#168 Die Politik des Tanzens

Dienstag, 21. September 2021

Haferbuletten mit Rosmarinsoße und Kartoffel-Wirsing-Gemüse stehen für heute auf der Mittagstischkarte vom Café Riptide. Um den Mittagstisch im Riptide überhaupt ausprobieren zu können, muss ich Urlaub haben, weil ich sonst um diese Uhrzeit nicht ins Magniviertel komme, und den habe ich zurzeit, Sommer 2021, im September nicht wesentlich anders als im Juli, kalt, grau, egal, für mich kein Anlass, nicht draußen auf dem Magnikirchplatz am Tisch zu sitzen und bei Melissa meine Bestellung aufzugeben. „Du hast dir einen guten Tag ausgesucht“, sagt sie, „es riecht gut nach Thymian im ganzen Laden.“ Das klingt schon mal verlockend!

Vorher steuere ich aber noch Zweimalschön an, den Second-Hand-Laden am Ölschlägern 35. Im Eingangsbereich hält mich ein Buchregal beinahe davon ab, das Gespräch mit Tanja zu suchen, die das Geschäft mit zumeist gebrauchter Ware an Kleidung, Deko, Porzellan, Schmuck und Spielzeug leitet. „Im Oktober werden es acht Jahre“, sagt sie, dass Zweimalschön an diesem Platz Kundschaft und Spendende empfängt. Sie erläutert die Struktur hinter Zweimalschön: Der Laden gehört zur Deutschen Kleiderstiftung aus Helmstedt, die auch unter dem Alias Spangenbergstiftung bekannt ist, und mit diesem sowie dem im Frühjahr neu ins Leben gerufenen, an jugendliche Käufer gerichteten Zweimalgut in der Casparistraße unterhält das Netzwerk sieben Geschäfte, auch in Helmstedt, Magdeburg, Hildesheim und Berlin, dort eines zudem unter dem Namen Rack ‘n White, wo überwiegend Englisch gesprochen wird. Das Konzept dieser Läden ist auf soziale Projekte ausgelegt, im Inland etwa Ausgabestellen für wärmende Kleidung an Obdachlose oder Fluthilfen sowie Auslandsprojekte in Krisengebieten in der Ukraine oder Albanien. „Wir haben eine Kooperation mit einem Hamburger Pastor, der fährt ein, zwei Mal im Jahr in die Ukraine“, berichtet Tanja.

Sie selbst arbeitet seit über fünf Jahren hier, zusammen sind vier Teilzeit-Hauptamtliche tätig – und 25 Ehrenamtliche. „Die sind zum Großteil 65 plus“, erzählt Tanja, „aber auch Jüngere, die sich engagieren möchten.“ Sie strahlt: „Das ist ein ganz anderes Arbeiten, nett, höflich, das bringt viel.“ Sie schwärmt von den „Generationsunterschieden“ zwischen „ganz Jungen und einer Dame von 77 Jahren, wie die sich begegnen, das ist ein ganz wunderbares Arbeitsklima“. Da „entwickeln sich Freundschaften“, beobachtet sie, man verabrede sich etwa für gemeinsame Freizeitaktivitäten.

Derzeit nimmt der vordere Bereich des Ladens im Magniviertel sogar Neuware ein. Da viele Einzelhändler aufgrund der Corona-Lockdowns auf ihrer Saisonware sitzenblieben, spendeten einige diese an Zweimalschön, wie Tanja dankbar berichtet: „Sie waren recht großzügig im Einzelhandel.“ Gebrauchtware von Privatleuten erreicht den Laden meistens direkt durch den Haupteingang, indem Spender eben mit ihren gebrauchten Dingen vorbeikommen, aber vor der Tür steht außerdem ein Spendencontainer. Es kommt eine große Bandbreite an Gütern herein: Mit dem Angebot, das – anders als etwa bei Zweimalgut – mehr als nur Kleidung beinhaltet, „sind wir traditionell breit aufgestellt“, sagt Tanja, die dabei auf die „große Herrenabteilung“ verweist und von einem „Herrn über 80“ berichtet, der sich ehrenamtlich die Mühe macht, zu Hause Gesellschaftsspiele und Puzzles auf Vollständigkeit zu überprüfen und sie dann gut verpackt wiederzubringen.

Einen Wandel stellt Tanja bei der Kundschaft fest: War diese früher zumeist älter als 45 Jahre, tummeln sich heute längst viele Jugendliche bei Zweimalschön. Aber mit einem anderen Kaufverhalten: Während ältere Kunden, häufig ein Stammpublikum, sich noch „Zeit nehmen“, um herumzustöbern, gingen jüngere Käufer zumeist gezielt in den Laden und verließen ihn umgehend, sobald sie nicht fündig würden. Auch sei Second-Hand-Kleidung nach Tanjas Ansicht „salonfähig geworden“, mithin nichts mehr, das man mit Mittellosigkeit verbinde, sondern vielmehr mit „Nachhaltigkeit, man tut etwas für die Umwelt, ein sozialer Aspekt“. Zudem erkennen viele Kunden, dass es nicht teurer sei, Kleidung gebraucht zu erwerben, als billig neu. Und: „Second Hand bedeutet, nicht wie die Masse angezogen zu sein.“

Bei ihrem nun nicht mehr ganz so neuen Nachbarn, dem Café Riptide, war Tanja hingegen noch nicht. „Da müssen wir mal hingehen abends, es ist wirklich schön da“, wirft ihre Mitarbeiterin Katrin ein, „das ist ein toller Platz da, abends gehen die Lichter an.“ Katrin war auch schon im Riptide, als es noch im Handelsweg residierte: „Aber ich finde es hier schöner.“ Tanja nickt: „Das Magniviertel hat sich echt gemausert.“ Auch seien Öffnungszeiten bis 18 Uhr an diesem Standort noch ausreichend, später kämen weniger Kunden als vielmehr Leute, die etwa Essen gehen wollen.

Das will ich jetzt schon, mittags, und verabschiede mich deshalb, wenngleich das Buchregal am Eingang wirklich zu verlockend ist. Meine Bestellung bringt mir Chris selbst an den Tisch und setzt sich gleich zu mir, obwohl es ihm im T-Shirt beinahe zu kalt ist. Auch er gönnt sich die Haferbuletten, die heute das Mittagstischangebot ausmachen. „Sound On Screen geht wieder los“, berichtet er, also die gemeinsame Musikfilmreihe mit dem Universum-Kino, und zwar bereits übermorgen mit „Shane“, der Dokumentation über Shane MacGowan, tragischer Bandkopf der Irish-Folk-Punks The Pogues, heute von Alkoholmissbrauch und Krankheit in den Rollstuhl gezwungen. Es gibt wieder ein Aftershowprogramm im Riptide, das stand zu Beginn des Umzugs und des Lockdowns vor einem Jahr noch zur Debatte, denn „jetzt geht man sieben Minuten zu Fuß statt früher nur anderthalb“, sagt Chris, doch nach einer Umfrage auf Instagram sprachen sich 91 Prozent dafür aus, dass diese Distanz kein Hindernis sei, wie gewohnt nach dem Film ins Riptide zu pilgern.

Das Aftershowprogramm wird „ein bunter Abend“, sagt Chris, „es gibt schönes kaltes Guinness, Whiskeyspezialitäten und von mir von Hand zusammengestellte irische Musik“. Für ihn ist MacGowan „mein absoluter Lieblingssänger“, sagt er: „Wenn ich mir nur eine Band aussuchen sollte, die ich live sehen dürfte, wären es die Pogues.“ Er ärgere sich, dass er sie so oft verpasste, auch, als sie in den Neunzigern in Braunschweig spielten. Und er freut sich, dass er kürzlich von MacGowan eine persönliche Nachricht bekam: „Er ist seit drei, vier, fünf Monaten bei Instagram, da hat er als erstes ein Bild gepostet von sich im Rollstuhl, ich hab ihm spontan eine Nachricht geschrieben, ‚Es bricht mir das Herz, dich im Rollstuhl zu sehen‘, und er antwortete, ‚Hi Chris, thank you for your kind words‘, das war ein schöner Moment.“

„Shane“ ist der Auftakt, es folgen „Freakscene“ über J Mascis und Dinosaur Jr am 21. Oktober sowie „Paolo Conte – Via con me“ am 25. November; sofort habe ich dessen Hit „Sparring Partner“ im Ohr. „Auf die Staffel freue ich mich“, sagt Chris. Der titelgebende Song „Freakscene“ war sogar der erste, den ich damals von Dinosaur Jr kannte. Überhaupt gibt es nur eine Band auf der Erde, die ein Album mit einem Gitarrensolo beginnen darf. Chris grinst: „Wenn ‚Gegniedel‘ mal im Duden aufgenommen wird, steht daneben ein Bild von J Mascis.“ Die Aftershowparty nach „Shane“ ist überdies die erste Veranstaltung, die im neuen Riptide stattfindet: „Ich bin richtig aufgeregt“, sagt Chris. Er wisse auch noch gar nicht, wie sich die Akustik bei anwesendem Publikum darstellt – seine bisherigen Shows für Instagram waren ohne Zuschauer und leise gehalten, also kein Vergleich. Neu bei Sound On Screen ist, dass künftig Chris und Daniela vom Filmfest die Moderation im Kinosaal übernehmen.

Das uns frösteln lassende Herbstwetter bringt ein weiteres Thema aufs Tapet: „Im Team diskutieren wir, was wir im Winter machen“, erzählt Chris. „Eventuell gehen wir auf 2G“, denn wenn wieder alle Gäste nach drinnen kommen, bedeutet das für die Angestellten, acht Stunden lang die Maske tragen zu müssen, und das fiele mit 2G weg. Auch die als Spuckschutz herhaltenden Plexiglasscheiben könnte Chris dann aus dem Café entfernen: „Das würde uns entlasten“, aber noch sind auch im Team nicht alle geimpft, altersbedingt, und das sei für 2G eine Voraussetzung.

Und außerdem war Chris in jüngster Zeit in der Stadt omnipräsent: Er ließ sich für die BIBS zur Wahl in den Stadtrat sowie den Bezirksrat Westliches Ringgebiet aufstellen, die Wahlplakate waren überall zu sehen, darauf Chris natürlich mit Schallplatte in der Hand. Trotz hoher Stimmenanteile erreichte er beide Gremien nicht, weil er mit seinem Listenplatz vielmehr die vor ihm positionierten Kandidaten förderte: „Ich habe viel über das politische System verstanden“, sagt er. Zuerst sei er zwar „traurig“ gewesen, doch „ich bringe mich trotzdem politisch ein, muss aber nicht in Ratssitzungen oder Ausschüssen sitzen, das ist okay für mich“. Er grinst: „Dann werde ich eben in vier Jahren Bürgermeister.“ Als „Burgermeister“ unterzeichnet er seitdem eben seine Emails.

Aufgegessen haben wir inzwischen beide, Dominik räumt unsere Teller ab und fragt: „Hat‘s geschmeckt?“ Chris und ich bitten ihn, unseren lobenden Gruß an den Koch zu richten. Der sitzt mit zwei weiteren Personen am Nachbartisch, Dominik dreht sich um und sagt: „Nico, war nicht so.“ Der Angesprochene macht den Daumen hoch und strahlt: „Okay!“

An meinem Tisch findet ein Mitsitzerwechsel statt: Chris hat dringend im Büro zu tun, dafür kommt Schepper angeradelt. Er hat Thomas im Schlepptau, Gitarrist und zurzeit als Thosch! solo aktiv. Während sie Platz nehmen, erklingen hinter mir plötzlich Saxophone, und Schepper weiß, dass es dienstags immer Livemusik auf dem Magnikirchplatz gibt. Zwischen den Tischen streicht Robert umher und verteilt Informationen darüber: „Magni musiziert“ heißt die Reihe und ist sympathischerweise als „Öffentliches Proben“ deklariert. Robert ist Mitglied der Bürgerschaft Magniviertel, die das Ganze organisiert: „Aber heute zum letzten Mal“, bedauert er. Schepper schwärmt von dem „Trio mit zwei Querflöten und einem Cello“, das letzte Woche hier spielte: „Das hat mir gefallen.“ Heute probt hier Saxcess, das Saxophon-Ensemble der Musikschule Musikuß in der Brunsviga.

Der Sound von Saxcess erinnert streckenweise beinahe an fette Funk-Ensembles. Ein solches vernahm ich vergangene Woche in Kopenhagen, wohin mich mein Sommerurlaub führte: Da spielte eine nämliche Band auf einem Boot am Søren Kierkegaards Plads, und ich hüpfte gegenüber auf Ólafur Elíassons Cirkelbroen mit. Auf Booten geht da einiges: Kurz darauf beobachtete ich unterhalb der Inderhavsbroen eine schwimmende Tanzfläche, auf der Leute zu Konservenmusik munter herumhüpften. Livemusik wiederum bekam ich in der kurzen Zeit einige zu hören: Das Konzert in Blågårds Apotek nahm ich zwar nur von draußen wahr, weil ich lieber unter freiem Himmel den Restsommer genießen wollte, aber der frickelige Afrojazz vom Alain Apaloo Trio, der gelegentlich durch die geöffnete Tür drang, gefiel mir. Live und direkt erlebte ich hingegen Jomi Massage, die am Café Flindt & Ørsted im Ørstedsparken ein halbstündiges Gratiskonzert gab, mit dem sie für ihr kommendes Soloalbum „Lyst“ sowie ein voll orchestriertes Konzert im Oktober warb. So im Spätsommer im Park mit Teich und Hanglage, mit der tiefstehenden Sonne und tanzenden Mücken, da fühlte es sich gar nicht mehr so an, als sei man am Rande der Innenstadt einer Millionenmetropole – so, wie Jomi vor und nach dem Gig, den sie allein mit E-Gitarre und E-Piano bestritt, mit Gästen und Freunden plauschte, hätte dieses intime kleine Konzert auch, sagen wir, im Garten des Spunk stattgefunden haben können.

Das Spunk ist überdies nicht der einzige Standort in Braunschweig, an dem wieder regelmäßig Konzerte laufen. Nebenan im Kufa-Haus gibt es Livemusik, das Südstadt-Open-Air fand auch trotz Regens viel Publikum, auf dem Nexus-Hof und in Harrys Bierhaus treten Bands und Musiker auf. Das Leben kehrt zurück, auch neues, so eröffnete Pott jüngst in der Sophienstraße, in naher Nachbarschaft zur Cêperie Sophie, sein Tattoo-Café Schmierfink & Robird, und im früheren Graphiti residiert nun das Kaffeehaus. Nicht wieder am Start indes ist bedauerlicherweise das Lissabon, ansonsten sind mir Schließungen in Braunschweig gottlob nicht so geläufig. Meine Zeit verbringe ich wieder recht häufig auch im MokkaBär, im Gambit und im Hermans. Mischungen aus Plattenladen und Café wie das Riptide wiederum entdeckte ich in Kopenhagen in meiner Nachbarschaft in Vesterbro gleich zwei, beide indes wesentlich jünger als ihr Braunschweiger Vorbild: das Beat Café und das Sort Kaffe & Vinyl. Überhaupt, Plattenläden in Kopenhagen: Im Amager Centret richtete die Second-Hand-Kette Accord einen von zweien ihrer Neuware-Läden namens Sound ein. Ja, genau: ein Geschäft mit ausschließlich neuem Vinyl, und zwar mit überraschend breit gefächertem Angebot, in einer Shopping-Mall. Da nahm ich mir das fünfte Album von Vi sidder bare her mit.

Wir sitzen hier auch nur herum, Thomas, Schepper und ich, und Thomas erzählt von seiner ersten Band Cardinal Sin. „Mit der ist uns ein Eine-Sekunde-Coup gelungen“, lacht er: „1986 haben wir es auf einen Sampler geschafft in den USA.“ Auf „Iron Tyrants III – The European Blitz“ wurden europäische Metal-Bands einem US-Publikum vorgestellt, und den Coup errang die Managerin seiner Band, „obwohl wir keine Platte raus hatten“. Nur, gebe man heute noch „Cardinal Sin – Get Out“ bei Youtube ein, bekomme man ständig neue Ergebnisse, weil das Lied immer wieder neu hochgeladen wird, obwohl es ausschließlich auf Vinyl erschien. „Das gab es hier nur als Import“, sagt Thomas, „ich musste mir das bei Salzmann am Bohlweg für 30 Mark kaufen.“ Heute kostet die LP bei Discogs zwischen 50 und satten 300 Euro, da sind 30 Mark eine gute Investition.

Für uns drei wird es allmählich Zeit, aufzubrechen. Mein weiterer Weg führt mich zunächst zu den Boardjunkies und dann zum Hermans, wiederum draußen sitzen und Freunde treffen. So geht Sommerurlaub!

Matthias Bosenick
www.krautnick.de
Fakebook

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