#189 Eine Schärpe aus Silber

Donnerstag, 16. Juni 2023

Endlich draußen sitzen! Endlich nicht zu kalt, nicht zu heiß, nicht zu nass, nicht zu windig, nicht zu spät, nicht zu laut, nicht zu sandig, nicht zu, äh. Schon gut! Also, auch ohne permanent direkt strahlende Sonne, die sich heute nämlich wechselnd hinter Wolken verbirgt und nur gelegentlich hervorlugt, und dann, wenn sie dies vollführt, den ganzen Magnikirchplatz in strahlende Flammen setzt, ist es draußen herrlich genug, um Speisen und Getränke zu sich zu nehmen, und so soll es heute sein. Niclas sitzt auf der Bank neben dem Eingang zum Café Riptide und deutet auf den entlegen gelegenen Tisch 219, den er soeben verließ, weil seine neue Stammbank tatsächlich kurzzeitig belegt war, und der als einziger immer noch frei ist, und den steuere ich nun an, weil ich etwas essen möchte, was ohne Tisch auf der Bank neben Niclas etwas schwierig sein dürfte, so gern ich noch bei ihm sitzen bleiben möchte, man ist ja schließlich keine 50 mehr, wie Uwe immer sagt.

Nur zwei Tische weiter beginnt schon die Fläche von Barnabys Blues Bar, bis hin zum Hotel Magni Boutique reichen die Tische und Stühle von Café Lineli und Das kleine Café, wo es jetzt Eis von der Apo-Eis-Theke aus der Innenstadt gibt, da ist unter anderem das Pistazien-Eis sehr gut, es ist Sommer, alle sind draußen, und wo kein Gastronomiemobiliar den Sandplatz belegt, übernehmen das die Marketender, die soeben ihre Stände abbauen und den Feierabend ansteuern, sowie eine verwirrend stille Demonstration, die von einer verwirrend stillen Polizei begleitet wird und die sich vor dem Eingang der Magnikirche aufstellt. Dienstags gibt es dort die „Musik zur Kaffeezeit“ und mittwochs findet ebenfalls dort seit Mai und bis September das Bürgersingen statt, das ist es beides offenkundig nicht, schließlich ist heute Donnerstag.

Thea nimmt meine Bestellung auf, heute entscheide ich mich nicht für den Burger, sondern für die Falafel-Sandwiches, die mir Ulli kürzlich bei Jojeco empfahl und die ich vor einer Woche bereits mit Guido probierte, der hier war, um „Silver Sash“ von Wovenhand auf Vinyl zu erwerben, und für gut befand, mit leichter Schärfe und subliminalem Minzaroma. Ein Schälchen Pommes dazu und man ist für den Rest des Tages bestens ernährt. Ein Wolters natürlich auch. Oder zwei. Nacheinander.

Vor meiner Bestellung jedoch erkunde ich noch einen neuen Riptide-Nachbarn. Angesichts dessen, dass ich jetzt Teilhabe an einer Großelternschaft habe, drängt sich mit der HerzensRäuber auf, das Geschäft für Kinderbekleidung in der Kuhstraße 34, dessen Name außen gar nicht außen dransteht, das aber mit farbenfröhlich dekorierten Schaufenstern klarstellt, worum es sich da handelt. Drinnen ist es noch bunter, Kinderkleidung türmt sich in Regalen und an Gestängen, der L-förmige Raum ist verwinkelt und birgt überall Platz für kindgerechte Waren zum Anziehen. Die Tapete hinter dem Verkaufstisch ist im Retro-Blumenmuster gehalten, auf dem Schrank davor stehen Bionadeflaschen bereit, das Regal neben der Kasse birgt Spielwaren, die hier indes in der Unterzahl sind; ein zweites Regal mache ich schräg hinter mir aus, bestückt mit Geschirr, Brotdosen, Büchern und Taschen. Bevor sich Verena meinem Anliegen zuwenden kann, nimmt sie von einem Mitarbeiter der Stadt die Programme für die Kulturnacht entgegen, ebenso die Fahne, die sie am Samstag aushängt, um anzuzeigen, dass sich ihr Geschäft an der Aktion beteiligt. „Ich räume schon wie eine Weltmeisterin“, sagt sie, als der Bote zum nächsten Teilnehmer weitergezogen ist, und deutet auf den eng bestückten Raum: „Am Samstag ist normal geöffnet, hier ist Ausnahmezustand.“

Den Laden HerzensRäuber betreibt Verena seit 2006 und seit 2008 im Magniviertel. „Das ist unser vierter Laden, wir sind im Magniviertel zweimal umgezogen“, erzählt sie. Einmal residierte sie am Rizzi-Haus und einmal direkt am Magnikirchplatz, wo jetzt das Café Lineli untergebracht ist. Das allererste Geschäft befand sich „am Ortsrand“ von Braunschweig, wo sie auch wohnt. „Mein Schwerpunkt ist Bekleidung“, erläutert sie, und zwar mit „nur noch ökologischen Firmen, die nach Standard zertifiziert sind“. Sie zeigt mir ein Kleidungsstück mit dem G.O.T.S.-Label, das garantiert: „Arbeitsbedingungen gut, ohne Schadstoffe produziert, faire Bedingungen.“ Wichtig an dem Label sei, dass darauf eine Lizenznummer vermerkt ist, die man in einer Datenbank eingeben und ermitteln kann, welche Firma genau dahintersteckt, und dass dieses Label ausschließlich auf Endprodukten prangen darf, und nicht etwa, weil gerade mal die Firma es erhielt, die das Garn herstellte. Und falls das doch einmal jemand so praktizieren sollte, ließe sich das eben über die Lizenznummer unkompliziert herausfinden.

Lokale Hersteller finden sich bislang noch nicht in Verenas Angebot, aber sie hat Lieferanten aus ganz Europa und „eine Firma, die komplett in Deutschland produziert, sonst englische, schwedische, holländische und zwei Belgier“, listet sie auf. Komplett aus Deutschland sind auch die nichtkleidenden Postkarten mit eingearbeiteten Pflanzensamen, die sie neben sich auf dem Tresen feilbietet, „handgeschöpft“, sagt sie und erklärt: „Man pflanzt die Karte ein“, und deutet auf die kleinen schwarzen Punkte im Papier. Wir schweifen sofort ab, auf bienenfreundliche Pflanzen, über deren Zweck und Sinn man sich als Laie täuschen kann, wie sie im Internet herausfand, weil es etwa Pflanzen gibt, die nur Honigbienen anlocken, aber keine Wildbienen, und man da auf die Zusammenstellung achten müsse. Andrea und ich haben seit Jahren auf ihrem Balkon einen Kleingarten aus Wildblumen, deren Samen wir einmal aus einer Supermarktpackung und danach gern im Herbst getrockneten Blühstreifen entnehmen und uns danach bei unserer eigenen Ernte bedienen. Ein herrliches Summen begleitet den Balkonaufenthalt, dazu kommen Blattläuse, Marienkäferlarven und Ameisen sowie diverse Raupen, die sofort, nachdem das erste Grün die Krume durchbricht, die Blumenkästen zusätzlich beleben. Verena versucht sich zu Hause ebenfalls mit einem Blühstreifen auf dem Grundstück.

Zurück zum HerzensRäuber. „Ich nutze gar nicht die ganze Fläche“, sagt Verena. Von den 135 Quadratmetern, die ihr zur Verfügung stehen, stellen rund 100 Verkaufsfläche dar, etwas Lagerfläche hat sie abgetrennt. Unter dieser Adresse konnte Verena einen regulären Betrieb noch gar nicht so richtig erleben, denn „kaum sind wir umgezogen, ging Corona los“. Ein Schicksal, das sie mit dem Riptide teilt, stellt sie fest. Und erzählt, dass sie Touristen gern in den Handelsweg schickt, wo das Riptide ja 2007 seinen Anfang nahm, weil der die älteste Passage Braunschweigs und überhaupt sehr ansehnlich sei. Hier im Magniviertel etablierte sie ein kleines nachbarschaftliches Netzwerk und organisierte zwischen zwei Lockdowns mit anderen Teilnehmern eine kleine Geschenkaktion, „da war aber das Zeitfenster klein, die hat der nächste Lockdown abgebrochen“, bedauert sie.

Bis zum Riptide reichen Verenas Verbindungen indes noch nicht, nicht einmal wegen Vinyl. „Ich habe noch Schallplatten, aber ich höre kaum Musik zu Hause“, sagt sie. Gerade mal im Auto, und dort wenn nicht aus dem Radio, aus dem sie höchstens zwei Sender erträglich findet, dann von Kassette. Einen Plattenspieler hat sie aber, sagt sie, und noch einen, den sie jedoch nicht nutzt, und noch einen ganz alten, den sie nicht mehr nutzt. Sie schwärmt vom Sound: „So genial!“ Aktuelle Platten habe sie keine, aber noch ihre alten, und schon sind wir im Schwärmen. Ich erzähle von Achtziger-Pop wie OMD, und sie stimmt zu und berichtet, dass sie mit 15 eine Sprachreise nach England machte, wo sie sich dann alle Platten zulegte, die es in Deutschland nicht gab, und so ging es mir auch, meine alten OMD-Platten hab ich mir in London gekauft. „Vor ein paar Jahren habe ich sie in Leipzig live gesehen“, setzt sie fort und erwähnt, dass ihre gesammelten Platten musikalisch eher dunkler sind, Depeche Mode, Gary Numan, „ich hab mir mit 14 meine erste Gary-Numan-Platte gekauft und ihn aus den Augen verloren“, sagt sie. Doch erlebte sie ihn jüngst mehrfach im Konzert und stellte fest, dass seine Songs heute live besser sind als das, was er damals aufgenommen hatte. Die Sisters Of Mercy hingegen spielten „das schlechteste Konzert“, das sie je zu sehen bekam, zudem bevorzuge sie ohnehin The Mission, denn sobald man die erst ins Herz fasste, „dann hat man die Sisters nicht mehr gemocht“.

The Cure hingegen schon, die erlebte ich zweimal live, einmal 2001 in Roskilde und einmal 2005 in der Wuhlheide in Berlin, und beide Male mit über zweieinhalb Stunden Spielzeit. Sie ist skeptisch, dass Robert Smiths Stimme auch live gut sei, was ich sehr widerlegen kann. Das Konzert in Berlin war grandios, alles voll, aber jeder hatte Platz zum Tanzen, ein respektvolles Miteinander. The Cure spielten sich in die Dämmerung, spielten Song um Song, und je weiter die Nacht voranschritt, desto klarer wurde allen, dass ein Song fehlte, „A Forest“ lief noch nicht. Jeder verklingende Schluss steigerte die Hoffnung, das nächste könnte der erwartete Hit sein, und dann kam doch wieder ein anderer Song, auch grandios, aber nicht „A Forest“. Dann schickten The Cure nach Ewigkeiten des Musizierens einen dröhnenden Ton in die Wuhlheide, den sie dezent variierten, und man spürte ringsum die Erwartung, die sich mit dem Ton steigerte, der minutenlang anhielt, bis – bis Robert Smith die zwei Töne auf seiner Gitarre anschlug, du-dummmm, und über die Menge ein kollektiver Orgasmus hereinbrach, Gänsehaut auf allen Armen und Nacken, eine Welle der Erlösung schwappte von ganz hinten über die Wuhlheide bis auf die Bühne, erfasste alle im Publikum und alle aus der Band, und Smith fuhr fort, du-dumm, du-dumm, du-dumm, schrammmm! Verena grummelt und setzt The Cure auf ihre Liste der noch live zu sehenden Bands.

Dafür sah Verena 2014 Faith No More zweimal live, in Berlin in der Zitadelle, „das war das schönste Konzert, wo ich jemals war“, strahlt sie, Open Air, sowie in Hamburg in einer Halle, „aber da war der Sound schlecht“. Den ersten Sänger von Faith No More, Chuck Mosley, mag sie nicht, für sie ist Mike Patton das Muss, und wir sprechen über Bands und Sängerwechsel, die nicht funktionierten, und eigentlich fällt uns außer AC/DC kaum eine Band ein, bei der es überzeugend klappte. Ich mag Chuck Mosley, dafür hätten Faith No More wiederum ihren Gitarristen Jim Martin nicht vergraulen sollen. „Sol Invictus“, das Comeback-Album, ist, da sind wir uns einig, so okay. Faith No More sah ich einmal nur, vor exakt 30 Jahren bei Rock am Ring, meine erste Festival-Erfahrung überdies, als Jens und ich mit seinem Golf mit CD-Laufwerk, was 1993 noch eine Seltenheit war, über die Rennstrecke cruisten und „Introduce Yourself“ in Dauerschleife laufen ließen.

Wir haben noch viele weitere musikalische Themen, etwa, dass man heute schon anerkennend staunt, wenn jemand mit Anfang 20 etwas macht, das einigermaßen Eindruck schindet, und wir gleichzeitig vor Augen haben, dass unsere Lieblingsbands in den Siebzigern und Achtzigern als Sechzehnjährige brandneue Genres erfanden, gereift von emotionalen Dingen sangen und überhaupt erwachsener wirkten, als manche Gleichaltrige heute, was wir indes darauf zurückführen, dass wir eben nicht mehr Anfang 20 und leicht zu beeindrucken sind. Kundinnen und Kunden betreten den Laden zwischendurch immer wieder, Verena berät und verkauft, und eine fragt nach dem Kulturnacht-Programm, das sie auf dem Tresen liegen sieht. „Wir sind die Nummer 36“, antwortet Verena: Um 18 Uhr spielt Cultured Groove Pop mit Gitarre, Kontrabass und Cajon, um 19.10 Uhr folgt das Akustik-Duo Monobeep mit Jazz und Latin-Standards. „Ich freue mich, dass wir mitmachen können“, sagt Verena. Vor vier Jahren, bei der bis dato letzten Kulturnacht, war der HerzensRäuber ebenfalls Teil des Programms, „da hatten wir auch eine tolle Gruppe“, erzählt sie, und setzt nach: „Das Wichtigste ist, dass die Leute nett sind!“ Sie freut sich: „Es ist was los, es findet was statt“, und als ich mich, nachdem ich noch für Andrea Fotos vom Angebot machte, verabschieden will, fällt ihr beim Blick auf ihr Telefon plötzlich auf: „Wir haben am 15. Juni aufgemacht – der HerzensRäuber ist heute 17 geworden!“

Natürlich ist das Riptide ebenfalls an der Kulturnacht beteiligt. Bei der Nummer 23 im Programm steht um 21 Uhr das Akustikpopduo Deerwood auf der Bühne sowie um 22.15 Uhr Grazia Sposito und Carlos Manzano mit Soul und Pop. Sieben Euro kostet ein Pin jetzt, und mit dem kann man sogar die Öffis benutzen, verrät mit Dominik, als ich zwei der Eintrittsbuttons bei ihm an der Riptide-Theke erwerbe. Die bestellte 12“ von LCD Soundsystem ist noch nicht da, die kommt dann wohl zum Wochenende, und das passt ja, obwohl, mit einer neuen Platte auf der Kulturnacht unterwegs sein, ist vermutlich nicht so die gute Idee. Schön, dass das alles überhaupt wieder stattfindet. Wie das Fest Braunschweig International, auf dem sich zum Monatswechsel von Mai auf Juni jährlich die internationalen Vereine aus der Stadt auf dem Kohlmarkt präsentieren und wo es die weltbesten Speisen gibt, die man draußen an Ständen zu sich nehmen kann. Besser als Street Food, wie Hardy meinte. Dominik wundert sich noch, dass ich dieses Mal den Burger zugunsten des Falafelbrotes verschmähte, was ich künftig öfter so tun werde. Wir verabschieden uns – bis Samstag, zur Kulturnacht.

Matthias Bosenick

www.krautnick.de
Fakebook

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