#174 Pinien am Lido

Dienstag, 29. März 2022

Urlaub, immerhin zwei Tage, und endlich wieder die Gelegenheit, den sagenhaften Mittagstisch im Riptide wahrzunehmen. Für heute stehen Tortelloni in Weißweinsoße mit grünem Spargel, Tomaten und Pinienkernen auf dem Speiseplan, das klingt verlockend, genau wie der Plan für den Rest der Woche, den der im Mai scheidende Koch Nico wie immer komplett vegan konzipierte. Also spaziere ich durchs Magniviertel, und nahezu direkt gegenüber komme ich an einem Blumenladen vorbei, dessen Name mitnichten an der Fassade angebracht ist, sondern an einem mobilen Windsegel prangt, das der leichte Wind eben in die spiegelverkehrte Richtung drehte: Florentine heißt das Blumengeschäft am Ölschlägern 27, das ich noch vor dem Mittagstisch – sowohl zeitlich als auch räumlich – als neuen Riptide-Nachbarn ansteuere.

Im hinteren Bereich des Ladens ist Heike beschäftigt, sie ist Inhaberin und Geschäftsführerin von Florentine, „Chef“, wie sie knapp und in der männlichen Form zusammenfasst. Im Laden duftet es herrlich nach der gleichen Farbvielfalt, die auch das ansprechend untergebrachte Gemisch aus Blumen, Übertöpfen, Kerzen, Vasen, Grünpflanzen, Kissen und Gartendekoartikeln ausstrahlt. Am Eingang steuert ein kleines Vogelhäuschen künstliches Gezwitscher bei und verstärkt den naturnahen Eindruck. „Ich bin seit 2012 im Magniviertel“, sagt Heike, während sie Stengel stutzt, „aber Florentine gibt es inzwischen 28 Jahre.“ Und zwar zunächst in Groß Gleidingen, dann als reine Werkstatt in der Jasperallee „nur mit Auftragsarbeiten“ und dann eben seit zehn Jahren hier. „Ich hab mich sehr gefreut, dass das Riptide hergekommen ist“, sagt sie, und zwar aus verschiedenen Gründen: „Der Leerstand ist weg – und es bringt ein besonderes Publikum mit, das gefällt mir.“

Selbst hält sich Heike indes mit Cafégängen zurück, zur aushäusigen Speiseneinnahme hat sie in der Mittagspause kaum Zeit, „ich bin sehr eingespannt und esse abends etwas, ich werde bekocht“, lächelt sie. Private Treffen unterband sie in den zurückliegenden zwei Jahren: „Ich habe das Bedürfnis, gesund zu bleiben und den Laden nicht schließen zu müssen – man setzt Prioritäten.“ Ab und zu ins Theater geht sie, „alles andere ist raus seit zwei Jahren“. Sie kennt das Riptide wenigstens namentlich noch aus Handelsweg-Zeiten: „Meine große Tochter ist da immer hingegangen, daher ist mir das ein Begriff.“ Vieles von dem, was in der Braunschweiger Gastronomieszene geschieht, geht an ihr vorbei, sagt Heike und grinst: „Meine Töchter waren immer besser informiert als ich.“ Discotheken waren ohnehin nie ihr Ding, „ich bin ein Fossil“, sagt sie: Sie steht eher auf Bälle. Außerdem, schwächt sie grundlos ab, habe sie „keine Ahnung von Musik“, da sie Hildegard Knef und Udo Jürgens „glühend verehre“, und da freut es sie ja vielleicht, zu erfahren, dass es das wiederaufgelegte Debüt von Frau Knef auf Vinyl im Riptide gibt, wie ich später herausfinden werde. Klassik höre Heike auch gelegentlich und betont zudem: „Ich bin kein Konzertgänger.“ Sie wurde vor einigen Jahren nach Hannover zu einem Livegig von Phil Collins überredet und lacht: „Warum sitze ich auf einem unbequemen Stuhl, das Bier schmeckt nicht, der Sound ist schlecht – da höre ich lieber die Lieder in guter Qualität zu Hause.“

Eine eigene Gärtnerei hat Heike nicht, „nur Handel, ich bin Gärtnermeister“; das sei in Deutschland auch eher unüblich: „Produzierende Gärtnereien gibt es nur ganz wenig, die Energiekosten und Löhne sind zu teuer“, deshalb laufe alles über die Niederlande. Dabei habe sie „von Anbeginn an ein großes Anliegen: So regional und so saisonal wie möglich“ einzukaufen nämlich. Sofern es ihr möglich ist, schaut sie bezüglich der Arbeitsbedingungen hinter die Kulissen ihrer Großhändler, bevorzugt solche aus Deutschland oder dem nahen Europa und vermeidet Anbieter aus Asien. Ein Vorteil dieser Methode sei auch, dass es mit den Lieferungen gut funktioniere – aktuell jedoch nicht bezüglich Glas, das sie „aus Polen, Tschechien und zum Teil aus der Ukraine“ bezieht. Da wegen der gestiegenen Energiekosten der Transport aus Asien mittlerweile sehr teuer geworden ist, orientieren sich nämlich viele Händler um und entdecken Europa für sich neu als Markt, auf dem es dadurch auch für Heike eng wird. Glas aus Italien und Keramik aus Portugal seien etwa inzwischen in den USA begehrt – und hier entsprechend teuer geworden. Dennoch findet sie, dass es durchaus legitim sei, für gute Qualität auch etwas mehr zu bezahlen.

Während wir sprechen, bedient Heike Kundinnen, berät sie, versorgt sie mit Wünschen und nimmt Anteil an Lebenssituationen. Der Mittagstisch lockt mich nun: Einmal noch atme ich den Blumenduft tief ein, lausche dem Vogelzwitschern, dann nehme ich Abschied und den Weg nach gegenüber auf. Im Café sitzt Carsten mit einer Tasse Kaffee am Tisch neben der Treppe ins erste Stockwerk und bedeutet mir, mich zu ihm zu gesellen. Mache ich gern, bestelle aber bei Melissa zuerst einen Milchkaffee. „Mit welchem Keks, hell oder dunkel?“ Mist, ich wollte mir eigentlich merken, welcher mir besser schmeckte, erinnere mich aber nur noch, dass ich grundsätzlich beide mochte, und entscheide mich aus der Hüfte für den hellen. „Den mag ich auch lieber“, sagt Melissa und drapiert das Backwerk auf der Untertasse. Ich setze mich zu Carsten, Melissa bringt mir das Getränk.

Nach der aktuellen Live- und Musiksituation fragt mich Carsten und überrumpelt mich damit sogar. Denn in den zurückliegenden zwei Jahren teilen alle Beteiligten ja nun ein gewisses Schicksal, da habe ich das Thema so oft ausdiskutiert, dass es mir eben gar nicht so recht präsent ist. Carsten würde gern mal wieder „bei Werner“ spielen und meint damit Harrys Bierhaus, „mein Lieblingsladen“, wo er indes nicht so oft verweilt, wie er gern würde, weil es nicht auf seinen Wegen liegt, aber er schwärmt: „Wenn ich da live spiele, ist immer eine gute Atmosphäre.“ Mit Rille Elf sind wir auch immer gern bei Annette und Werner, für den Ball im Bierhaus wie für das Betreute Trinken mit Musik. „Das heimliche Gold für kleine Bands“, nickt Carsten, „ideal.“

An zwei Bands ist Carsten als Schlagzeuger beteiligt, und zwar an Centrifusion, „ein Projekt mit Lena Uhde und Bernt Küpper“, sowie den Living Peppers, einer Coverband für die Red Hot Chili Peppers, „früher auch Living Colour, aber der Gitarrist ist verstorben, der hat die angeschleppt“, bedauert Carsten. Mit Centrifusion hat er drei CDs veröffentlicht, die letzte, „Enigma“, erst im vergangenen Jahr. Er schwärmt von Bassistin Lena, „die macht Funk“, und außerdem mache sie in Wolfsburg noch Musik mit einer Band, „groß auf der Bühne“ – ich tippe auf Valid Blu und liege richtig. Deren Album „WFYB.TV“ gefällt mir sehr, Progrock, Artrock, und ich hab die Band Dank Vermittler Till Burgwächter im vergangenen Jahr im Gifhorner Kurt-Magazin unterbringen dürfen. Kleine Welt. Carsten lobt Lena: „Die ist jung, die muss in die Musikszene rein.“

Ein Bisschen Namedropping betreibt Carsten noch: „Bei uns war Reggie von Tina Turner dabei“, also Reggie Worthy, der schon für viele Hochkaräter seine Saiteninstrumente spielte. Und da Bernt aus Köln kommt, lag der Weg zu Eroc, Ex-Drummer von Grobschnitt, nahe, der seit 40 Jahren in der Nähe von Hagen ein reines Mastering-Studio betreibt und nur für den WDR oder Can arbeitete, sondern auch die Alben von Centrifusion in den Fingern hatte.

In den Fingern juckt es mir nun, Nicos Mittagstisch einzunehmen, und ich bestelle eine Portion bei Melissa. „Hast du’n Glück gehabt“, raunt sie mir verschwörerisch zu, „einen hat er noch.“ Als sie mir meinen Teller bringt, findet Carsten: „Sieht so lecker aus, habt ihr noch einen?“ Melissa nickt: „Einen noch.“ Carsten zögert nicht: „Nehme ich!“ Melissa lächelt: „Gerne!“ Und so genießen wir beide Nicos Kreation, bevor Carsten zu seinem Job in der Musikschule zurückkehrt und für das Riptide die Nachmittagspause ansteht.

Als ich gerade kurz durch die Platten blättere und dabei unter anderem Hildegard Knef Debüt ausmache, streckt jemand seinen Kopf zur Riptide-Tür herein und fummelt bedrucktes Papier in den Flyerbehälter daneben. Micha! Wie schön, ihn hab ich ewig nicht im Ritpde getroffen, dabei kenne ich ihn von hier. Und gerade gestern erst war ich für den freiberuflichen „Kulturboten“ in Wolfsburg unterwegs, Flyer fürs Phaeno verteilen, was ich jedes Mal genieße, weil ich um die 50 Adressen bestücke und Bekannte und Freunde und überhaupt freundliche Menschen treffe und dort eine wunderbare Zeit verbringe. Wie ich gestern hat Micha heute Flyer vom Phaeno dabei, die für die Sonderausstellung „Bricks“ vom 7. Bis 15. Mai werben, einer Lego-Schau nämlich. Einer frohen Botschaft mithin, über die gestern viele Empfänger strahlten, sobald ich sie ihnen in die Hand drückte, und mindestens ein spontanes „oh, cool“ fallen ließen – allein so etwas ist ein Geschenk, für das ich den Aufwand immer wieder gern auf mich nehme. Da ich jedoch komplett alle Flyer unter die Leute brachte, vergaß ich, für mich selbst einen zu reservieren, und entnehme nun Michas Bestand zwei Exemplare. Viel Zeit habe ich für Michas jetzt leider nicht, da das Riptide eigentlich schon geschlossen hat, daher bestätigen wir noch schnell, dass wir demnächst ins Universum gehen, um „Parallele Mütter“ zu gucken, den neuen Film von Pedro Almodóvar, dann drückt mir Micha einen Flyer von der Einraum-Galerie aus der früheren Nachbarschaft des Riptide in die Hand mit einer Ausstellung von Petra Merz, die sie dort 22. April eröffnet, und dann radelt er lachend und winkend davon und ich kehre zurück ins Café, wo Melissa schon zur Pause die Theke klärt.

Vor seiner Pause möchte ich noch von Nico den aktuellen Stand in Sachen Chefkoch im Riptide in Erfahrung bringen. Und überhaupt, was ihn dazu brachte, so ein herausragender Koch zu sein. „Gelernt habe ich im Alten Wolf in Wolfsburg“, beginnt Nico, und ich staune: Kommt er aus der Nachbarstadt? „Ich bin Wolfsburger“, bestätigt er, „einmal die Woche fahre ich da auch hin.“ Dann ist er in seiner früheren Hood unterwegs, „in dem alten Laden, wo Melissa auch mal gearbeitet hat“, sagt er enigmatisch, und das möchte ich genauer wissen: „Das war im Hallenbad.“ Da war ich gerade gestern auf meiner Flyertour wieder, und da fühle ich mich sowieso immer wohl, als Gast, unter so vielen freundlichen Leuten, die dort beschäftigt sind. Nico nickt: „Es ist mir auch schwergefallen, da zu gehen.“ Für etwa „sieben, acht Jahre“ arbeitete er, wie übrigens auch Melissa, im dem Hallenbad angeschlossenen Restaurant Lido, „da bin ich von der Autostadt hingekommen“. Was ein Leben! Nico grinst: „Und zwischendurch kurz in Berlin.“

Das Riptide verlässt Nico, weil seine Freundin Sera in Hannover arbeitet, sie ihren Arbeitsweg mit einem Umzug dorthin verkürzen will und er von dort aus ebenso wenig nach Braunschweig pendeln mag. Einen Job dort hat er aber noch nicht: „Jetzt bin ich erstmal arbeitslos.“ Und hat sich einen Bulli gekauft, „den baue ich aus, ein bisschen rumreisen, im April nach einer Wohnung gucken und nach der Reise ziehen wir um nach Hannover“.

Im Riptide arbeitet Nico „bald zwei Jahre“, sagt er, und Melissa interveniert: „Ein drei Viertel!“ Er stimmt zu. Sie weiß es genau, denn: „Ich musste auch erstmal in der Küche arbeiten, bevor du angefangen hast.“ Das war in der Übergangszeit von der Kurzarbeit im Lido hin ins Riptide. Dort spezialisierte sich Nico auf vegane Küche: „Hatten wir im Lido auch, aber das, was ich hier mache, wurde da nicht praktiziert, das musste ich mir selber beibringen.“ Nico ist „selbst nur Vegetarier, und schwergefallen ist es mir nicht, hier umzudenken“. Die Ergebnisse bezeugen seine Lernbereitschaft und sein Geschick: Hier schmeckt einfach alles.

Und nun lockt die Welt. „ich habe den Plan im Kopf seit Jahren, mal rumzufahren“, sagt Nico. Das Gefährt dafür erwarb er sehr kurzfristig: „Mit dem Bulli musste es schnellgehen, mein letzter ist Opfer des Sturmes geworden.“ Ein Ast zerstörte jenen: „Während der Fahrt!“ Vor Schreck fuhr Nico erstmal ein Stück weiter, bis er anhielt und sich sein Fahrzeug genauer ansah: „Totalschaden.“ Deshalb nun also der neue. Reiseziele hat Nico sich grob gesteckt: „Erstmal wird’s Holland, Frankreich, Normandie, dann eine Woche Deutschland“, denn dann besucht er drei Konzerte und ein Festival, die genau in dieser einen Woche stattfinden. Dann wieder zurück nach „Frankreich, Côte d’Azur, vielleicht Italien, Österreich, zum Abschluss Dänemark, Schweden.“ Mit seinem alten Bulli testete Nico im vergangenen Jahr bereits das Solo-Herumreisen an: „Ich hab gemerkt, das macht Bock“, und doch schüchtert ihn die Vorstellung etwas ein, „länger als zwei Wochen“ bis auf punktuelle Besuche von Freunden komplett allein unterwegs zu sein: „Ich bin gespannt.“

Ein potentieller neuer Job als Koch muss für Nico indes nicht zwingend vegetarisch ausgerichtet sein: „Ich will jetzt auch wieder Fleisch kochen, das reizt mich wieder, auch wenn ich es nicht esse.“ Die Herausforderung für ihn sind dabei die „Garpunkte“, die es bei pflanzlichem Essen nicht zu beachten gibt, nämlich, wann ein Stück Fleisch welche Durchgebratenheitsstufe erreicht hat: „Das ist ein bisschen aufwändiger.“

Einen Nachfolger hier im Riptide hat Nico sogar bereits: „Wir haben einen Neuen gefunden“, berichtet er, und zwar jemanden aus der Braunschweiger Gastroszene, den Melissa und er schon kennen, Chris ebenfalls. Ab dem 1. Mai ist jener Addi im Riptide, dann hat er eine immerhin kurze Übergangszeit mit Nico: „Ich bin bis 11. Mai hier.“ Und jetzt ist es schon weit nach 14 Uhr, ich möchte Melissa und Nico nicht noch mehr von ihrer Pause nehmen. Nicht Pause, grinst Nico: „Ich hab Feierabend.“ Morgen ist er wieder zum Mittagstisch im Riptide, dann gibt es Pilaw-Reis mit Aubergine, Tomate, Pesto und Rucola. Jeden Tag Urlaub müsste ich haben!

Matthias Bosenick
www.krautnick.de
Fakebook

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