß, der bis weit nach Ende der Konzerte fortdauerte, in die „laue Sommernacht“ hinein, schwärmt Chris. „Ich war anfangs sehr nervös“, gibt er zu, „und ich bin happy, wie es gelaufen ist.“ Sein persönliches Highlight beim Wolters-Applaus-Garten tritt jetzt am Sonntag auf: Matze Rossi, im Vorprogramm Radical Radio aus Braunschweig, von Chris gebucht.
Eine Woche später war dann ja auch noch der zweite Teil des Record Store Days. Chris lacht: „Heute haben mindestens fünf Leute angerufen, die erzählt haben, dass sie alle Plattenläden abtelefonieren, ‚habt ihr das neue Foo-Fighters-Album, ich zahle 50 Euro, ich zahle 70 Euro!‘“ Darauf covern die Foo Fighters nämlich die Bee Gees, unter dem Alias Dee Gees und mit dem Titel „Hail Satin“, und das Ding ist längst vergriffen und somit äußerst begehrt.
Überhaupt habe es „viele schöne Releases“ gegeben, so Chris, von den Rolling Stones etwa oder von Gundermann, „hochwertige Sachen“. Der erste Kunde war schon „um zehn nach neun da“, also zehn Minuten, nachdem Chris selbst überhaupt im Ritpide eintraf, um das Café und den Laden für die Kundschaft vorzubereiten. „Wir machen um elf auf“, erklärte Chris ihm, und dem sei das bewusst gewesen, er habe der Erste sein wollen. Und ging auch mit einem entsprechend großen Stapel an Errungenschaften wieder aus dem Laden heraus. Nicht als einziger: „Es gab lange Schlangen“, freut sich Chris. Und muss jetzt aber doch los.
Dafür fragt mich Merle, ob ich noch einen Kaffee haben möchte. Noch nicht, ich bin gleich draußen verabredet. Sie hat heute erst ihren dritten Tag im Riptide, und auf meine Frage, was sie vorher gemacht hat, antwortet sie mit langem, leerem Nachhall: „Nichts …“ Und grinst. „Ich bin Schülerin“, klärt sie auf, „das ist mein erster richtiger Nebenjob, ich habe keine Gastroerfahrung.“ Ins Riptide kam sie über einen Umweg: Zunächst hatte sie nämlich überlegt, es in größeren Ketten zu versuchen, und sich dann von ihrer erfahreneren Schwester davon überzeugen lassen, doch lieber auf kleinere Cafés umzuschwenken. Diese Schwester kennt Leute, „die hier gearbeitet haben uns das gut fanden“, und also reichte sie ihre „Sachen“ hier ein – „und es hat funktioniert“, freut sie sich.
Merle geht auf die Sally-Perel-Schule, „die alte IGS Volkmarode“, und kommt nach dem Sommer in die elfte Klasse. Ihr Abitur bekommt sie wieder erst nach 13 Jahren, was sie erleichtert: „Man hat mehr Zeit für den Stoff.“ Schließlich sei wegen Corona viel ausgefallen, so habe man ihr in Mathe gleich drei Themen auf einmal „reingequetscht“, was ihr nicht sonderlich behagt, da sie Mathe nicht so sehr mag. „Noch schlimmer ist Spanisch“, überlegt sie, und stellt fest, dass sie nach fünf Jahren Unterricht „gefühlt nichts“ kann. Die Fremdsprache an sich sei dabei gar nicht das Problem, in Englisch sei sie nicht nur gut, sondern „das ist tatsächlich mein Lieblingsfach“. Ihren Wohnort hat sie indes nicht in Volkmarode, sondern in Bevenrode, also auf dem Lande am Rande zum Landkreis Gifhorn. Sie grinst: „So lange ein Bus von meinem Dorf in die Innenstadt fährt, ist es noch Braunschweig!“ Und schnappt sich von der Theke ein Tablett voller Bestellungen, die sie nach draußen an die Tische bringt.
Bevor ich mich ebenfalls unter den Sonnenschirm begebe, begegnet mir der neue Max, wie ich ihn anspreche. Er grinst: „Der neue Max Bergmann, genau“. Doch hat er keine Zeit, sich intensiver auszutauschen, sondern eilt mit Kassenzettel in der Hand nach draußen und kurz darauf mit einem vollen Tablett mit leeren Gefäßen wieder zurück hinter die Theke.
Nach draußen eile ich jetzt auch, nur ohne Kassenzettel. Dafür nehme ich mir nachher die „Fire“-12“ von U2 mit, die noch vom Record Store Day übrig geblieben ist. Und freue mich auf den Austausch mit Frank – und was dabei herauskommt, gibt‘s demnächst im Kurt zu lesen!
Matthias Bosenick
www.krautnick.de
Fakebook