Donnerstag, 12. August 2021
Und plötzlich kehrt dieser ansonsten katastrophale Sommer als er selbst nach Braunschweig zurück. Morgens noch Scheiben freikratzen, nachmittags unter sengender Sonne durchs Magniviertel schlendern, damit rechnet ja niemand mehr. Umso erfreulicher, dass ich ausgerechnet heute mit Schepper und Andreas im Riptide verabredet bin. Auf dem Weg zum Ölschlägern schlendere ich ganz mondän durch die Schloßstraße, die tatsächlich immer noch mi ß geschrieben wird, errichte aber kein Hotel, sondern statte der Buchhandlung Bücherwurm einen Besuch ab, in der Absicht, des Riptides neuen Nachbarn kennen zu lernen. Ohne zu ahnen, dass ich damit offene Türen einrenne, denn Heike, die in dem hohen, hellen, bunten und nicht nur mit Büchern, sondern auch mit Spielen, Tonies und anderen Objekten bestückten Raum an einem Rundaufsteller Spielwaren einsortiert, während ihre Kollegin Susanne an der Kasse beschäftigt ist, erzählt, dass sie mit gleichem Ansinnen ihrerseits die Nachbarn des Bücherwurms besucht und mit der Aktion „Bücherwurm unterwegs“ im April auch bei Chris war. Das passt ja wieder!
Ausdrucke der bisher veröffentlichten Instagram- und Blog-Fotos dieser Reihe baumeln nun an Schnüren im opulenten Schaufenster der Buchhandlung: Chris präsentiert „Info Rock“, einen fetten Bildband mit der Silhouette von U2 auf dem Cover und Daten, Fakten, Bandfotos drin, „ein echt schöner Bildband“, wie Heike findet. Das Zweite, das sie ins Riptide mitnahm – so macht sie das mit allen Teilnehmern, sie wählt passende Bücher aus und bringt sie mit –, waren mehrere Ausgaben der Reihe „Little People, Big Dreams“, „ein Bildband, wo Künstler vorgestellt werden“, in diesem Falle thematisch passend eben Musiker, nämlich Ella Fitzgerald, David Bowie und Bob Dylan. Mit der Aktion „Bücherwurm unterwegs“ will das Team „unsere tolle Nachbarschaft kennenlernen“, erklärt Heike. „Wir vermitteln: Das ist in diesem Viertel besonders“, sagt sie, und fasst dabei die Definition von „Viertel“ recht ausladend, bis zu den Boardjunkies etwa.
Nur sind diese Nachbarn für den Bücherwurm grundsätzlich zumeist gar nicht so neu wie für das Riptide. Mitarbeiter vom Westermann-Verlag und andere „Freunde der Buchkultur“, so Heike, mithin um die 40 Personen zusammen, gründeten diese Buchhandlung mit der Ausrichtung auf Kinderbedürfnisse bereits 1979, allerdings noch im Ölschlägern 25, „da, wo jetzt die Busenfreundin drin ist“, weiß Heike. „Uns gibt’s länger im Magniviertel als das Riptide“, sagt sie grinsend. Der Umzug in die Schloßstraße 8 erfolgte 1992, „da gab’s mich nur als Kundin“. Seit Anfang 2020, „zwei Monate vor dem Showdown“, leitet Silke Focken die Buchhandlung, „sie hat hier gelernt“, genau wie Susanne, „und ein bisschen was verändert“, sagt Heike. So sei die Auswahl an Büchern jetzt größer, alles könne bestellt werden, sowohl über die Homepage als auch per Whatsapp, „man muss sich nur vom A entfernen und mal B klicken“.
Bücher für Erwachsene hat der Bücherwurm zwar auch schon seit rund 15 Jahren im Sortiment, aber die neue Inhaberin firmierte den einstigen Kinderbuchladen um zu „Bücher für Kinder und Erwachsene“. Das beinhaltet die Bandbreite von Krimi bis Ratgeber und allem dazwischen, „und wir beraten auch“, die Mitarbeiterinnen recherchieren also für die Kunden spezielle Buchwünsche und empfehlen Literatur. Zudem bietet der Bücherwurm abendliche Lesungen in Kindergärten sowie Leseclubs für Kinder, Jugendliche und Erwachsene an, die seit den Lockdown-Zeiten per Zoom stattfinden und die bestens ankommen, sagt Heike: „Gemeinsam das gleiche Buch lesen und sich darüber austauschen, das ist faszinierend.“ Denn es komme regelmäßig vor, dass die Clubteilnehmer die Inhalte völlig unterschiedlich wahrnehmen: „Wie, so steht das da drin? Ich hab das ganz anders gelesen!“ Ihrerseits lassen sich die Mitarbeiterinnen auch von Kundenbestellungen inspirieren, indem sie vorsichtig in eingetroffenen Büchern blättern und sie bei Begeisterung ins Sortiment aufnehmen. Heike führt da die ungewöhnlichen Bilderbücher „Der Junge, der Maulwurf, der Fuchs und das Pferd“ von Charlie Mackesy, „wenig Text, viel Inhalt“, sowie „Hundert: Was du im Leben lernen wirst“ von Heike Faller und Valerio Vidali an.
Heike selbst ist „Kundin seit 1989“, arbeitete bald nebenbei in Teilzeit und „habe durch einen glücklichen Zufall im Sommer den Job angeboten bekommen“. Sie ist eigentlich Grafikdesignerin, studierte erst in Nürnberg und machte in Braunschweig den Abschluss, und sie stellt fest: „Ich hatte schon immer mit Papier zu tun.“ Mit ihr bilden nun fünf Frauen das Team des Bücherwurms, und „die Namen sind witzig“, sagt sie: „Silke, Hilke, Heike, Elke und Susanne.“ Bei den Nachnamen setze sich das ansatzweise fort. Man spürt Heikes Leidenschaft, nicht nur für den Job und die Bücher, auch für die Aktion „Bücherwurm unterwegs“, dessen Hashtag übrigens farblich so gestaltet ist, dass mittendrin das Wort „munter“ hervorsticht, sehr passend.
Genau so munter schwärmt Heike auch vom Riptide: „Chris hat eine tolle Einrichtung ins Viertel gebracht, das Magniviertel hat dazugewonnen.“ Sie strahlt: „Es ist schön, wenn man über den Magniplatz streift und da sitzen viele Leute in den Cafés.“ Wir könnten noch Stunden weitersprechen, obwohl Heike längst Feierabend hat, aber ich bin ja selbst verabredet. Also verabschiede ich mich von Susanne und Heike und nehme mir vor, mindestens zum Stöbern wiederzukommen.
Da hat Heike Recht, der Magnikirchplatz ist wunderschön. Grünes Blätterdach und Sonnenschirme färben das überraschend helle Sonnenlicht mild ein, die Menschen an die Tischen quer über den Platz wirken gechillt und ungestresst, am Rand der Sitzgruppen bedienen noch die donnerstäglichen Marketender ihre Kundschaft; es wirkt, als flösse der Markt in die Tische. Was für eine Idylle. Während ich noch freudig staune, winken mit Schepper und Andreas von unserem Tisch aus zu und ich setze mich zu ihnen. „Oh nein, jetzt hab ich sie dir mit Zucker gebracht“, stellt Lucie fest, als sie gerade Schepper sein Getränk aushändigen will. Macht nix, die nehme ich eben. Andreas bekommt sein Hefeweizen wie geordert und Lucie bringt Schepper kurz darauf seine zuckerfreie Fritz-Kola. Da ich hungrig bin, aber dieses Mal nicht wie immer den Burger essen möchte, bitte ich Lucie um eine Empfehlung. Karten legt das Riptide ja keine mehr aus, sondern einen QR-Code sowie die ausgedruckte Liste am Caféfenster; so geht etwa auch das Hermans inzwischen vor, wie ich dort vorgestern erfuhr, Sylvester bietet QR-Codes an sowie für Gäste ohne Smartphone Tablets zum Stöbern. Für den größeren Hunger empfiehlt mir Lucie nun das Fladenbrot „Junkfood Heaven, mit viel Käse und schmeckt nach Hotdog“. Klingt ansprechend, auch für Andreas, der sich ebenfalls bei ihr ein solches Fladenbrot bestellt.
Unsere Dreier-Zusammenkunft hat beinahe einen historischen Hintergrund: Als Schepper nach seiner ersten gesundheitlich bedingten Liveunterbrechung 2015 erstmals wieder mit seinem Bass auftrat, begleiteten ihn Andreas und ich nach Hannover, ins TAK-Theater, wo er als Begleiter der Nachtbarden seine zwei damals neuen, bis heute epischen Stücke „King Of Time“ und „None Of Us“ auf das unbedarfte Publikum losließ. Je weiter sich Schepper in seinen unendlichen Stücken verlor, desto erstaunter und erheiterter war das Publikum, aber nicht im herablassenden Sinne, sondern positiv überrascht davon, wie sich jemand so in seiner Musik verlieren konnte, die so weit abseits des Bekannten stattfindet und letztlich doch so viele Gäste überzeugte. Es war ein pures Glück, diesen beiden Songs folgen zu dürfen, und Schepper erhielt abschließend nicht grundlos den meisten Applaus. Noch heute wünsche ich mir eine 12“-EP mit diesen beiden Tracks. Eine gesundheitliche Unterbrechung gibt es derzeit für Schepper erneut, doch seit er, wie Andreas und ich, zweifach geimpft ist, radelt er endlich wieder seine Lieblingsorte in der Stadt ab und erfährt allerorts ein herzliches Willkommen. So hoffen Andreas und ich nun, auch bei seinem zweiten Comeback dereinst wieder im Publikum sitzen zu dürfen.
Wobei wir da auch wegen der viralen Situation skeptisch sind, wie lang sich die gegenwärtigen Lockerungen als sicher gewähren würden. So entschied das Plenum des Nexus‘ etwa verantwortungsvollerweise, dass in diesem Jahr keine Indoor-Veranstaltungen in dem Kulturzentrum mehr stattfinden würden, was für unsere Indie-Ü30-Party wiederum bedeutet, dass wir auch den Termin am 13. November wieder bei Radio Okerwelle im Rahmen von Marvins Sendung „Die Party“ ausrichten dürfen, zum siebten Mal inzwischen. Glück für uns! Aber auch: Erst im September habe ich Urlaub, beispielsweise, und fürchte, dass die ganzen Rückkehrer, die sich jetzt an meinen potentiellen Zielorten erholen, so viel unschönen Beifang mitbringen, dass die Regularien für Reisende in Kürze dergestalt verschärft werden, dass ich nicht mehr wie sie außerhalb Deutschlands ans Meer komme, womöglich sogar nicht mal mehr innerhalb. Immerhin, stellen Andreas, Schepper und ich fest, bietet diese Region ja auch für uns selbst neue Ausflugsziele in kurzer Entfernung. „Der Dalai Lama sagt, einmal im Jahr soll man an einen Ort, wo man noch nie war“, sagt Andreas. Mit Andrea war ich beispielsweise jüngst erstmals in Vienenburg und Blankenburg oder auch mal in Osterwiek. Derweil bring Nadia uns die Junkfood Heavens, und tatsächlich, die triefen vor Käse und Soße und lassen vegane Hotdogstücke zwischen den Fladenbrothälften erkennen. Scheppers favorisiertes Ausflugsziel wäre außerirdisch: „Ich gucke schon bei eBay, aber da verkauft keiner ein Raumschiff.“ Nicht mal Jeff Bezos, aber da wäre es ohnehin fraglich, ob er wirklich diese Plattform dafür nutzen würde. „Schmeckt’s?“, vergewissert sich Lucie im Vorbeigehen bei Andreas und mir ob ihrer Empfehlung. Vollmundig lässt Andreas ein „sehr lecker“ heraushören, ich schlösse mich an, böte mir mein Mund mehr Platz zum Sprechen.
Musik ist natürlich Hauptthema bei uns, Andreas und Schepper tragen etwa T-Shirts von Bands, die es ewig nicht mehr gibt und die so abseitig sind, dass sie niemand kennt, und die bestellen sie bei einem bestimmten Onlinehändler. Instrumente, Livegigs, klar, alles Thema, aber auch: Andreas hat einen Abreißkalender vom Duden-Verlag mit 365 „in Vergessenheit geratenen Wörtern“. Mir fällt sofort der Klassiker Wählscheibe ein, Schepper ergänzt die Telefonzelle. Andreas erwähnt die Sommerfrische: „Das schreibe ich Kollegen gern, wenn ich Urlaub habe: ‚Ich bin jetzt in Sommerfrische‘.“ „Maifrisch“, kontert Schepper dazu, und „Maibowle, aber die gibt’s ja noch“, und nach seinem Maiglöckchen und meinem Mai Tai schließt Andreas die Reihe mit „Mai Krüger“.
Die Getränke sind leer, Madeline bringt Andreas ein weiteres Weizen, mir ein Wolters und Schepper die Rechnung. Ihn kosten diese Ausflüge nach wie vor Anstrengung, daher streicht er für heute die Segel. Andreas und ich bleiben noch etwas, vereinbaren unsere Zusammenkunft bei Scheppers zweiten Comeback und trennen uns dann auch bald.
Auf dem Weg zur Kasse stoße ich beinahe mit Chris zusammen. Er hantiert an einem Tablet an der Seite der Theke herum: „Wir haben ein neues System“, erklärt er mir. „Eine Kasse reicht nicht, wir können jetzt an zwei Orten Bestellungen eingeben und buchen über das Tablet.“ Heute ist erst der zweite Tag, an dem dieses System im Einsatz ist: „Das ist eine Riesenerleichterung“, sagt Chris, „alle sind total happy.“ Denn: „Wenn ich Platten aufschreibe, was länger dauert, ist die Kasse blockiert.“ Er strahlt: „Das ist eine kleine technische Sensation!“, löst sich vom Tablet und bringt ein Tablett mit Brownies nach draußen an einen der voll besetzten Tische.
Für mich steht der Heimweg an. Zunächst kehre ich aber in Harrys Bierhaus ein, nicht nur für ein nämliches Getränk, sondern auch für die Flyer und Plakate des vierten Betreuten Trinkens mit Musik, das wir mit Rille Elf am 21. August von 17 bis 22 Uhr dort ausrichten. Werner drückt mir einige Druckerzeugnisse in die Hand und verweist dabei auf die Exemplare der Doppel-10“ „Artfremd an verschiedenen Orten“ von Die Müller-Verschwörung, die es bei ihm zu erwerben gibt. Ein Plakat will ich gleich anschließend in den MokkaBär bringen, doch da war Uwe schneller als ich: Bei Ollo und Ilona im Café hängt bereits eins herum. Nun, ich eben jetzt auch, es ist Sommer und mild, Grillen sind zu hören, der Himmel ist indigoblau und die Aufstehzeit 6 Uhr morgens noch ganz weit weg.
Matthias Bosenick
www.krautnick.de
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