Donnerstag, 20. Januar 2022
Wer sagt‘s denn, der erste Schnee des Jahres noch vor Weihnachten! Und nach den ersten Schneeglöckchen, die hab ich vorgestern in Riddagshausen entdeckt, ich dachte zuerst, es sei eine Sinnestäuschung, aber nein, rund einen Monat früher als sonst sprießen sie dort aus dem Boden, da ist es ja nur folgerichtig, dass die namensgebende Wettererscheinung sich auch noch einstellt. Und wie schön das Magniviertel im Dämmerlicht bei Schnee aussieht! Eine vorweihnachtliche Beleuchtung ist da gar nicht zusätzlich erforderlich, Straßenlampen, Gebäudedekorationen und das Licht, das man durch die Schaufenster in den Geschäften und Cafés sehen kann, tauchen das Viertel in ein romantisches, warmes, harmonische Licht, und wenn dann noch Schneeflocken durch die Strahlen kreuzen, bekommt man tatsächlich wieder weihnachtliche Gefühle, angesichts des ausbleibenden Konsumstresses sogar intensiver als vor einem Monat.
Und wie verlockend sich das Riptide am Magnikirchplatz für den körper- und seelenwärmenden Aufenthalt anbietet! Heute doppelt, Chris schrieb mir, dass meine Bestellung angekommen ist, „Hex“, das neue Album von Toundra, das sich mir schon ungehört für die Jahresbestenlisten 2022 empfiehlt, zumindest hoffe ich das, man kann sich ja auch täuschen, Gojira etwa, sichere Bank für geilen Metal seit über 20 Jahren, enttäuschten mich vergangenes Jahr mit „Fortitude“ erheblich, darauf hört man, dass es dafür gemacht ist, auf Festivalbühnen Massen zu erreichen, aber bei mir zu Hause funktioniert das nicht. Dafür war die Auswahl an jahresbesten Alben 2021 grundsätzlich für mich so groß wie lang nicht mehr, und acht von zehn der Top 10 hab ich sogar auf Vinyl, das ist eine Quote wie zuletzt wahrscheinlich 1987, dabei kaufe ich nach wie vor CDs. Bei den zwei verbleibenden Platten verhält es sich so, dass es eine nur als CD mit der Live-DVD gibt und die andere einfach gar nicht auf Vinyl, derweil selbst die CD lediglich eine CDr ist.
Wenn schon die Rede davon ist, liste ich meine Liste einfach mal auf, nach Alphabet: Der Weg einer Freiheit – Noktvrn (CD + DVD), Jomi – Lyst, GusGus – Mobile Homes, Human Impact – EP01, Man On Man – Man On Man, Psychonaut/Sâver – Emerald EP, Rosa Vertov – Day In Day Out (CDr), Solbrud – Levende i Brønshøj Vandtårn (Vinyl + DVD), Trigger Cut – Rogo, Wolfskull – #2, #3. Vieles davon habe ich natürlich aus dem Riptide, sofern es nicht lediglich über Bandhomepages, Bandcamp oder überseeische Vertriebe erhältlich war. Und es gehören sicherlich noch viele dazu, die ich einfach noch nicht habe, Converge, SunnO))), Melvins, A Secret Revealed – die kommen dann hoffentlich eben dieses Jahr in meine Sammlung. Wie auch die neue Toundra, aber das erst später, das Riptide öffnet zurzeit nach dem Mittagstisch erst um 18 Uhr wieder, und bis dahin erkunde ich wieder einen für das Riptide neuen Nachbarn.
In der Ritterstraße leuchtet das Schaufenster von Raum 23 hell, vom eisknirschenden Gehweg aus stolpere ich die zwei unterschiedlich hohen Stufen in das Geschäft für Kopfbedeckungen aller Art hinein, und Inhaberin Margret erzählt mir nach dem fröhlichen Lachen gleich, dass das Haus an einem Hang gebaut ist und man sämtliche Räume im hinteren Bereich ebenfalls über jeweils zwei Stufen aufwärts erreicht. Topografische Eigenarten des Magniviertels. Geschwind führt sie mich eben in diese Räume, denn sie bergen die Werkstatt, „das ist das Wichtigste“, sagt sie, „weil ich nicht nur Handel betreibe mit Kopfbedeckungen, sondern Mützen, Hüte, Kopfschmuck auch anfertigen kann“. Im ersten Raum schiebt sie im Vorbeigehen eine Schublade mit Materialien in einen hohen Schrank zurück, im nächsten deutet sie auf die offenbar hölzernen Hutformen, die sie als Maßstab in einem Regal stehen hat, hinter ihrem großen Arbeitstisch, auf dem Werkzeug und Material ein selbst schon ästhetisches Muster ergeben, und setzt an, mir Erläuterungen zuteilwerden zu lassen.
Da ertönt die Klingel, die Margret andeutet, dass ihr verabredeter Kunde eingetroffen ist, und dem wendet sie sich nun zu. Sie schwärmt von Yannicks „Farbempfinden“, denn er gab bei ihr ein Hutband in der Farbe seines Schals in Auftrag, und sie legt ihm einen dunkelblauen und einen schwarzen Hut mit bordeauxfarbener Hutschnur vor, die er begeistert ausprobiert: „Das ist viel besser“, strahlt er. Margret berichtet ihm, dass ich eigentlich für das Riptide unterwegs bin, und fügt hinzu: „Das Riptide hat gute Fritten, hab ich gehört!“ Das kann ich bestätigen, und Mittagstisch, Burger und Platten sind auch gut. Yannick grübelt: „Hätte ich heute nicht Gulasch gekocht, würde ich was mitnehmen.“ Und Margret stellt fest: „Jetzt hab ich Hunger!“
Yannick verlässt uns, und Margret fährt fort. Von Schwaben aus über die Umwege Hamburg, wo sie ihre Ausbildung absolvierte, und China gelangte sie vor 17 Jahren nach Braunschweig, wo sie sich als Hutmacherin selbständig machte, zuerst für vier Jahre am Altewiekring, dort noch als Studio 23, dann für weitere vier Jahre Jahren am Ölschlägern, dort, wo jetzt das Café Lineli residiert, und seit acht Jahren hier in der Ritterstraße. Die 23 im Namen kommt kurioserweise ursprünglich nicht von der Hausnummer, die lautete an der ersten Adresse 57, dann 18 – „jetzt witzigerweise Ritterstraße 23“, lacht Margret, und weil wir im Gespräch immer gleich von einem Thema zum nächsten kommen, vergessen wir, den wahren Grund hinter der 23 für mich zu entschlüsseln.
Von den vielen Kopfbedeckungen in dem bunt bestückten Verkaufsraum, in dem wir sitzen, macht Margret die meisten selbst, auch die Schnitte, hat aber auch eingekaufte Exemplare im Angebot, „viele mögen Strick“, und sie achtet dabei sehr darauf, dass diese Waren in Deutschland, mindestens in Europa hergestellt und auch zertifiziert sind. Die Herrenmützen im Regal gegenüber macht sie selbst, auch Hüte und Kopfschmuck, und hat immer einige Modelle vorrätig, die die Kunden ausprobieren können, um dann ihre Wünsche zu entwickeln, „wenn Farbe, Größe, Garnitur nicht passen, kann ich das anfertigen“, sagt Margret. Kopfformen spielen da eine Rolle, manche Wünsche sind „anlassbezogen“, und „Farbe und Stil müssen passen, da landet man schnell bei einer individuellen Anfertigung“. Beispielhaft führt sie einen Bräutigam an, der sein Leben lang nur Mützen trägt und auch bei seiner Hochzeit nicht darauf verzichten mag, dem gestaltet sie ein Exemplar passend zu seinem Anzug. Und in Großbritannien, so Margret, könne man sich insbesondere auf ryalen Hochzeiten eine Frau „nicht vorstellen mit nichts auf dem Kopf, da fehlt etwas“.
Ihr Angebot ist „vielfältig“, sagt Margret, Filzhüte im Winter aus festem Material, im Sommer „das Zarte, Feine“, sie zeigt mir Kopfschmuck aus schier unsichtbarem Netzmaterial mit einer transparenten Blüte, die sie ebenfalls selbst gemacht hat, „einfach nur ein i-Tüpfelchen manchmal“, und setzt sich dann einen roten Hut mit sehr breiter Krempe auf, „oder die fürs Pferderennen, da kann’s ja nicht imposant genug sein“. Ihre Kundschaft hat Margret auch in anderen Städten als Braunschweig, und manche Kunden kommen sogar bereits „mit ganz eigenen Ideen oder bringen Materialien mit“. Auch für die Bühne springt Margret mit ihren Arbeiten ein, „Theater, Berlin Komische Oper, Schlosstheater Celle“.
Da kommt Linda herein und holt ihren bestellten Kalender ab, und damit ich weiß, wovon die beiden fachsimpeln, drückt mir Margret ein Daumenkino in die Hand, das das beworbene Produkt quasi filmisch erläutert, nämlich den „Roter Faden Taschenbegleiter“, in den man Kalender, Adressbuch und weitere Kompendien praktisch einheften kann und die Margret ebenfalls im Angebot hat. Linda kommt gelegentlich von auswärts nach Braunschweig, um ihre Schwester zu besuchen, und findet: „Braunschweig hat ein schönes Flair, hier vor allem“, und meint das Magniviertel. Das Riptide kennt sie noch nicht, aber das lässt sich ja ändern, jedoch nicht jetzt, sie ist verabredet und entschwindet dankbar grüßend.
Mit dem Riptide verbindet Margret nicht nur, dass sie bei Sound On Screen, der caféeigenen Musikfilmreihe im Universum-Kino, einst Werbung machte: „Ich hab da schon Platten gekauft!“ Soul ist heute ihr liebstes Genre, sie hat auch Platten von Nick Cave und Velvet Underground, aber „jetzt bin ich bei Soul und Jazz“, je nach Stimmung. Natürlich hat sie einen Plattenspieler zu Hause, und einen mobilen räumte sie erst kürzlich vom Verkaufsraum in die Werkstatt, „der leiert ein bisschen“, auf dem spielte sie morgens gern Musik im Laden, aber sie fürchtet jetzt, sich mit der Nadel die Platten kaputtzumachen.
Mit ihrer positiven und lebhaften Erfahrung aus der Hamburger Cafékultur ist Margret begeistert davon, wie sich das Magniviertel entwickelt hat: „Die vielen Cafés auf dem Kirchplatz, jeder zieht eigene Leute an – das Riptide zieht junge und moderne Leute an, das ist gut.“ Ihr gefällt auch die Küche im Riptide, „dass man sich auf regionale, vegetarische, vegane Küche einstellt, das ist nicht nur zeitgemäß, das ist dran“. Sie hebt die Diversität im Viertel hervor, die auf Coexistenz beruht: „Da kommt das Individuelle durch, keine Kette, jeder hat eigene Vorstellungen.“
So auch Margrets Kunden, die sie sich ganz genau anguckt: „Eigenwahrnehmung und Fremdwahrnehmung ist nicht immer dieselbe“, sagt sie, und erläutert, dass eine Kopfbedeckung das Gesicht verändere, „es ist möglich, mit einer Kopfbedeckung eine Veränderung vorzunehmen“, und sie gebe den Leuten den Raum, sich auszuprobieren, „deswegen ist der Ladenname so wichtig.“ Die 23 darin haben wir aber immer noch nicht geklärt. Bevor ich gleich ins Riptide herüberwechsle, erzählt Margret noch von früheren Aktionen mit Gabi von der Crêperie, wo heute Das kleine Café seine Gäste empfängt, „da war ich noch drüben“, also direkt dort nebenan, von hier aus um die Ecke, am Ölschlägern, mit Kurzfilmen, Aufführungen, Theater von Thomas Hirche vom Kult, Akkordeonmusik: „Das war eine coole Kiste!“ Margret hat nun längst Feierabend und ich habe Hunger, also überquere ich den Magnikirchplatz, stapfe durch den Schnee, könnte man sagen, der immerhin den Boden bedeckt und mir um den Kopf herumschwebt. Was ist das schön!
Im Riptide ist es ebenfalls schön, auch ohne Schnee, das wäre für die Platten auch nicht so gut. „Viel zu spät“, findet Rosa hinter dem Tresen, dass es schneit, „für mich könnte es ab Mitte Februar anfangen zu blühen!“ ich erzähle ihr von den Schneeglöckchen, doch sie winkt ab: „Nicht sowas – ich will Frühling!“ Es ist recht gut gefüllt im Café, und Rosa bestätigt, dass die Entscheidung gut war, nach dem Mittagstisch eine Pause einzulegen, „da war es ruhiger, deshalb machen wir erst um 18 Uhr wieder auf“. Dann bestelle ich bei ihr schon mal meinen Burger und mein Wolters, das sie mir gleich in die Hand drückt, und kündige an, mich wieder oben an die Butzenscheiben zu setzen. Vorher stöbere ich noch in den Platten und entdecke den Nexus-Soli-Sampler von Rude Revolution an der Wand, den hab ich natürlich auch, direkt im Nexus bei Konstantin gekauft, auf goldenem Vinyl, keine halben Sachen.
Der Platz auf dem Sofa ist dieses Mal belegt, der Tisch gegenüber ist frei, also betrachte ich die Straße eben aus einer anderen Perspektive, blicke auf verschneite Autos und Wege herab, auf die sich vorsichtig bewegenden Passanten, auf die stillen Bewegungen weißer Himmelskörper in Richtung Erde. Ich mummle mich in die Kissen auf der Bank, schmökere im fünften Buch der „Die lange Erde“-Reihe von Terry Pratchett und Stephen Baxter, „Der lange Kosmos“, durch das ich mich seit längerer Zeit schon reichlich mühsam durchschleppe, wie durch alle Bände seit dem zweiten, nachdem ich den ersten, zufällig in der Büchertauschtelefonzelle am Frankfurter Platz entdeckt, wie im Sog durchgeackert hatte. Die schönsten Erinnerungen an „Der lange Mars“ etwa habe ich, weil ich den im Urlaub in Kopenhagen las. Aber ich ziehe durch, hab die Bücher ja schließlich herumliegen und hoffentlich keine Zwangsstörung. Neben mir im Fachwerkgebälk sind ebenfalls haufenweise Bücher aufgereiht, aber bevor ich mich ihnen neugierig widmen kann, ereilt mich mein Burger. Voll schön, mit der Kulisse, das warm beleuchtete Café-Obergeschoss, die sich lebhaft unterhaltenden Gäste ringsum, die historische Doppelverglasung mit dem Ausblick auf den Winter – so geht das. Und lecker ist es auch. Ich darf nur nicht vergessen, nachher noch die Toundra mitzunehmen!
Matthias Bosenick
www.krautnick.de
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