#181 Der Herr des Chaos‘ trifft den Pestgott

Donnerstag, 27. Oktober 2022

Es ist immer noch wärmer als im Juli, und das so knapp vor Halloween. Reformationstag, mea culpa. Der Ende Oktober üblicherweise notwendige Schal ist heute nicht nur obsolet, sondern wäre ein skurriler Kontrast zu den T-Shirts, in denen die Leute unterwegs sind. Wenn das so bleibt, wird es im November ja doch noch was mit der Männerfußball-WM im Sommer. Die wir ja sowieso alle boykottieren, oder? Oder?

Bevor ich mich heute auf den sonnigen Magnikirchplatz vor dem Riptide setze, besuche ich als neuen Nachbarn das Café Strupait am Tor zum Magniviertel, Magnitorwall 8. Seit August 2008 betreiben Stefan und Erhard das Café. Erhard setzt sich mit mir draußen auf eine der Holzbänke, die die Ensembles aus Tischdeckengedeckten Tischen und Holzstühlen durchsetzen. Efeu und Erika auf den Tischen erfreuen die Sitzenden, unser Blick reicht bis zum Städtischen Museum und den grünen Steintorwall. Gelegentlich rattert die Straßenbahn an uns vorbei, und da schwingen Urbanität und Freiheitsdrang mit, schön. „Seit 2008 hat sich viel getan hier“, blickt Erhard zurück, „auch bei uns.“ Früher etwa hatte das Strupait ganztägig geöffnet, „morgens bis abends, am Wochenende bis spätabends, aber jetzt decken wir nur noch das Tagesgeschehen ab, Frühstück, Mittag Kaffee“. Die Gründe seien unterschiedlich, hauptsächlich jedoch in der Personalsituation zu finden: „Wir schaffen es nicht mehr, alles abzudecken.“ Und das nicht erst seit der Pandemie, die jeden Dienstleistungsbetrieb in die Knie und zum Umdenken zwang, das Riptide ja auch. „Corona war nochmal der Hammer“, sagt Erhard, und freut sich gleichzeitig über einen besonderen Aspekt, das Personal betreffend: „Die Leute, die vor Corona schon da waren, sind immer noch da, die sind zum Teil sieben, acht, zehn Jahre bei uns, und wir sind bemüht, sie zu halten.“ Unter anderem damit, dass Stefan und Erhard während der Lockdowns die Gehälter aufstockten: „Da bestand für sie kein Druck.“

Vor dem Strupait betrieben die beiden das Rondo im Staatstheater, was bis 2009 sogar parallel lief. Davon wollten sie sich jedoch verabschieden, die Arbeit war immens, da es sich beim Rondo sowohl um ein Restaurant als auch um die Theaterkantine handelte, was für die beiden bedeutete, von morgens um 10 Uhr für die Gäste bis nachts um 5 Uhr für die Schauspieler da zu sein und manchmal einfach dort zu schlafen, weil sich der Heimweg nicht lohnte. Ein gigantischer Aufwand also, den sie bald nicht mehr zu leisten bereit waren und deshalb nach Alternativen suchten. Daher strich Stefan im Magniviertel umher, um sich Immobilien anzusehen: „Er hat den Laden gesehen, die Scheiben verklebt, der hat zwei, drei Jahre leer gestanden, Stefan hat mich gefragt: ‚Guck dir das an, was hältst du davon?‘“, erzählt Erhard. Sie besprachen mit dem Vermieter die Idee, der das Konzept gleich so großartig fand, dass er den beiden entgegenkam und die Sechziger-Jahre-Fassade zurückbaute, während die beiden im Gegenzug das Innere renovierten: „Das wertet die Immobilie auf“, zitiert Erhard den Vermieter. Eindeutig! Die großen Fenster lassen viel Licht ins Café, man wähnt sich drinnen beinahe draußen.

„Für uns war das ein Sprung ins kalte Wasser“, seufzt Erhard. „Kurz vor der Öffnung haben wir uns gefragt: Wie blauäugig sind wir eigentlich?“ Er lacht. „Das war für uns eine große Hausnummer, das umzubauen.“ Eine Initiative, die sich offenkundig auszahlte: „Es war eine gute Entscheidung“, bestätigt Erhard. Während dieser Tage die Situation indes etwas angespannter ist, mit Corona, den höheren Kosten und der „Schwierigkeit, Personal zu finden“, so Erhard. „Das war zwar vor Jahren auch schon ein Problem, aber einfacher als heute.“

Im Angebot hat das Strupait „ein ganz leckeres Frühstücksbüffet, mittags – “, Erhard unterbricht sich: „Nicht Mittagstisch, das kann man nicht sagen – unsere Karte läuft auf 12 Uhr, wir haben hochwertige Speisen, frisch zubereitet, das wird auch geschätzt.“ Bis 17 Uhr in der Woche kann man im Strupait warm essen, nachmittags gibt es Kuchen, „der kommt aus Königslutter, aus einer Konditorei, Café am Markt“, sagt Erhard. Ein Angebot, das Gäste wiederkehren lässt: Während wir sprechen, grüßen Erhard Radfahrer und Fußgänger im Vorbeibewegen, er grüßt mit Namen zurück, alles ist herzlich. „Wir haben viele Stammkunden“, bestätigt er. Mit den längeren Öffnungszeiten habe es sogar noch mehr Kontakte gegeben, sagt er, weshalb Stefan und er überlegen, wie sie Kompromisse finden können, etwa wenigstens den Freitagabend geöffnet zu haben, „weil abends auch eine schöne Atmosphäre ist“. Irgendwie müssten sie das „personaltechnisch hinkriegen“. Wenngleich das Paar selbst an seine physischen Grenzen stößt: Erhard ist 61 Jahre alt. Weitere Ideen waren etwa, abends geschlossene Gesellschaften zuzulassen, oder eventuell Events, „aber da muss die Kraft für da sein“. Und zwar beim gesamten Personal.

Das Magniviertel war für das Strupait die beste Wahl: „Zu uns kommen die Gäste gezielt“, sagt Erhard. Im Sommer auch mal einige „en passant“, doch „es ist sehr wertvoll, dass man die Leute kennt, die kommen, und zu denen eine Beziehung aufbaut, das ist hier gut möglich“, schwärmt er. Beim Blick die Straße Am Magnitor entlang falle ihm auf, dass der Magnikirchplatz seit dem Umzug des Riptide besser besucht sei als zuvor: „Im Sommer tobt der Bär.“ Außensitzplätze „gab’s vor ein paar Jahren dort nicht so viele“, so Erhard, und nennt „die Crêperie, das Magnihotel und Barnaby’s“ als Initiatoren der jetzigen Situation dort. Er lächelt: „Im Sommer haben wir hier den Vorteil, dass es relativ kühl ist – es geht immer ein Wind durch den engen Straßenzug, es ist offener, die Hitze kann sich besser verteilen, es ist im Sommer gut, hier zu sitzen.“

Eigentlich war das Strupait ursprünglich darauf ausgelegt gewesen, „Frühstück, Kaffee und Kleinigkeiten zu Mittag“ anzubieten, verrät Erhard. Doch das Mittagsangebot fand schnell Liebhaber und Feinschmecker, und so kam es, „dass die Leute zum Essen gekommen sind, da war die Butze voll – so ist es ein Restaurant geworden“. Den Namen Strupait hat es von Stefan, der so mit Nachnamen heißt: „Der ist selten“, weiß Erhard; ein Name aus Ostpreußen, wo es die Endung –ait häufiger gibt. „Der bleibt in Erinnerung.“

Stefan zieht frische Tischdecken auf einige Tische, Gäste verabschieden sich persönlich bei Erhard, andere bleiben im Vorbeigehen auf einen Schwatz stehen, die beiden Strupait-Betreiber scherzen mit ihnen und miteinander. Chris und André, so erinnert sich Erhard, lernten sie vor Jahren im Rondo kennen, „bei einer Blauhausparty muss das gewesen sein“, überlegt er. Stefan lacht: „Ich weiß das nicht mehr, das ist lang her.“ Ich verabschiede mich, Erhard hat zu tun, und er gibt mir Grüße an Chris mit.

Die ich ihm heute leider noch nicht ausrichten kann, denn Chris ist nicht im Riptide. Auch bei vorangeschrittener Tageszeit ist heute noch nichts vom Herbst zu spüren, ich setze mich draußen an einen Tisch, zwischen all die anderen Gäste und mit Blick auf den Wochenmarkt. Dominik nimmt meine Bestellung auf, den Bonanza-Burger mit Pommes und ein Wolters, und Melissa bringt mir kurz darauf das Getränk. Alsbald schreitet die Dämmerung voran, die Lichter illuminieren den Magnikirchplatz früher als im Sommer, aber nicht weniger harmonisch und einladend. Ich darf bloß nicht vergessen, nachher meine eingetroffenen Bestellungen mitzunehmen: „Lord Of Chaos“, die neue 12“ von Killing Joke, und – auf blutrotem Vinyl! – „Plague God“, das Debütalbum von Absent In Body, einer nicht zu Unrecht als Supergroup bezeichneten Band, mit Colin H. Van Eeckhout und Mathieu J. Vandekerckhove von Amenra, Scott Kelly von Neurosis und Iggor Cavalera, einst bei Sepultura. Zusammen machen sie schönen dunklen Doom-Metal mit Einflüssen von Front 242, das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen.

Einen wundervollen Plattentipp erhielt ich kürzlich in Dresden. Da ich noch Urlaub hatte, buchte ich eine Nacht in der Äußeren Neustadt, in der ich seit Jahren nicht mehr unterwegs gewesen war, was ich aber ohne Pandemie vor zwei Jahren gewesen wäre. Denn eigentlich hatten die beiden Dresdner Jörg und René vorgehabt, dort im Alten Wettbüro ihre gemeinsame Anthologie mit einer Releaseparty zu feiern, nämlich „Ich liebe Musik Vol. 2“, zu dem Guido und ich ebenfalls Texte beisteuerten, wie schon 1999 zum ersten Teil. Also fragte ich die Initiatoren, ob sie zufällig spontan Zeit hatten, und freute mich, dass sie zusagten, wenn auch mit zeitlichem Versatz. So traf ich zunächst Jörg im „Wetti“ und später René im Combo.

Jörg und ich kannten uns bereits in echt, nämlich von der Releaseparty des ersten Teils, damals, 1999, an der Guido und ich beteiligt waren, weil Jörg und Guido beim selben Musikversand im Newsletter eingetragen waren – damals war das technisch noch nicht so einfach wie heute und der Absender vergaß einmal, die Mailadressen in bcc zu setzen, was Jörg nutzte, um alle zu fragen, ob sie Lust hätten, sich an der Anthologie „Ich liebe Musik“ zu beteiligten. Guido hatte, fragte mich, ich hatte auch, und so waren wir dabei, als sich die Autoren im Palais im Großen Garten trafen. Was ein Fest! Und wie glücklich war ich, als Jörg uns vor drei Jahren fragte, ob wir zur Fortsetzung ebenfalls einen Text beitragen wollten. Dieses Mal fand er sogar einen Verleger, nämlich René, der den Windlustverlag betreibt; die beiden wurden zufällig als DJs für eine Veranstaltung gebucht und hatten den ganzen Abend lang Zeit, sich auszutauschen, erzählte mir Jörg im „Wetti“, und als er auf „Ich liebe Musik Vol. 2“ zu sprechen kam, bot sich René stante pede als Verleger an.

Zudem verriet mir Jörg, dass Norman, der Betreiber des ältesten Plattenladens in der Äußeren Neustadt, des ZentralOhrgans nämlich, ebenfalls mit einem Text im Buch vertreten ist, und als Jörg nach unserer intensiv verbrachten Zeit im „Wetti“ zu seiner Familie zurückkehrte und ich bis zum Treffen mit René noch Zeit hatte, verbrachte ich die natürlich im ZentralOhrgan. Dort lag das Buch, dort fand ich auch die Platten, die René auf seinem Label herausbrachte, und dort hätte ich noch länger verweilen können, wäre nicht der Ladenschluss dazwischengekommen.

Also schlenderte ich durch das schöne Viertel und ließ mich im Café Combo nieder, in dem ich vor Jahren schon einmal gesessen hatte, um nun auf René zu warten. Der erzählte mir dann, dass er dort früher aufgelegt habe; auch Jörg berichtete von seinen Subkulturabenteuern in Dresden, ich fühlte mich sofort mittendrin, Geschichten von vor, während und nach der Wende, von heute und von morgen, von Abenteuern und Wagnissen, von Zusammenhalt und Miteinander. René ist kulturell ringsum in der Äußeren Neustadt unterwegs, in der Zille etwa und in der GrooveStation, legt auf, macht Lesungen aus seinen Büchern, alles. Wir schlendern bald weiter in die Zapfanstalt und wanken von dort aus bestens gestärkt in Richtung Bett, sehr viel weiter als meiner war Renés Weg nicht. Er empfahl mir noch das GrooveAmt, einen Plattenladen, in dem er 2020 pandemiebedingt das Buch in kleinerem Rahmen vorgestellt hatte.

Das GrooveAmt suchte ich am Folgetag natürlich auf. Dort entdeckte ich ebenfalls Renés Bücher und Platten, und Betreiber Tobi und ich kamen schnell ins Gespräch und empfahlen uns gegenseitig Musik. Ein Tipp von ihm war die gemeinsame Platte von Thou und Emma Ruth Rundle; von der Sängerin hatten mir Sina und Cord von Fly Cat Fly vor einiger Zeit schon berichtet. Thou selbst sagte mir nix, die Band macht wohl eigentlich übles Gebolze, also gutes Zeug, aber was Tobi von „May Our Chambers Be Full“ am Computer vorspielte, dem Album mit ERR, packte mich sofort. Leider hatte er die LP nicht mehr vorrätig, schlug mir aber vor, es bei Drop Out Records zu versuchen, einem Plattenladen, der im THC Headshop in der Alaunstraße untergebracht ist, und tatsächlich, da fand ich die LP auch. Mit Fat Fenders Records, den ich am Vortag schon inspiziert hatte, residieren auf der kleinen Fläche gleich vier Plattenläden in der Äußeren Neustadt, die sich nicht nur keine Konkurrenz machen, sondern gegenseitig empfehlen. So geht das. Dresden also, viele herzenswarme Menschen getroffen, gute Musik mitgenommen, eine schöne Zeit gehabt und mit Jörg und René in die Zukunft geblickt, mit neuen gemeinsamen Aktivitäten.

Während des Aufenthaltes lernte ich außerdem etwas über Fake News und wie man selbst als aufgeklärter Mensch auf sie hereinfallen kann: Als René und ich in der Zapfanstalt saßen, lief im Hintergrund unter anderem „Golden Brown“ von den Stranglers, und ich erzählte ihm, dass ich immer dachte, das sei ein Original von denen, bis ich kürzlich erstmals die Version von Dave Brubeck zu hören bekam, was mich wunderte, warum ich das nicht schon früher wusste, aber mir erklärte, wie eine dem Punk zugeordnete Band einen solchen Song atypischen im Programm haben kann. Als ich im GrooveAmt eine Best-Of von Brubeck entdeckte, wunderte ich mich, dass „Golden Brown“ nicht mit drauf war. Kurz mobil gegoogelt, musste ich lernen, dass diese Brubeck-Version in Wahrheit erst zwei Jahre alt ist und von dem unbekannten Britischen Saxophonisten Laurence Mason unter dem Alias The Take Vibe EP produziert wurde. Ja geil, so bin ich also auf Fake News reingefallen! Hab ich René natürlich sofort virtuell erzählt.

Blöd nur, dass ich mir aus Dresden eine Erkältung mitbrachte, die verhinderte, dass ich an dem Samstag darauf bei der Zehn-Jahres-Party von Fly Cat Fly im Kufa-Haus dabeisein konnte. Wir waren von Sina und Cord mit Rille Elf dazu ermuntert worden, das Aftershow-Programm zu bespielen, was Günther dann allein absolvierte, weil Olli und Uwe ebenfalls verhindert waren, nach Gigs von Krügerglantzquartett, Markus Schultze und eben Fly Cat Fly. Zum erbaulichen Ausgleich brachte mir Cord am nächsten Tag die eigens gebrannte CD-Version des Albums „No Fame No Glory“ inklusive einiger Teebeutel vorbei, das half etwas, den Schmerz zu mildern. Das Konzert von Afsky und Sunken eine Woche später in Kiel verpasste ich trotzdem noch, dafür war ich immer noch nicht fit genug. Ebenfalls bedauerlich, ich hätte meine Schwester getroffen – und Ole, der die neue Afsky-LP „I stilhed“ für mich dabeihatte, die DHL mal wieder zurückgeschickt hatte. Nun werde ich sie mir also beim nächsten Mal in Kopenhagen abholen. Die grandiose Afksy-LP „Ofte jeg drømmer mig død“ entdeckte ich außerdem im GrooveAmt, Ole kommt gut rum. Ebenso „Georgette Rouen“, die Debüt-LP von Les Hommes Qui Wear Espandrillos, die ich lediglich auf CD habe. Aber dafür einen riesengroßen Stapel jüngerer LPs von deren damaligem Schlagzeuger Jörg A. Schneider, der sein Schlagzeugspiel zusehends mehr vom Zufall steuern lässt und die wahnwitzigsten improvisierten „Collaborations“ herausbringt.

Dominik bringt mir ein zweites Bier, Pam gesellt sich an meinen Tisch, es ist dunkel, die Lichter gehen an, kühl wird es immer noch nicht, und auf dem dämmrigen Magnikirchplatz vergnügen sich einige viele junge Meute zu lauter Musik. Mit den Platten unterm Arm – ich hab dran gedacht! – gucken wir uns zu unserem Feierabend an, was sie dort treiben, und sehen sie mit leeren Astra-Flaschen Wikingerschach spielen. In T-Shirts. Im Oktober. Kurz vor Halloween. Das dürfte für dieses Mal All Hallows‘ Eve gruselig genug sein.

Matthias Bosenick

www.krautnick.de
Fakebook

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