#192 Das Magni-Syndrom

Freitag, 15. September 2023

Der Jubel für Basketballspieler Dennis Schröder ist bereits in der spätsommerlich sonnendurchfluteten Sonnenstraße zu vernehmen. Zumindest erzählt Katrin bei Raute Records davon, dass der Weltmeister heute auf dem Altstadtmarkt eine Ehrung erfährt, derentwegen die Zuwegungen zur Stadtmitte gesperrt sind. Als Fußgänger ficht mich das nicht an, ich nehme mir die „Coltrane“-LP von, Überraschung, John Coltrane und die „Snuffer“-EP von Live Skull mit und schlängele mich an den sportinteressierten Massen vorbei zur BSVG, um mir ein neues Sechserticket zuzulegen. Bei dem prächtigen Wetter ist es nicht schlimm, dass sich die Adresse des Braunschweiger Verkehrsunternehmens aufgrund eines Wasserschadens temporär änderte und ich von den Rathausneubauarkaden in die Schlosspassage tigern muss. Von dort ist es auch nicht mehr so weit bis zum Kamera Express, nur echt ohne Bindestrich, der vorher Foto Haas und davor Foto Dose hieß. Geblieben sind die Leute, die dort arbeiten, zum Glück. Unser Gespräch über absurd gestiegene Preise für analoge Filme bekommt vom vorbeiziehenden Klimaprotestzug einen rhythmischen Unterbau; der Zug und ich begegnen uns trotz entgegengesetzter Richtungen erneut vor den Schlossarkaden. Dort bin ich, weil ich bei Saturn etwas suche und prompt Micha begegne, der die Film-BluRays durchstöbert. Mit ins Riptide, meinem eigentlichen Ziel dieses Tages, kommt er nicht, begleitet mich aber noch zu einem der neuen Nachbarn des Cafés, die ich besuchen möchte, nämlich die Kindertagesstätte Bunte Kuh in der Kuhstraße 8.

Vor einigen Wochen verabredete ich mich mit Jens und Kora beim Rewe in unserer Hood dazu, dass ich sie nach ihrem Urlaub in ihrer Einrichtung im Magniviertel treffen würde. Doch genau jetzt haben die beiden gerade Eltern vor Ort, die ihren Nachwuchs abholen, und bitten um ein Telefonat zu späterer Zeit. Kein Ding, also spaziere ich ins Riptide, einen Tag vor dessen 16. Geburtstag. Ich möchte nämlich unbedingt erfahren, wie sich das Magnifest für das Riptide gestaltete, und blättere in den Platten, bis Chris Zeit für mich hat. Von The Smile fällt mir die „Europe: Live Recordings 2022“-EP in die Hände, guck an. Die hab ich letzte Woche im Vinylparadijs zu Geersteren noch ignoriert, nun aber behalte ich sie in der Hand.

Das war nämlich ein Grund, weshalb ich das Magnifest nicht leibhaftig in Augenschein nahm: Ich war im Urlaub. Zunächst in Roskilde zur Hochzeit zweier sehr enger Freunde, danach in Zandvoort, nicht zur Formel 1. Den Plattenladen in den Niederlanden erkundeten Andrea und ich auf dem Rückweg von der Nordsee, da entdeckte sie ihn bei Google Maps und lotste uns hin. Dort wie zwei Wochen zuvor in Dänemark beim Vinylfreak widerfuhr uns etwas, das für einen standesgemäßen Empfang in einem Plattenladen steht: Wir bekamen Kaffee ausgehändigt. Und Musik empfohlen, selbstredend.

Im Vinylfreak startete ich, befeuert von Haruki Murakami, in der Jazzecke, fand aber nichts, das mich aus dem Stand ansprach. Stattdessen blätterte ich im üppig bestückten Fach mit Musik aus Dänemark, und als sich der Kaffeeausschenker ein Bild davon machte, welche heimischen Bands ich so mag, er also erfuhr, dass ich nicht an ein Genre gebunden bin und grundsätzlich offen für Unerwartetes, empfahl er mir das Vinyl-Rerelease des 2006er Albums „Stockholm Syndrome“ des folkbeeinflussten Indierockduos Murder, das, wie ich zu Hause erleben durfte, tatsächlich meinem Geschmack entspricht. Und die Hochzeit war herzenswarm, mit Trauung im Dom und Party im Museum Ragnarock im mit dem lokalen Musikfestival assoziierten Viertel Musicon. Trve – und im Kreise lieber Menschen. Im üppigen Kreise.

Üppig waren auch die Kreise, die sich in der Woche darauf am Strand von Zandvoort einfanden. Im vergangenen Jahr waren Andrea und ich quasi zum Herbstbeginn dort, obschon nur unwesentlich später im September als dieses Mal, und doch war es witterungsbedingt eher chillig in dem Küstenort, der sich selbst „Beach of Amsterdam“ nennt. Dieses Jahr brach der Sommer während unseres Aufenthaltes für alle überraschend noch einmal aus, und mit ihm die Niederländer: Ganz Amsterdam schien sich täglich auf den Weg ans Meer zu machen; der Strand, der dort von Horizont zu Horizont reicht, war rappelvoll und glich einer Mischung aus Rummelplatz und Ballermann. Nur nicht organisiert, und zur Nacht, die nach den denkbar kitschigsten Sonnenuntergängen einbrach, mit alternativen Rauchdüften in der Luft. Eigentlich ein Geschenk, so spät im Jahr noch bei über 30 Grad täglich in der Nordsee schwimmen gehen zu können, ohne Eispickel zur Anwendung bringen zu müssen, aber man nimmt doch ebenfalls wahr, dass Klimaproteste eine Grundlage haben.

Auf dem Reiserückweg nun schlängelten wir uns durch die Siedlungen im Niederländischen Nirgendwo und kehrten im Vinylparadijs ein, wo uns Verkäufer Ralf herzlichst in Empfang nahm. Meine Priorität war das Album „I_con“ von De Staat, weil ich den Hit „Witch Doctor“ gern endlich als Studiofassung haben wollte, und das war genau die erste LP, die Ralf aus dem S-Fach in der riesigen Indieabteilung heraussuchte, und dann noch auf weißem Vinyl. Dazu entdeckte ich in dem riesigen Laden – Winkel, das hab ich im Woonwinkel bereits gelernt – noch die „Birth Of The Cool“-Neupressung vom Miles Davis Nonet und die 12“ von „Golden Path“ von den Chemical Brothers mit den Flaming Lips. Zum Kaffee erzählte uns Ralf aus der Geschichte des Ladens, den sein Geschäftsführer erst vor zwölf Jahren eröffnete – als Onlinehandel. Bis er sich eines Tages entschied, seine Kunden auch mal kennenlernen zu wollen, und einen kleinen Raum mietete. Der so schnell so viel Zuspruch aus halb Europa fand, dass das Vinylparadijs bald in die jetzige Adresse umziehen musste. Der Laden sieht etabliert aus, als wäre er lediglich kontinuierlich erneuert worden, aber dass er tatsächlich noch neu ist, ist im Jahre 2023 doch eine Überraschung. So geht das mit dem totgesagten Vinyl. Die EP von The Smile ließ ich dennoch stehen – als hätte ich geahnt, dass ich sie heute im Riptide finde.

Die EP drücke ich nun Chris in die Hand, um sie zur Seite zu stellen, denn ich werde nachher noch meine eingetroffenen Bestellungen hinzufügen, mir aber zunächst vom Magnifest berichten lassen. „Es war das erste Mal, dass wir teilgenommen haben – es war spannend, aufregend, und wir als Team hatten unglaublich viel Spaß“, beginnt Chris, während er hinter der Theke rotiert. Stella und Tuana sind draußen auf dem Magnikirchplatz unterwegs und nehmen Bestellungen auf, die sie digital an ein Empfangsgerät senden, das zwischen Chris und mir unablässig Zettel ausspuckt, auf denen Tischnummern und Wünsche vermerkt sind. Chris reißt die Zettel ab und stellt die Bestellung tablettweise zusammen, die Tuana und Stella dann an die entsprechenden Tische bringen. Laut Zeitung, erzählt Chris, seien dieses Mal 150.000 Besucher bei dem dreitägigen Fest gewesen, der bisherige Rekord habe bei 130.000 gelegen. Coronabedingt fiel das Traditionsfest zuletzt mehrfach aus, deshalb war das Riptide überhaupt erst jetzt involviert.

Oder auch nicht: „Ich habe drei Wochen vorher aus der Zeitung erfahren, dass es stattfindet“, erzählt Chris. Das Riptide sah sich dazu gezwungen, daran teilzunehmen, auch wenn es sich nach Kassensturz als Minusgeschäft herausstellte – denn das Café ganz zu schließen, wäre das noch größere Minusgeschäft gewesen. Am Dienstagabend vor dem Fest musste das Team die Freisitzfläche komplett leerräumen, weil die ab Mittwoch vom Veranstalter gemietet war. „Es war gutes Wetter, da ist uns was entgangen“, sagt Chris kopfschüttelnd. Damit nicht genug, musste das Riptide für die kleine Theke vor der eigenen Tür dem Veranstalter Miete zahlen, obwohl Chris dafür bereits ganzjährig bei der Stadt einen Obolus entrichtet. Ohne diese Theke wiederum hätte er das Café komplett öffnen müssen, doch wäre das vergleichsweise kleine Café dem großen Ansturm so vieler Menschen gar nicht gewachsen gewesen. Also in den sauren Apfel und auf diese Weise überhaupt am Feste teilnehmen, um das Minus einigermaßen einzudämmen, nachdem schon die Einnahmen der geräumten Freisitzfläche von zwei Tagen wegfielen: „Das Wetter war Granate!“

Alleinig leidtragend war das Riptide nicht, fährt Chris fort: „Das ganze Magniviertel war mit Ausstellern zugeballert, man konnte die Fassaden gar nicht mehr sehen, die Geschäfte waren zugestellt, die sah keiner.“ Einige schlossen deshalb sogar. Nur kamen diese Aussteller nicht etwa aus dem Viertel oder wenigstens aus Braunschweig, sondern von sonstwo in der Republik: „Warum bleibt bei einem Stadtteilfest das Geld nicht in der Stadt?“, fragt er. Und findet: „Die Braunschweiger, die Magnivierteler gehen leer aus, das Geld muss bei den Leuten bleiben, die hier jeden Tag sind.“

Diese ortfremden Aussteller zahlten nicht nur hier Steuern, sondern machten außerdem den lokalen Lokalen Konkurrenz: „Fünf Pommesbuden, sechs Bierwagen, Longdrinks, Shots direkt vor uns“, zählt Chris auf. „Und wir wundern uns, warum unsere Pommes nicht weggehen.“ Zudem sei die Hauptbühne zwar auf dem Magnikirchplatz direkt vor dem Riptide errichtet gewesen, doch war das Café durch Zäune, Stromkästen, Anhänger und ein riesiges Klo abgeschirmt und somit versteckt: „Niemand hat unsere Theke gesehen.“ Die Mitarbeiterinnen griffen daher spontan zu Pappe und Stiften und tanzten auf der Straße mit schriftlichen Hinweisen auf das Angebot des Cafés. Bob Dylan gefiel diese Idee.

Doch hörte Chris, dass das Überangebot an Buden nicht nur den Anrainern Konkurrenz machte, sondern dass die Standbetreiber selbst ebenso unzufrieden mit dem Erlös waren, weil es einfach zu viele waren. „Mein erstes Mal Magnifest habe ich mir anders vorgestellt“, fasst Chris zusammen. „Allein die Kommunikation!“ Die Nachbarn, mit denen er sprach, bestätigten zwar seinen Eindruck, waren aber – anders als er – immerhin überhaupt schon am Magnifest beteiligt und hatten daher die Idee einer Ahnung, worauf es für sie ungefähr ankommen könnte. Chris seufzt und schließt mit dem angesichts der Umstände wohl wichtigsten Aspekt: „Es hat Spaß gemacht mit dem Team.“

Während Tuana und Stella Tabletts mit leeren Gefäßen gegen Tabletts mit vollen Gefäßen tauschen, schwenkt Chris zu etwas Positiven um: anstehenden Terminen im Riptide nämlich. „Das hatten wir noch nie“, sagt er über die Aktion am 8. Oktober, die in Zusammenarbeit mit der Ska-Initiative Rude Revolution stattfindet: Senior Matze Rossi spielt zum „Punkrock Picknick“. „Wir haben uns ab 15 Uhr ein Floß gemietet, da werden wir musizierend auf der Oker sein“, sagt Chris. Und abends spielt Matze Rossi im Riptide noch einmal. Das Kombiticket für beide Shows sei sehr begehrt, freut sich Chris, obgleich die Plätze auf dem Floß begrenzt sind.

Das soll nur der Auftakt sein zu Kulturveranstaltungen, die am neuen Standort coronabedingt bislang nicht möglich waren, bis auf zwei Konzerte und einige Quiz- und Whisky-Abende, die es auch weiterhin geben soll. Außerdem eine Veranstaltung mit Till Burgwächter, bei dem hochwertige Whisky-Reste die Runde machen, während Till Geschichten liest und Heavy Metal auflegt. Auch soll die Weihnachtsfeier endlich wieder stattfinden, bei der Chris als Butch Cassidy auflegt, sowie weitere Veranstaltungen mit Rude Revolution und ein Konzert mit Radical Radio. All die Termine gibt er noch bekannt, und angesichts beunruhigender Corona-Nachrichten fügt er hinzu: „In der Hoffnung, dass es keinen Lockdown gibt.“

Annika tritt ihren Dienst an, sie löst Chris ab, der heute noch einen anderen Termin hat. Einen Nachfolger für Koch Addi, erzählt Chris noch, hat das Riptide nicht, trotz direkt im Februar nach erfolgter Info, dass der sympathische Chef andere Wege einschlagen müsse, ausgeschriebener Stelle. „Aber wir sind vom Worst Case ausgegangen und vorbereitet, wir haben uns neu strukturiert – Inga, unsere Bäckerin, ist jetzt neue Küchenchefin“, erläutert Chris. Öffnungszeiten und Mittagstisch passte das Café außerdem an. Diese Woche gibt es indes keinen Mittagstisch – zwar bereitete sich Chris auf das Magnifest mit Getränken auf Kommissionsbasis vor, doch da es ja so viel Frittenkonkurrenz gab, ist die Truhe voll mit Pommes, weswegen es diese Woche bereits ein „Pommes mit Zaziki“-Special gab.

Seine Schürze reicht Chris an Annika weiter und erläutert ihr einige Details zum Plattenkauf, da ich außer The Smile noch die bestellte EP mit dem einprägsamen Titel „Blackbox Life Recorder 21f / in a room7 F760“ von Aphex Twin und die Doppel-LP „Átta“ von Sigur Rós mitnehmen möchte. Tuana biegt nun um die Ecke und Chris sagt: „Threeana fängt nächstes Jahr an.“ Annika grinst und fragt sie: „War der wenigstens neu für dich?“ Tuana nickt: „Ja, der war neu“, und zählt ihr auf, welche abseitigen Spitznamen sie ansonsten so bekommt. Derweil kündigt Chris an, dass „Butch Cassidy wieder umtriebig“ sein werde, etwa heute Abend beim „Großen Hausbesuch“ im Staatstheater, in dessen Rahmen Clueso auftritt und Chris unter seinem Alias das After-Show-Programm liefert. Zudem legt er am Samstag im Lindbergh bei der Ärzte-Party auf. Und er ist seit gestern auf allen Streamingplattformen im Rahmen des Podcasts „Yes BS“ zu hören, da wurden Yvonne vom Yoga-Ambiente und er am Sonntag beim Altstadtfest live auf der Bühne interviewt, und Yvonne gab dem Moderator aus den nun bekannten Gründen eine wichtige Regel vor: „Keine Fragen zum Magnifest.“ Der freundliche Podcaster hielt sich dran, das fruchtbare Gespräch drehte sich ums Magniviertel allgemein und um den Einzelhandel.

Aber jetzt muss Chris los, und ich habe ja auch noch eine Telefonverabredung. „Bist du noch in der Nähe?“, fragt Kora, als ich eine halbe Stunde verspätet bei ihr anrufe, was zutrifft, weshalb ich mich zu Jens und ihr in Barnabys Blues Bar setze, direkt ans weit offene Fenster, mit Blick auf den sonnenwarmen Kirchplatz. Wopi sitzt bei ihnen, nach und nach kommen mehr Freunde hinzu und schwärmen miteinander über alte Zeiten in der Gearbox, der Rock’n’Roll-Kneipe, die Kora und Jens betrieben, bis das wahrhaftig kultige, an eine historische Tankstelle erinnernde Gebäude einem Neubau weichen musste. Ihr Nachfolge-Standbein ist nun die Kindertagespflege, die sie in der Kuhstraße betreiben. Kora ist glücklich: „Wir lieben das Magniviertel, es ist eine wunderbare Ecke mit wunderbaren Leuten.“ Seit April 2017, ergänzt Jens, sind sie hier angesiedelt. Kora fährt fort: „Sie haben uns alle herzlich willkommen geheißen, es kamen manche mit Blümchen oder mit Kuchen, die Leute sind cool und wir versuchen, ihnen etwas zurückzugeben.“ Etwa nach „einschneidenden Ereignissen“, so Kora, wie dem Starkregen im Juni oder der Coronazeit, „da haben wir alle abgeklappert – ‚wie geht’s euch?‘, und das kommt zurück“. Sie lächelt: „Wir sind mit unserer Karre bekannt wie ein bunter Hund, wenn wir mit unserem Kinderwagen losschieben, kommen die Leute raus: ‚Hallo, wir haben Kekse für euch!‘, egal, ob Gastonomie, Yoga, Blumenladen.“ Der Bücherwurm, fährt sie fort, erkundigt sich oft, was gerade bei der Bunten Kuh thematisch angesagt sei, und gestaltet seine Dekoration entsprechend. Kora schwärmt: „Eigentlich möchte ich hier herziehen.“

Mit Blick nach gegenüber auf das Riptide sagt Kora: „Für Chris war das genau richtig, seit die hier sind und das Café Lineli, ist der Kirchplatz wieder lebendig – vor zehn Jahren war das eine tote Ecke, der Standort hat gewonnen.“ Und: „Es kennen sich hier alle, das ist super!“ Sogar mit der Magnikirchengemeinde sind Jens und sie befreundet: „Der Pfarrer ist ein cooler Typ, der macht viel für Kinder, wir sind da willkommen.“ Jens nickt: „Der macht viel für Jugendliche, für Schüler – für die Gemeinde.“

Mit der Kindertagespflege ging es für Kora dabei gar nicht erst nach dem Ende der Gearbox los, erzählt sie, sondern bereits 2013, als sie sich im Östlichen Ringgebiet einer größeren Gruppe anschloss. Dort behagte ihr jedoch die Gruppengröße nicht, sie wollte es kleiner haben und war sich nach kurzer Suche mit dem jetzigen Vermieter einig. „Wir werden von der Stadt bezahlt, wir sind zuverlässige Mieter“, weiß Kora, und da auch der Vermieter das wisse, sei sie sehr willkommen gewesen. Nicht nur deshalb, er setzte sich gleich tatkräftig mit Baumaßnahmen für sie ein: „Es hat schon damit angefangen, dass es cool war.“ Die Kinder, die sie dort betreut, sind zwischen einem und drei Jahren alt: „Wenn die Kindergärten Plätze frei haben, gehen sie“, so Kora. Bis zu fünf Kinder nehmen Jens und sie auf: „Wir könnten jeder vier haben, also acht“, erklärt Kora, aber sie entschieden sich, nicht über fünf zu gehen, weil dann im Falle eines Krankheitsfalles der jeweils andere der beiden die komplette Betreuung übernehmen darf und sie niemandem absagen müssen, „dann müssen die Eltern nicht zu Hause bleiben“. Und: „Die Gefahr, dass wir beide krank sind, ist so gering – die Eltern wissen, dass wir zuverlässig sind.“

Zur Kindertagespflege kam Kora seinerzeit sogar nur widerstrebend: „Wir hatten in der Gearbox eine Freundin, die mich ein halbes Jahr damit genervt hat.“ Diese Freundin hatte eine eigene Einrichtung und drängte Kora immerfort: „‚Du musst kommen‘, ‚Ich will nicht‘.“ Immer und immer wieder. „Dann bin ich einmal hingekommen – wie geil ist das denn!“, erzählt sie. Sie hatte in puncto Kindertagespflege immer die Vorstellung einer alten Mutti zu Hause gehabt und sah diese nun vollständig widerlegt, mit dem Effekt: „Ich hab mich entschieden, das zu machen.“ In den ersten beiden Jahren arbeitete sie an den Wochenenden in der Gearbox und in der Woche bei der Freundin in der Tagespflege. „Als die Box dann zumachen musste, war es gut, fass ich das schon vorher hatte.“ Die ersten beiden Jahre nach dem Aus der Gearbox 2014 blieb Jens noch zu Hause, bis Kora sich eben entschied, dass ihr die große Gruppe zu groß sei und die Bunte Kuh kleiner eröffnete. „Jens sollte nur einmal die Woche als Leseonkel kommen“, erzählt sie, doch: „Das war nix“, denn Jens war gleich angefixt und absolvierte den erforderlichen Qualifikationskurs, um in dem Beruf arbeiten zu dürfen. „Es war eigentlich ein blöder Zufall“, grinst Kora, „aber es macht uns richtig Spaß.“ Sie lacht, schließlich „bespaße ich die Kinder mit meiner Musik und sie tanzen – wie in der Kneipe“. Und wird sofort ernst, da sie sich des erzieherischen Auftrags bewusst ist, und: „Du wirst überwacht, du kannst nicht machen, was du willst.“

Eine Fortführung der Gearbox kommt für Kora und Jens nicht in Frage, so sehr sie ihre Bar auch vermissen. Jüngst fragte Kora Angie von Barnaby’s Blues Bar, ob sie mal an einem Wochenende aushelfen könne, „das habe ich sieben Stunden gemacht“, und dabei sehr wohl festgestellt: „Es fehlt mir ein bisschen.“ Aber die Entscheidung bleibt, obschon Gäste sie sofort fragten, ob es mit der Box weitergehe: „Nee!“ Immerhin, das Gearbox-Auto von damals mit dem quer über die Seite geklebten Logo der Kneipe fahren Jens und Kora immer noch und können sich ein Leben ohne es auch nicht vorstellen. Sicher, das Aus der Box „hat uns das Herz gebrochen“, sagt Kora, „es war gut, dass wir diesen Job hatten“. Doch es sei ebenso gut, dass die beiden jetzt mit der Kindertagespflege glücklich sind.

In den rund 80 Quadratmeter großen Räumen der Bunten Kuh war vorher Jeffersons Teeladen untergebracht, berichtet Kora, dessen Betreiber Martin auf einen Rollator angewiesen ist, weshalb der Raum über eine Art Rampe verfüge, heute hilfreich für Kinderwagen, „für uns super“, sagt sie. Deshalb war der Raum auch so offen, dass die beiden für ihre Zwecke eine Wand einziehen lassen mussten. Und Martin, der sich eigentlich zur Ruhe setzen wollte, ist heute mit Jeffersons Teeladen in der Kastanienallee anzutreffen.

Jens und Wopi bekommen Wolters kredenzt, das Getränk in Koras bauchigem Glas ist pink. Während unseres Gespräches gesellen sich fortwährend weitere Bekannte in die Runde und plaudern über die Zeiten in der Gearbox. Dabei verrät mir Kora, dass die Kneipe ursprünglich gar nicht in der Form geplant war, wie man sie in Erinnerung hat: „Ich war vorher in Amerika und wollte eine Bar wie in New York“, in der die Leute mittags ihren Manhattan schlürfen, wie in den Vierzigern oder Fünfzigern. „Und dann kam Polli.“ Der Sänger der Giraffe Men stand im Lokal mit einem Tape seiner Band in der Hand und sagte: „Ich will hier spielen.“ Koras instinktive Abwehrreaktion sagte: „Nein, wirst du nicht!“ Jens schlug sich auf Pollis Seite: „Die spielen hier.“ So kam es dann auch: „Und so wurden wir zu einer Rock’n’Roll-Bar.“ Sie zuckt lachend die Schultern: „Es war nicht geplant, wir wurden geentert.“ Traurig ist sie darüber nicht, im Gegenteil, sie lächelt bei der Erinnerung, auch an ihre erste Begegnung mit den Lendenschurzen der Musiker und Sängerinnen, und wiederholt: „Und dann kam Polli.“ Der mit den Giraffe Men überdies in der Gearbox einen Kreis schloss: „Es war die erste und die letzte Band, die bei uns gespielt hat.“

Jetzt spielen bei Kora und Jens Kinder, das Leben tobt in der Bunten Kuh. Und die Giraffe Men spielen eben woanders, zum Beispiel am 29. September im Kufa-Haus. Da wollte ich heute eigentlich auch noch hin, zur zweiten Ausgabe der Lesebühne „Generalprobe“ mit Marcel Pollex, Axel Klingenberg und Roland Kremer, doch an einem solch warmen und warmherzigen Tag gewinnt das Treibenlassen, das Geschehenlassen gegen den Termindruck. Von unserem Tisch in Barnabys Blues Bar aus blicken wir über den Magnikirchplatz, auf dem sich Menschen tummeln, sich an die Tische der Gastronomieeinrichtungen setzen, die Sonne durch die Bäume scheinen lassen und den Spätsommer genießen. Dennoch wird es bald Zeit, ich verabschiede mich von Kora, Jens, Wopi und der ganzen Gearbox-Runde, winke noch einmal ins Riptide und schlendere in den Sonnenuntergang.

Matthias Bosenick

www.krautnick.de
Fakebook

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