#170 Auseinandersetzungsbeteiligter

Donnerstag, 25. November 2021

Längst ist das Riptide so lang neu im Magniviertel beheimatet, dass es schon wieder jüngere neue Nachbarn gibt: Da, wo früher das House Of Sweets residierte, Am Magnitor 6, ist nun der Indian Grocery Store beheimatet, genauer: Sangamitra Bit Grocery. Der Süßwarenladen zog nämlich kaum nach der Eröffnung vom heimeligen Magniviertel in die Schlossarkaden, und dessen Platz reklamierte nun der indische Supermarkt für sich. Inhaber ist Nikhil, der mich bittet, vor der Tür mit ihm zu sprechen, weil er genau darauf achtet, dass sich pandemiebedingt nicht mehr als vier Kunden im Shop aufhalten. Und er bittet mich, das Gespräch auf Englisch zu führen, weil ihm das besser liegt. Das ist mir recht, mein Englisch ist besser als mein Indisch.

Seit vier Monaten betreibt Nikhil das Sangamitra inzwischen auch schon wieder. Es ist sein erstes Geschäft überhaupt, und er kam von Hannover nach Braunschweig, weil er erfuhr, dass die indische Gemeinde hier noch keinen Supermarkt hatte. Dabei hätte ich nicht gewusst, dass es in Braunschweig überhaupt eine „indian community“ gibt, und er sagt, dass es sich dabei um 500 Familien handelt, von denen viele in Wolfsburg bei Volkswagen arbeiten, aber in Braunschweig leben. Er selbst war vorher nicht bei VW, sondern bei Continental beschäftigt. Seine Vorbereitungen waren zeitintensiv: In den zwei Jahren vor der Eröffnung suchte er sich einen Geschäftspartner und knüpfte Handelsbeziehungen nach Indien. Mit Erfolg: „Es läuft gut, die Leute freuen sich, dass wir uns die Mühe machen, den Shop zu betreiben“, strahlt er.

Erst kürzlich hatte Nikhil drei Wochen Urlaub und ist überhaupt erst seit so kurzem im Magniviertel, dass er noch nicht ausführlich Zeit hatte, seine neue Nachbarschaft kennenzulernen. In seinen Pausen nimmt er seinen Kaffee gegenüber in der Kaffee-Zeremonie ein, kennt aber natürlich auch den Blick quer über den Magnikirchplatz auf das Riptide. „Da muss ich wohl mal hin“, grinst er.

Im Schaufenster von Sangamitra sieht man bunte Verpackungen, die einem vom herkömmlichen Einkaufen so gar nicht vertraut sind. „Die gibt es auch alle nicht im Supermarkt“, betont Nikhil, „die kommen direkt aus Indien.“ Kundschaft hat er derweil längst nicht nur aus der indischen Gemeinschaft: „Die Leute mögen unsere Gewürze“, sagt er, „wir haben alle Arten von Gewürzen und sie lieben das.“

Natürlich frage ich ihn, ob er das Badsha auf der anderen Seite des Magniviertels kennt, und natürlich kennt Nikhil das. Wenn er irgendwo ein indisches Restaurant entdeckt, checkt er das, erzählt er, und so eben auch das Badsha. Er schwärmt: „Das ist sehr gut, authentisch.“ Dort kennt man ihn und seinen Supermarkt inzwischen auch, man deckt sich bei ihm ein: „Wir tauschen uns aus.“ Er seufzt und fügt an, dass es gut ist, in der Fremde Freunde zu haben.

Über uns illuminiert die Stadt die Weihnachtsdeko, die sich in Girlanden über die Straßen erstreckt oder als Lichterketten die Bäume verwickelt. Nikhil hat Kundschaft und muss zurück in den Laden, ich mache mich auf den Weg ins Riptide, vorbei am Wochenmarkt und der Magnikirche, aus der heute keine Dudelsackmusik zu hören ist. Sämtliche Gastronomen haben zwar Tische und Stühle draußen stehen, teils mit Kerzen, teils mit Decken versehen, doch lädt der lauernde Niesel niemanden dazu ein, draußen zu sitzen. Wie schade!

Aber im Riptide ist es gemütlich warm und schimmernd beleuchtet. Zuerst zeige ich meine Impfnachweise vor, um die Melissa mich von der Theke aus bittet. „Möchtest du eine Flasche Wein kaufen?“, fragt sie mich dann, und ich verstehe natürlich zuerst saufen, deshalb einigen wir uns auf beides, nur noch nicht auf die Reihenfolge. „Damit unterstützt du antifaschistische Projekte in Italien“, erklärt sie, und ich finde, dass wir die hier ebenfalls nötig haben, und sie sagt: „Weltweit.“

Einen Milchkaffee mit Kuhmilch bestelle ich stattdessen bei Melissa. Sie fragt mich, welchen Keks ich dazu haben möchte, den hellen oder den dunkleren, „beide vegan“, und da ich mich nicht entscheiden kann, bekomme ich von beiden Sorten je einen von ihr auf die Untertasse drapiert. Vor ihr auf der Theke türmen sich Papiertüten, die laut Schild mit Weihnachtskeksen befüllt sind, gebacken von Nicole, und wenn es sich dabei um die gleichen Kekse handelt, ist dieses Gebäckgepäck nur zu empfehlen: Die hellen sind etwas mürber, knuspriger, und die dunklen erinnern in ihrer Konsistenz an Brownies – lecker sind sie beide.

Das Weinprojekt nennt sich „Il fiore del partigiani“, bestätigt Chris Melissas Ausführungen, drückt mir einen Flyer dazu in die Hand und ergänzt: „Das ist ein Soli-Wein, der Einkaufspreis geht an das Weingut, das das unterstützt.“ Mir scheint sehr, dass ich diese Flaschen bereits bei einer Donnerstagskneipe draußen vor dem Nexus gesehen habe, und Chris bestätigt den Zusammenhang: „Den Wein habe ich aus dem Nexus-Umfeld bezogen.“ Und den Zapatista-Kaffee fügt er an. Möglicherweise ist das derselbe, den ich vor einem Jahr in Hamburg für Andrea bestellte und den wir zu unserer Überraschung kürzlich in Leipzig ganz normal in Plagwitz im Laden stehen sahen: Kaffee vom „Café Libertad Kollektiv“, da muss ich Chris nächstes Mal genauer ausfragen.

Jetzt interessiert mich mehr, wie das Riptide über den Winter kommen will, angesichts der Inzidenzen und neuen Bestimmungen. „Das wissen wir noch nicht“, bedauert Chris. Er berichtet von Umsatzeinbußen, weil die Gäste trotz 2G vorsichtiger mit dem Ausgehen sind; das nehme ich auch andernorts wahr, im Gambit etwa. Immerhin hörte er von einem Topf, in dem die Regierung neue Coronahilfen bereitstellen will, das würde dem Riptide helfen. Wohl ist ihm bei den Infektionszahlen nicht: „Ich hab viele DJ-Auftritte abgesagt“, sagt Chris, der es nicht verantworten kann, Leute dazu zu motivieren, zusammenzukommen, anstatt die erforderliche Distanz zu halten: „Ich hätte kein gutes Gefühl dabei.“ Auch sind viele fürs Riptide vorgesehene Weihnachtsfeiern abgesagt. Immerhin erfreulich ist: „Zu uns kommen Leute, weil sie wissen, dass wir das ernstnehmen.“ Sogar über eine jüngst erfolgte Kontrolle durch das Ordnungsamt freut sich Chris: „Bei uns ist alles tiptop.“ Umgekehrt schreckt es ihn ab, wenn er als Gast irgendwo nicht überprüft wird: „Ich fühle mich unsicher.“

Da freue ich mich selbst, dass die Lokalitäten der letzten Veranstaltungen, an denen ich beteiligt war, ebenfalls die Regelungen ernstnahmen. Beim fünften „Betreuten Trinken mit Musik“ in Harrys Bierhaus mit Rille Elf kontrollierte Wirt Werner höchstselbst die Gäste und verteilte Bändchen, und Mitarbeiter vom Kufa-Haus ließen sich bei der Halloween-Party mit Rille Elf und dem „Dark Indie Electro Festival“ mit Ashes ‘n Android, Beyond Border, System Noire und Blinky Blinky Computerband ebenfalls von den Zuschauern die Impfnachweise vorzeigen. Erlebnisse, die ich nicht missen möchte, insbesondere jetzt, da sie einmal mehr womöglich nicht zustande gekommen wären. Harrys Bierhaus war Mitte Oktober die erste Innen-Veranstaltung seit mehr als anderthalb Jahren für mich, und mit der 2G-Regelung war das Gefühl sehr präsent, den vergleichsweise wenigen Gästen wenigstens vertrauen und verhältnismäßig ungezwungen miteinander umgehen zu können. Auch so im Kufa-Haus: Zwar war es nicht voll bei der Halloween-Party, aber wer da war, feierte ausgelassen, so wie wir es seit Monaten nicht mehr erlebten. Das war großartig. Mit der Indie-Ü30-Party wünschen Henrik und ich uns das auch wieder, vermutlich richten wir die im Frühjahr wieder im Nexus aus, sobald die Renovierungsarbeiten dort abgeschlossen und die Zahlen vertretbar sind. Bis dahin sind wir glücklich mit der Alternative, die Party in Marvins Sendung „Die Party“ auf Radio Okerwelle feiern zu dürfen; am 22. Januar wieder.

Ebenfalls nicht so gefüllt wie möglich war das „Dark Indie Electro Festival“, was uns ebenso ebenfalls Sicherheit vermittelte. Nach fünf Jahren war es das erste Mal, dass Olaf mit Blinky Blinky Computerband live auftreten sollte, und wie weiland im Tegtmeyer oder früher mit seinem Projekt Inside Agitator im B58 war ich wieder als Keyboarddummy und Backgroundsänger an Bord, als zweiter und tatsächlich live spielenden Keyboarder verpflichtete Olaf Torsten, der eigens aus Köln anreiste. Kurioserweise war Blinky Blinky Computerband als vorletzter Act geplant, vor dem Hauptact [:SITD:] und nach den anderen, die deutlich mehr Stand in der Electro- und Gothicszene haben. Und als sich dann der Sänger von [:SITD:] nur eine Woche vorher bei einem Gig eine Rippe brach, rückte Olaf auch noch auf die Headliner-Position – und uns dreien rückte das Muffensausen nur umso mehr in den Pelz. Gottlob fühlten wir uns im Kreise der Profi-Musiker gut aufgehoben, knüpften neue Freundschaften und hatten eine harmonische gemeinsame Zeit. Olaf begann den Auftritt dann auch damit, dass er feststellte, eigentlich gar nicht an die Position zu gehören, und wir drei performten dann seinen „Strange Electro Pop“, wie er seine Musik nennt, die sich aus altem EBM, Synthiepop, Electro und Ambient speist.

Mittendrin gewährte mir Olaf meine fünf Minuten für den gemeinsamen Song „Ich will nicht tanzen“, und ich weiß nicht, ob ich jemals so viel Lampenfieber hatte; vor der Lesung aus „Die Stadt ist eine Erbse“ im Riptide damals war es auch schlimm, ja. Wir verpflichteten kurz vorher spontan Maria aus dem Publikum, auf der Bühne diejenige zu sein, die mich zum Tanzen bringen will, und das war grandios, dass sie sich so bereitwillig überreden ließ. Wir verabredeten ein Codewort, an dem sie erkannte, dass sie auf die Bühne schleichen sollte, und das leitete sie von ihrem Shirt ab, auf dem sich Dinosaurier tummelten: Kurz vor dem Stück raunte ich „T-Rex“ in mein Mikro und nahm auch sofort eine schleichende Bewegung im Publikum wahr. Hat geklappt! Mein Lampenfieber war aber so extrem, dass ich mindestens zwei Tage brauchte, um den Abend für mich überhaupt als Spaß zu bewerten. Heute ist das umso eindeutiger: Ja, das war ein Spaß!

Für heute ist im Riptide ebenfalls eine Veranstaltung angesetzt: Sound On Screen findet statt, mit „Paolo Conte – Via con me“ im Universum-Kino sowie Antipasti und Wein anschließend im Riptide – deshalb also die Emsigkeit hinter der Theke und der Antifa-Wein. „Das ist die letzte Folge der Staffel“, sagt Chris: Jede Staffel bei Sound On Screen besteht aus drei Filmen, einem pro Monat, was also bedeutet, dass im Dezember die nächste Staffel beginnen müsste. „Aber ob es weitergeht, wissen wir nicht“, bedauert Chris: Aus dem Kino war noch nichts diesbezüglich zu vernehmen. „Italiens finest Music“ läuft jedenfalls laut Chris im Riptide, exklusiv von ihm für den Abend zusammengestellt, dazu das Fingerfood von Nico und der Wein aus Italien. Und weil der Film bald beginnt, muss Chris auch schon los.

Dann bestelle ich bei Melissa eben einen Riptide-Burger und im Scherz einen Glühwein, doch den gibt’s tatsächlich seit dem 15. November, seit die Winterspecials nämlich wieder auf der Karte stehen. Nein, zum Burger lieber ein Wolters, den Glühwein anschließend, die Saison einläuten ohne Gedränge. Ich freue mich auch schon darauf, wieder mit Hardy wie letzten Winter bei Deniz am Treuen Husaren einen bis vier Glühweine einzunehmen, aber im Riptide damit starten, das ist ein Geschenk. Während Nico meinen Burger baut, stöbere ich in den Platten herum. Meine bestellte Erasure-EP ist eingetroffen, schrieb mir Chris vorab, die gibt es aber nur auf CD. Hier entdecke ich in den LP-Fächern die „Kid Amnesiac“-Wiederveröffentlichung von Radiohead auf rotem Vinyl und die „B-Sides & Rarities“ von Nick Cave & The Bad Seeds als Siebenfach-LP, nämlich beide Teile in einer Box. Schlimm! Bevor ich mich in den Platten festbeißen kann, stellt mir Melissa den Burger auf den Tisch, da ist das mit dem Beißen bekömmlicher. Wer weiß, vielleicht richten Chris und Nico ja wieder den Lockdown-Burger ein, auch ohne Lockdown; Chris signalisierte, dass sie darüber nachdenken, dann komme ich ja doch noch in den Genuss. Die Pastinakencremesuppe auf der Wochenkarte liest sich ebenfalls verlockend, aber nach dem Burger bin ich satt. Melissa bietet mir ein Schälchen Balsamico-Pilze an, das nicht mehr auf das Tablett für die Antipasta passte. Dankbar probiere ich: Der Champignon ist warm und die Würzung überwältigend. Da können sich die Filmgucker freuen!

Und dann gibt’s den Glühwein. Ja, so ist das genau richtig: Im gemütlichen Riptide mit der wohligwarmschummerigen Beleuchtung und dem festlich beleuchteten Magniviertel hinter den Scheiben ist das der beste Moment für den ersten Glühwein des Jahres. „Nächstes Mal nimmst du die Lebkuchenbombe“, sagt Melissa. Zwar ist da Jägermeister drin, den sie an sich gar nicht so gern mag, der aber in Kombination mit der heißen Schokolade „der Hammer“ ist, wie sie betont. Ist gebongt, so machen wir das: Wenn ich nächstes Mal da bin, stellt sie mir diese Bombe unaufgefordert hin. Ich freue mich schon drauf. Jetzt geht’s erstmal heim, aber vorher genehmige ich mir noch im MokkaBär den zweiten Glühwein dieser Saison. Bloß nicht einreißen lassen!

Matthias Bosenick
www.krautnick.de
Fakebook

2 Kommentare

  1. Hihi, ich hatte zuerst gelesen „Auseinandersetzungsberechtigter“ 😂🤣
    Und klar, auf jeden Fall gehen wir einen Glühwein trinken, mein Lieber!

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