#171 Loslassen!

Donnerstag, 23. Dezember 2021

Was für ein Jahr! Eine Art 2020b oder so. Viele empfanden 2021 vor allem zum Ende hin als furchtbar, ein in die Länge gestreckter Albtraum, kein Ende in Sicht, und so scheint es ja tatsächlich, kaum sind alle geimpft, kommt der nächste Spielverderber daher. Weil dem so ist, habe ich mir für dieses Jahr als Frage an alle Riptide-Gäste etwas überlegt, was sich von all dem Chaos loslöst und auf die Befragten selbst bezieht, und diese Frage lautet: Welchen Wunsch hast du dir dieses Jahr erfüllt?

Mein Wunsch wird sein: endlich oben im neuen Riptide auf dem Sofa am Fenster sitzen und durch die Butzenscheiben ins Magniviertel gucken. Das war nach dem Umzug der Plan, den im vergangenen Winter der Lockdown vereitelte und im Sommer der Magnikirchplatz, auf dem ich dann lieber verweilte als im geschlossenen Raum. Heute gilt‘s! Doch weil das Riptide seit vergangener Woche aus pandemischen Gründen eine Nachmittagsruhe einlegt und nach dem Mittagstisch von 14 bis 18 Uhr geschlossen ist und ich daher jetzt noch eine Stunde Zeit habe, mache ich mich auf die Suche nach einem neuen Nachbarn, und dieser ist einmal mehr neuer im Magniviertel als das Riptide und ebenso wie das Riptide aufgrund eines Umzugs jetzt hier ansässig.

By Netta heißt das Geschäft, das vor vier Jahren in dem hübschen Fachwerkhaus im Prinzenweg an der Stadtmauer das Café Himmelhoch ablöste und seit einigen Monaten nun im Magniviertel zu finden ist. Nettas Nachfolger in dem alten Haus ist mittlerweile auch schon wieder ausgezogen, aktuell kann man dort Renovierungsarbeiten beobachten. Die neue Adresse von By Netta ist Kuhstraße 28, also 300 Meter entfernt vom Riptide, am Ende der Ritterstraße. Das Erdgeschoss ist hell erleuchtet, einladend, und ebenso einladend empfängt mich Netta, die zwischendurch Kunden berät und bedient. „Ich bin glücklich im Magniviertel“, schickt sie vorweg.

Wie so viele Geschäftsinhaber und Gastronomen spürt auch Netta einen Umsatzrückgang, seit die Pandemie zurückschlägt. Doch sie ist zuversichtlich, angesichts der vier Jahre, die sie ihren Laden nun betreibt, „ich habe Stammkunden, die retten uns“, atmet sie auf. Und sie weiß, kleine Läden wie ihrer sind „Sozialpunkte geworden, wo Leute sich treffen und Freundschaften entstehen“. So etwas „kommt ja zurück“, also kleine soziale Biotope, und das nehme ich ebenfalls wahr, dass es für Leute in unserem Alter automatische Treffpunkte gibt, an denen man sich unverabredet garantiert über den Weg läuft oder man einfach neue Leute kennenlernt.

Kundschaft erbittet Nettas Zuwendung, sie erhebt sich von dem grünen Sofa, auf dem wir uns unterhalten. Das steht gleich rechts um die Ecke vom Eingang, vor der mintgrünen Wand, hinter der Schaufensterdeko mit vollgestellten Nähmaschinen, auf denen Pflanzen, Vasen, Kerzen sowie unter ihnen Schuhe wild aufgereiht sind, neben einer Schaufensterpuppe, deren Rock aus einem Tannenbaum besteht,
auf der anderen Seite ein alter Schrank mit Geschirr, und quer durch den Raum verteilt stangenweise Kleidung. Diagonal in der andern Ecke an der Theke glänzt ein Kaffeeautomat. Netta verabschiedet zufriedene Kunden und kehrt zum Sofa und also zu mir zurück.

Seit 20 Jahren lebt Netta in Braunschweig, sie kommt aus der Nähe von Danzig. Jahrelang arbeitete sie bei dm, bis sie vor vier Jahren den Laden im Prinzenweg eröffnete. Da Social Media zu ihren Leidenschaften gehört, insbesondere Instagram, und sich in ihrer Kundschaft die Mundpropaganda großer Reichweite erfreut, „hat sich das so gut aufgebaut, dass ich immer weniger Platz hatte“, erzählt sie. Sie hatte Frühstück- und Suppentage im Angebot, die aber im Lockdown aufgegeben, weil sie den Platz für den erforderlichen Abstand nicht anbieten konnte. Also: „Nur Kaffee, Kuchen, Waffeln.“ Und immer mehr Ware, für die der Platz ebenfalls bald nicht mehr ausreichte. Ihr Mann, der für sie die Buchhaltung macht, schlug vor, sich nach etwas anderem umzusehen, um sich zu vergrößern, mit Abstellraum und zwei Umkleiden, und so nutzten sie die verbreiteten Lockdown-Spaziergänge eben dafür. Bei eBay-Kleinanzeigen entdeckte sie nun dieses Ladenlokal und war zunächst skeptisch, da sie sich eigentlich und besonders im Magniviertel lieber nach einem alten Haus umsehen wollte, wie im Prinzenweg, doch ein Blick durch die Scheibe machte sie neugierig. Das Haus ist nämlich erst fünf Jahre alt und steht dort, wo vorher eine Schlachterei angerissen wurde. „Das wusste ich nicht“, sagt Netta, aber sobald sie Leuten die neue Adresse nennt, kommt oft die Antwort: „Ah, wo der alte Schlachter ist.“ Mit dem Vermieter versteht sich Netta bestens, „der hat sich gefreut, der feiert das mit, was hier abgeht“, strahlt sie. 100 Quadratmeter Ladenfläche hat sie jetzt, „im Vergleich zu 25 Quadratmeter vorher“.

Der vorherige Laden war im skandinavischen Vintage-Stil eingerichtet, für den neuen hatte Netta etwas anderes vor: „Ein Wohnzimmer, ich wollte immer ein Sofa haben im Laden“, und den „Barock-Style“ des Stückes, auf dem wir sitzen, feiert sie umso mehr. Angebote erhielt sie dafür auch schon unzählige, lacht sie: „Ich könnte Möbel verkaufen“, aber auf das Sofa bezogen ist sie rigoros: „Nix!“ Zwar liebe sie es, zu verkaufen, aber gleichzeitig erfreut sie sich auch an Freigiebigkeit, überreicht hier mal ein Glas selbstgemachtes Quittengelee oder fügt da selbstgebackene Muffins einem Kauf hinzu. „Meine Oma hat gesagt: Von Gutes kommt Gutes“, sagt Netta, und in diesem Geist erzieht sie auch ihre drei Kinder.

Die Ware bei Netta ist aus zweiter Hand, „in Richtung Boutique“, nämlich auf Kommission: „Ich verkaufe für die Leute und wir teilen uns das.“ Das Konzept trägt, zudem stellt sie im Zuge der Pandemie fest, wie Menschen sich verändern, und ist glücklich über die Solidarität, die sie auch in ihrem Laden wahrnimmt. Ebenso schwärmt sie von der Gemeinschaft im Magniviertel: „Im Prinzenweg war ich alleine“, und sie betont: „Zusammen schaffst du mehr.“ Hier im Viertel fühle sie sich als Teil einer Familie, auch wenn sie noch nicht alle kennt, aber „sie haben sich auch gefreut, dass ich hergekommen bin“, sagt sie dankbar. Denn: „Je mehr gute Läden im Magniviertel, desto mehr Leute kommen.“ Mit der Konsequenz: „Das Magniviertel war lange nicht so gut besucht wie jetzt.“ Und man unterstütze sich gegenseitig als Gewerbetreibende.

Ins alte Riptide im Handelsweg schaffte es Netta nie, mit drei Kindern und Vollzeitjob, „ich bin nie so oft weggegangen“. Zwar war sie mit By Netta Sponsorin der Musikfilmreihe Sound On Screen im Universum-Kino, doch die anschließenden Veranstaltungen im Riptide verpasste sie immer: „Ich musste nach Hause, sonst hätten wir es ja gemacht.“ Auch das neue Riptide erlebte sie noch nicht, „das muss ich noch machen“, aber: „Heike vom Bücherwurm bringt freitags immer Mittagessen vom Riptide mit.“

Die Schaufensterpuppe mit dem Tannenrock sei sehr beliebt, freut sich Netta: Leute bleiben stehen, manche bedanken sich.“ Sie weiß: „Schaufenster sind die Visitenkarten für das Geschäft.“ Sie dekoriere bald jeden zweiten Tag neu und könne es nicht verstehen, wie manche Schaufenster monatelang unverändert bleiben. Auch ihre Fotos präsentiert sie dort gern, Fotografieren ist eine weitere Leidenschaft Nettas, ein fantasievolles Porträt einer ihrer Töchter hängt überlebensgroß auf der Ladenrückseite. „Ich unterhalte die Leute, ich tanze für die Leute“, sagt sie. „Ich wollte Schauspielerin werden, ich verbreite gut Energie.“ Das ist gewiss!

Nun ist aber Zeit für meine Frage nach dem Wunsch, den sie sich erfüllte. Zwar denkt Netta sofort an den Umzug ihres Ladens, doch unter einem anderen Aspekt als nur der räumlichen Veränderung und Vergrößerung:

Netta: „Es geht mir darum, das zu behalten, was ich liebe – ich habe mich weiterentwickelt, als Mensch, als Mutter.“

Was auch immer ihr widerfährt, was auch immer sie dazulernt, ihre Kinder profitieren davon, freut sich Netta. Und sprudelt sofort los: „Ich habe weitere Ideen, ich könnte einen Männerladen machen, ich könnte Möbel verkaufen“, lacht sie. Und weiß doch: „Ich bin nur ein kleiner Teil von der Geschichte, auch vom Magniviertel.“ Sie betont: „Ich freue mich jeden Tag, hier zu sein – ich genieße das Leben.“ Es sei zwar wichtig, von dem Laden leben zu können, doch: „Für Geld allein mache ich das nicht.“ So ähnlich muss es auch Marc sehen, der zurzeit mit seinen Buppets täglich eine andere Einrichtung als Adventskalender bei Instagram vorstellt und mit der Aktion auch im Riptide und bei Netta war. Wie Netta ohnehin Insta lieber mag als Facebook, Insta sei der bessere Platz für Mode: Auf ihren Fotos modeln ihre Kinder, Freundinnen und eben die Buppets.

Wir verabschieden uns, Netta hat Feierabend, das Riptide das Gegenteil, und ich wechsele kurz den Standort, quer durch das weihnachtlich beleuchtete Magniviertel, das so warmherzig glüht, dass ich den Regen kaum wahrnehme. Das Riptide ist immer heimelig illuminiert, da macht Weihnachten keinen Unterschied. Als erstes begegnet mir Max, der hinter der Theke hervorkommt und sofort meiner Frage ausgeliefert ist.

Max: „Tatsächlich habe ich mein Studium abgeschlossen, nach langem Hoffen und Bangen.“

Den Bachelor in Geschichte hat Max jetzt, „und in Erziehungswissenschaften, aber das ist nicht so wichtig“, setzt er abwedelnd nach. „Stolze 15 Semester“ habe ihm der Bachelor gekostet, und das, weil er sich mit der Organisation an der TU nicht umfassend befasste, mit den Modulen und so. Mit dem merkwürdigen Effekt: „Ich habe aus Versehen meinen Bachelor gemacht.“ Und das eigentlich sogar schon zwei Semester zuvor. Für das Prüfungsamt brauchte er jedoch Nachweise für belegte Kurse, und so rannte er hinter seinen früheren Referenten her. Einen Professoren machte er in Garmisch-Partenkirchen aus, der bestätigte ihm die Teilnahme, Max schickte einen Screenshot der Email ans Prüfungsamt, und das schrieb zurück: „Herzlichen Glückwunsch zum Bachelor.“ Dummerweise hatte er da bereits seinen nächsten Semesterbeitrag überwiesen.

Neben uns setzt sich Franzi an den Tisch, Max und sie begrüßen sich. „Nebenbei!“, seufzt sie. „Bei mir war das eine Katastrophe!“ Sie erzählt, wie sie vorhatte, am Donnerstag vor dem Abgabetermin, der an einem Dienstag war, ihre Arbeit fertig gebunden zu haben, was auch klappte, nur als eine Freundin das Werk gegenlas, stellte die fest, dass Franzi ein falsches Seitenformat verwendete und tatsächlich nur ein Drittel der erforderlichen Seiten vorlagen. In aller Panik machte sie sich daran, den Rest bis zu jenem Dienstag fertigzustellen, was ihr mit Hängen und Würgen auch gelang, aber in ihr die Erkenntnis reifen ließ: „Nie wieder!“ Sie seufzt: „Das war der Grund für mich, keinen Master zu machen.“ Max grinst: „Ich hab jetzt sogar mit dem Master angefangen, im Oktober.“ Und zwar in Kunstwissenschaft, an der HBK. Grinsend erzählt er, dass er zur Bachelor-Verteidigung extra im Tweedjackett mit Cordflicken an den Ärmel aufkreuzte, um quasi aus Reflex die Ehrendoktorwürde verliehen zu bekommen. Hat nicht geklappt.

Da Max jetzt dienstlich eingespannt ist, stelle ich gleich Franzi, die soeben ihre Kaffee Latte erhielt, meine Frage. „Es gab tatsächlich einige Sachen, die ich geändert habe“, sinniert sie. „Den Arbeitsplatz gewechselt, aber schon letztes Jahr.“

Franzi: „Ich war das erste Mal in Barcelona, da wollte ich schon immer mal hin – absolute Empfehlung!“

Spanisch spreche Franzi zwar nicht, aber da dort beispielsweise in der Gastronomie alle Englisch sprächen, sei ein Urlaub sprachlich kein Problem. Sie genoss es dort, „einfach nur durch die Gegend laufen“, ohne konkreten Plan, weil es dort ohnehin viel zu tun und zu sehen gebe, „architektonisch“. Sie zählt auf, Picasso-Museum, Strand und Promenade, Gaudí-Park, „in der Sagrada Família war ich nicht, aber ich stand davor“, die Schlangen seien viel zu lang gewesen. Das Picasso-Museum hinterließ starke Eindrücke bei ihr: „Beeindruckend, so viele Originale zu sehen, nicht nur Drucke oder Postkarten.“ Vor seinem Durchbruch habe Picasso „ganz viel Schmuck“ gemacht, „das habe ich nicht gewusst“. Ich auch nicht, dafür habe ich auch schon diverse Originale von ihm gesehen, in Ausstellungen; ich erinnere mich, wie beeindruckt ich auch bei meinem ersten originalen Dalí war. Nicht nur Picassos Schmuck war da zu sehen, berichtet Franzi: „Auch ein Schmuckstück von Yoko Ono, ganz cool.“

Am Nachbartisch warten Mo und Phong auf ihre bestellten Burger. Sie steigen auf meine Frage sofort ein.

Phong: „Mich selbst zu akzeptieren.“

Das klingt, als ginge der Erkenntnis eine längere innere Diskussion voran. Phong nickt grinsend: „28 Jahre lang.“ Er führt aus: „ Ich habe mich mit Themen wie Glücksforschung beschäftigt und dabei gemerkt, wie unglücklich ich bin.“ Er begann, ein Buch darüber zu schreiben und Vorträge zu vorzubereiten, „und ich habe gemerkt, dass ich das nicht vorgelebt habe“. Er zitiert das Bonmot, nachdem Wissen Macht sei, und widerlegt, besser: ergänzt es: „Angewandtes Wissen ist Macht.“ Er habe seine Ketten gehabt, sagt er, erwähnt einen Blogeintrag, den er dazu erstellte, „Mindset eines Elefanten“, und schließt: „Ich habe gelernt, mich zu akzeptieren, mich zu lieben, ich habe mein Glück gefunden – und ich bin sehr stolz darauf.“

Seine Erkenntnisse könne er auch in seine Arbeit als Projektleiter beim Foodsharing-Café Futter Theresa, in Steckis Tante Puttchen im Handelsweg, einbringen. Das habe zuletzt nur an einem Tag pro Woche geöffnet gehabt, geplant seien aber eine Fünf-Tage-Woche und mehr Autarkie. „Das ist unsere Agenda für nächstes Jahr“, sagt Phong, „wir wollen es Ende Februar, März wieder aufmachen.“ In direkter Ex-Nachbarschaft vom Riptide. Die neue gefalle Phong indes gut: „Ich habe mich gefreut, das es hier ist, ein perfekter Platz, mit Außengastronomie.“ Nun ist Mo an der Reihe. Seine Antwort sei der von Phong „ähnlich“, sagt er.

Mo: „Ich habe definiert, was Glück für mich bedeutet, ich bin Schritte in die richtige Richtung gegangen, von der ich denke, dass ich glücklich werde.“

Für Mo ist das: „Freiheit und Natur.“ Wie viele andere war auch er in der Coronazeit viel in der Natur unterwegs, „ich habe meine Ruhe gefunden“, er fand Zeit zum „Reflektieren und Nachdenken“ und kam zu der Frage: „Warum ist das nicht mein Lebensstil?“ Und zu der Antwort: „Das kann ich nur erreichen, wenn ich frei bin und selber entscheide, wie ich meine Zeit einteile.“ Also, indem er sich beruflich selbständig mache: „Jetzt bin ich viel glücklicher.“ Sein Fachgebiet ist Softwareengineering. Phong nickt: „Frei ist der, der sich entscheidet, aus Liebe etwas zu machen, nicht aus Angst.“ Und ergänzt: „Schmerz ist ein guter Lehrer.“ Schmerz ist ein Arschloch, aber wenn man es zulässt, dann ein Lehrer, stimmt. Das sei Yin und Yang, erwidert Phong. Mo kehrt zu seinem Konzept zurück: „Man arbeitet zum Leben, nicht andersrum.“ Seine ersten Kunden habe er ab Januar, noch stecke sein Projekt „in der Aufbauphase“, Kontakte seien geknüpft, „Schritt für Schritt“. Dann sind auch schon die Burger da.

Meiner ebenfalls, Max brachte ihn nach oben, wo ich mir jetzt meinen Wunsch erfülle, auf dem Sofa sitzen, aus den antik doppelverglasten Butzenfenstern gucken und dazu Burger und Bier einnehmen. Hier im ersten Stock war ich zwar schon öfter, aber gesessen und gegessen habe ich noch nie. Der Wunsch ist hiermit erfüllt. Und wie gut das ist!

Nur einen Spuckschutz entfernt unterhalten sich Laura und Ari am Nachbartisch. Ich überfalle die beiden mit meiner Frage.

Laura: „Ich hab mir, glaub ich, keinen Wunsch erfüllt, weil 2021 so ein komisches Jahr war – ich fühle, dass 2022 mein Jahr wird.“

Grübelnd fragt sie sich, ob sie nicht etwas übersieht, und kommt zu dem Schluss: „Hätte ich mir einen Wunsch erfüllt, wäre es sofort rausgekommen.“ Ihr Gefühl teilt Ari: „Es gab nichts, wo man 2020 noch dachte, boah, das will ich machen, und dann ist es so gekommen.“

Ari: „Kein Wunsch, aber im Nachhinein das Beste: Loslassen.“

Man könne nichts voraussehen, sagt Ari, „es kommt, wie es kommt“, und „wenn sich nicht viel tut, kaum große Veränderungen, kann man nicht viel machen“, und es schade nur, wenn man an seinen Vorstellungen „zu sehr hängt“, deshalb: „Loslassen.“ Sie überlegt, ob das depressiv klingt, doch ich empfinde es als das Gegenteil, als Befreiung. Sie nickt.

Am Tisch gegenüber serviert Nadia Burger, ich folge ihr zurück nach unten und bleibe bei Christopher, der zum ersten Mal im neuen Riptide zu Gast ist, und Marc, der vorher überhaupt noch nie im Riptide war, hängen, die meine Frage zu hören bekommen.

Marc: „Ich habe eine tolle Tochter bekommen.“

Am 2. September wurde Marc nämlich Vater, zum ersten Mal. „Gesund, fantastisch, haarig“ sei das Kind gewesen, strahlt er, und nickt: „Sie kam haarig auf die Welt, sie sah nicht aus wie ein Nackedei.“ Sein Strahlen vergeht nicht, man spürt, wie überwältigt er ist: „Ich freue mich riesig, Vater zu sein – man gibt viel auf, aber man gewinnt viel.“ Schon in den ersten drei Monaten nehme er die Entwicklung intensiv wahr, und auch, dass sie sehr schnell vonstattengeht. „Sie freut sich, wenn ich nach Hause komme“, erzählt er, „das ist der Wahnsinn.“ Marc seufzt: „Im Krankenhaus das erste Mal auf dem Arm dieses winzige Ding – du bist jetzt verantwortlich, das war schön.“ Das hat er mir voraus, Vater bin ich nicht und werde es auch nicht mehr, aber ich bin glücklich über mein Patenkind und über meine Nichten und Neffen. Noch heute feiere ich den Moment, als ich eine von meinen Nichten beim Grillen mit meiner Schwester in den Beueler Rheinauen auf dem Bauch hatte. Marc weiß sofort, wovon ich spreche, und schwärmt von der Entspannung, die er seiner Tochter mit Körperkontakt gibt – und sie ihm.

Christopher: „Mein größter Wunsch war, endlich geimpft zu werden.“

Oh ja! „Im Frühjahr war das so ein Druck, dass man endlich drankommt, als noch nicht jeder geimpft war – es endlich hinter sich gebracht zu haben, damit alles wieder normal wird“, erinnert er sich. Urlaub habe er zwar auch gemacht, aber das sei für ihn normal gewesen und nicht so ein großer Wunsch „wie endlich die Spritze gekriegt zu haben“. Das ging mir auch so bei der ersten, ein Gefühl wie auf dem Mond, ein kleiner Pieks für mich, ein großer für die Menschheit. Für Christopher als weniger gefährdeten jungen Menschen sei dabei weniger die Angst vor der Infektion ausschlaggebend gewesen als die Option auf eine Rückkehr in ein „normales Leben“. Und er habe gelernt, „die kleinen Sachen wertzuschätzen“, sagt er. Marc: „Corona hat einen geerdet – positiv.“ Christopher nickt: „Vorher gab‘s alles im Überfluss.“ Marc ergänzt: „Im falschen Überfluss.“ Mich freute teilweise die Entschleunigung, die damit einherging, und die ausbleibende Notwendigkeit, eine Nichtteilnahme an etwas rechtfertigen zu müssen.

Jetzt hat Nadia Zeit für meine Frage, sie steht mit Max hinter der Theke, und Max entschwindet mit bestellten Getränken.

Nadia: „Ich habe das Weihnachtsfest gestrichen, ich feiere dieses Jahr kein Weihnachten, weil ich noch nie ein Fan davon war.“

Das ist dann ja sogar eine Wunscherfüllung in der Zukunft, schließlich findet Weihnachten ja erst ab morgen statt. Sie habe endlich auf sich gehört, sagt Nadia, und habe nicht der Tradition und der Familie Folge geleistet, sondern festgelegt: „Ich komme nicht.“ Jedes Jahr habe sie die Fahrt auf sich genommen, immer zum 25. Dezember zum Familientreffen. Doch Weihnachten sei ein Konsumfest, das sie nicht leiden könne, und wenn sie ihre Familie sehen wolle, möchte sie das nicht an einen solchen Termin festmachen: „Ich kann mich mit Leuten treffen, wie ich mag.“ Pläne schmiede sie außerdem nicht gern. Nein, „ich höre auf mich und gönne mir die Ruhe und genieße, dass meine WG leer ist – und ich arbeite“. Und zwar im Riptide an Heiligabend, also morgen. „Ich freue mich drauf“, sagt sie, „mit Mad zusammen, einer Freundin, sie arbeitet eigentlich gar nicht mehr hier, morgen zu m letzten Mal.“ Sie zuckt mit den Schultern: „Mal gucken, ob wer kommt.“ Max gerade um die Ecke, immerhin, und überlegt mit ihr, dass es Leute nach den Familienfeiern sein könnten oder Leute, die gar nicht die Möglichkeit haben, nach Hause zu fahren. Oder eben Leute wie Naida. Sie lacht.

Es wird Zeit, meine Sachen zu packen, die immer noch oben an der Butzenscheibe auf dem Sofa liegen. Der Abend begann auf einem Sofa und soll auch dort enden. Auf dem Weg fangen mit Ari und Laura ab, bei ihnen sitzt jetzt noch Lena. Sie möchten, dass ich Lena die Frage ebenfalls stelle, und warnten sie deshalb noch nicht vor, weil sie genau so überrascht davon sein soll wie ihre beiden Freundinnen. Also wiederhole ich meine Frage, und Lena beginnt: „Meine eigene Wohnung … Das war letztes Jahr.“ Ari unterbricht: „Das zählt nicht! Arbeit war auch letztes Jahr!“ Lena überlegt: „Was habe ich dieses Jahr gemacht…?“

Lena: „Airpods.“

„Airports?“, frag Laura stirnrunzelnd, und Lena wiederholt es korrekt. Laura ist begeistert: „Den Wunsch hab ich auch, den muss ich mir 2022 erfüllen.“ Derweil denkt Lena weiter nach: „Ich hab mir noch irgendwas erfüllt, aber ich komme nicht drauf.“ Laura zuckt mit den Schultern: „Vielleicht ist das ja auch die Antwort.“ Lena gibt auf: „Letztes Jahr war besser.“ Laura kontert: „Nächstes Jahr wird besser!“ Mit den vielen Zweien sei es ohnehin viel schöner. Da fällt Lena doch noch etwas ein: „Einen Trockner hab ich mir gekauft!“ Airpods und Trockner, Ari und Laura lachen.

Einen weiteren Wunsch erfüllt mir das Riptide heute leider nicht: Gern hätte ich die „Bloodmoon“ von Converge und die gemeinsame BBC-Session von Sunn O))) und Anna von Hauswolff mitgenommen, aber die sind beide nicht vorrätig. Dann muss ich morgen wohl Chris anrufen und ihn bitten, sie mir zu bestellen. Heute ist er nicht mehr im Hause, dann frage ich ihn eben morgen, welchen Wunsch er sich wohl 2021 erfüllt hat.

Matthias Bosenick
www.krautnick.de
Fakebook

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