Dienstag, 10. Oktober 2023
Chris sitzt draußen an der langen Bank, sagt mir Dennis, als ich ins Riptide komme und zu ihm an die Theke trete. Das gefällt mir, denn obgleich Guido und ich den Sommer vor zwei Wochen auf dem Magnikirchplatz verabschiedeten, weil wir davon ausgingen, dass es das mit ihm nun wirklich gewesen sei musste, ist es heute, Anfang Oktober, so warm, dass draußen sitzen nicht nur nicht schlimm, sondern richtig angenehm ist, selbst der Wind weht zurzeit nicht. Andererseits ist das natürlich beunruhigend, klar. Chris gegenüber sitzt Micha, die beiden kennen sich seit der Schule, sie absolvierten gemeinsam ihr Abitur. Das trifft sich, ich treffe mich auch gleich mi einem früheren Mitabiturienten, Guido kündigte sich an. Chris und Micha sind gerade mächtig am kichern: „Ich habe gerade die Geschichte erzählt“, setzt Chris an, und erzählt sie mir nochmal, wie sie auf Kursfahrt in Prag waren und es ein Foto davon gibt, wie Micha betrunken im The-Cure-T-Shirt irgendwo herumlag. „Jahrzehnte später hat er gesagt, er hatte nie ein The-Cure-T-Shirt“, lacht Chris, „aber ich konnte das belegen, weil ich das Foto noch hab!“ Micha grinst: „Ich konnte mich nur in Auszügen erinnern.“ Chris setzt fort: „Wir haben ganz billigen Schnaps gehabt, dass du dachtest, du wirst blind – auf den Fotos liegen wir alle immer.“
Nach dem Abitur hatten sich Micha und Chris zwar aus den Augen verloren, aber vor einigen Jahren wiedergefunden: „Der Kontakt kam durchs Riptide“, freut sich Chris, den Micha war Mitglied von Scheppers Bassstammtisch. Schepper wird mir später erzählen, dass ich Micha ja auch schon kenne: Er saß mir bei einer Geburtstagsfeier von Schepper in der Rip-Lounge im Handelsweg gegenüber, als einer von drei Michaels, die sich alle nicht Michael nennen, sondern Fritz, Schepper und Arni. Jener Micha also ist der, den ich als Fritz kennenlernte. „Er ist einer der besten Bassisten der Stadt“, sagt Chris und rechnet Schepper in diesen Kreis mit ein.
Echofield heißt die Band, bei der Micha den Bass bedient, an der Seite von Gitarrist und Sänger Chris Schweyda und Schlagzeuger Boris Borreck. „Ist die Anzeige noch da?“, fragt Chris, denn die Band suchte lang einen Keyboarder. Micha weiß nicht, ob der Aushang noch im Riptide zu sehen ist, und erwidert: „Wir spielen zu dritt, wir haben gerade unser erstes Album draußen.“ Das heißt wie die Band, „Echofield“. Chris findet, dass der Bandname den Progrock, den die Band macht, bereits in sich trägt. „Ich habe auf Youtube gesehen, dass es in England noch eine Band mit dem Namen gibt“, sagt Micha. Auf Chris‘ Frage, wie es zu dem Namen kam, erzählt er, dass die Musiker mit Scrabble und Wortspielen Wörter legten: „Distant Bay Space und sowas Abgefahrenes“ waren die Ergebnisse, und seinen alternativen Vorschlag, sich analog zu den Beatles, die ihre Musikrichtung Beat im Namen trugen, Progles zu nennen, lehnte die Band ab. So kam es eben zu Echofield.
Namensfindung als schwierige Aufgabe kennt Chris auch vom Riptide, erzählt er, sowie vom Nexus, in dessen Namenskomitee Chris seinerzeit Mitglied war. „Wir haben uns regelmäßig getroffen“, berichtet er, dann trugen sie Vorschläge zusammen, strichen unbrauchbare, „bis vier übrig waren“, und über die stimmte ein übergeordnetes Gremium ab – und das Nexus war fortan benannt. „Ich hatte den Zettel noch“, sagt Chris, mit den anderen Vorschlägen, wie „Krachpalast oder Zappelbude, aber es ist Nexus geworden“. Er zuckt mit den Schultern: „Finde ich heute gut, fand ich damals nicht gut.“ So entwickele sich das mit Namen, die sich etablieren. Zur Eröffnung, fährt Chris fort, durchstöberte er eBay nach allem, auf dem das Wort Nexus stand, und kaufte haufenweise Uhren und Comics, die er an die anderen Leute aus dem Team des linksalternativen Kulturzentrums verschenkte.
Als Echofield 2017 starteten, erinnert sich Micha, hatten sie eine Keyboarderin dabei, die jedoch ausstieg, ihr Nachfolger zu Beginn der Pandemie ebenfalls. Dann tritt Anthea an unseren Tisch, Micha bestellt bei ihr Milchkaffee und Muffin, also alles mit M, und ich ein Wolters, das ich versehentlich so merkwürdig ausspreche, dass Anthea und Micha erfreut „Voltaires“ verstehen. „Da muss ein S mit“, insistiert Anthea ob der eigentlich S-losen Aussprache des französischen Aufklärers, lacht und wendet sich dem Nebentisch zu. „Wir haben einen neuen Keyboarder gesucht und nicht gefunden“, fährt Micha fort. Die Band hatte dann wie alle eine „pandemiebedingte Pause“ und man entschied dann: „Wir versuchen es zu dritt“, Keyboards spielen sie eben über Fußschalter oder vom Computer aus ein. In der zurückliegenden Kulturnacht spielten Echofield auf dem Magnikirchplatz, „das war unser erster Auftritt mal wieder, unser erster Versuch, alles zu dritt auf die Bühne zu kriegen, das hat auch gut funktioniert“.
Kurioserweise dachte mich mir bei der Info, dass Micha Bass spielt, dass er Prog machen würde. Oder Jazz, besser: Fusion. Micha staunt: „Ich liebe Fusion, Brand X und Tribal Tech höre ich gerne!“ Das erinnert ihn an seine Zeit vor Echofield: „Früher habe ich in einer Jazz-Soul-Pop-Band gespielt, Zen Garden.“ Aus acht Leuten bestand die Band, mit Bläsern, „wir spielten auch auf der Kulturnacht“, noch vor der Pandemie. Doch Micha verließ bald den Zen Garden: „Ich musste mich entscheiden für eine Band“, und das war eben Echofield.
Yasmina bringt unsere Bestellungen, Guido kommt dazu und gibt seine gleich auf, ein Hefeweizen, und wir ordern außerdem jeder ein Falafelfladenbrot und zusammen eine Schale Pommes. Musik bleibt zu viert unser Hauptthema, Melodic Death Metal aus Schweden etwa, Guido schwärmt von Edge Of Sanity mit Dan Swanö und deren Ein-Song-Album „Crimson“, Chris hält die Aufspaltung der Housemartins in The Beautiful South und Fatboy Slim musikalisch für am weitesten auseinander gelegen, und wir überlegen, ob wohl ein Fatboy-Slim-Remix von The Beautiful South wieder nach The Housemartins klingen würde. 19 Uhr, es wird dunkel, und Chris freut das, denn im Sommer, wenn das Riptide in der Woche um 22 Uhr schließen muss, lohne es sich nicht, für die halbe Stunde ab Dämmerung noch die Illumination auf den Außentischen auszubreiten. Im Herbst ist das anders, Yasmina bringt jetzt die Kerzen aus, und als sie an unserem Tisch ankommt, sagt Micha: „Erster Advent!“ Auch die zwischen den Bäumen angebrachten Lampions glimmen bunt in den Abend, es ist zu schön. Auf dem angestrahlten Platz hinter uns sind die Bocciaspieler am Klicken ihrer Kugeln zu hören.
Und à propos Beleuchtung, ich richte Chris Grüße von Stefan aus, der ankündigt, wegen der Weihnachtsbeleuchtung im Magniviertel im Riptide vorbeizukommen. Stefan ist Inhaber von Men’s Gala, dem Fachgeschäft für festliche Herrenmode im Ölschlägern 40, das ich zuvor als für das Riptide neuen Nachbarn erkundete. In der Tat ist das Geschäft ausschließlich auf männliche Kundschaft ausgelegt, mit Anzügen, Hemden, Krawatten, Schuhen, darunter auch eleganten Sneakern, und Accessoires; der Raum reicht weit in die Tiefe, in der Mitte befindet sich die Kasse und am Ende ein weiterer Tresen, an dem ich mich mit Stefan unterhalte. Er merkt an, nur wenig Zeit zu haben, weil er gleich eine Veranstaltung ausrichtet, nämlich das turnusmäßige Treffen von Bürgerschaft und Werbegemeinschaft Magniviertel. „Seit 2003 bin ich selbständig“, erzählt er. Davor war er bei Flebbe angestellt, „Flebbe hat zugemacht und ich mich selbständig“. Men’s Gala nahm seinen Anfang vor 20 Jahren noch in der Langendammstraße in einem weit kleineren Raum und vergrößerte sich zusehends, weshalb der Umzug an die jetzige Adresse notwendig war. „Hier bin ich jetzt seit fast fünf Jahren“, sagt er, und setzt nach: „Rechtzeitig zu Corona war hier alles fertig.“
Im Angebot hat Stefan „jetzt alles, auch für Business“, erzählt er, und das deshalb so ausdrücklich, weil: „Der Schwerpunkt ist alles rund um Hochzeiten – Bräutigam, Brautvater, Bruder oder Gast.“ Doch fand da eine unerwartete, aber sehr erfreuliche Entwicklung statt: „Über die Jahre kommen Stammkunden“, darunter auch solche, die bei etwa einer Bank arbeiten, „und viele kommen durch Weiterempfehlung.“ Das Heiraten sei heutzutage ja gar nicht mehr so üblich und daher nicht mehr zwingend der Anlass für seine Kunden, bei ihm einzukaufen. Da es das Geschäft schon so lange gibt, hört Stefan inzwischen häufig: „Der Bruder war schon hier, der Vater war schon hier, mehrere Generationen.“ Und das freut ihn.
Ebenso der Standort Magniviertel: „Ich bin hier geboren, ich bin Klinterklater reinsten Wassers“, erzählt Stefan, „es zieht mich immer wieder her.“ Zwar sei er mal weg- und mal wieder zurückgezogen und wohne derzeit gar nicht im Magniviertel, doch: „Aber ich habe das Geschäft hier und bin darüber sehr glücklich.“ Weil: „Das ist ein Dorf in der Stadt, man kennt eigentlich jeden, es ist so’n Mikrokosmos hier.“ Er grinst: „Das Riptide ist ein bisschen das Kontrastprogramm zu uns – aber es verträgt sich alles, das finde ich gerade gut.“ Insbesondere der Umstand, dass die Geschäfte hier inhabergeführt sind, sei ein wichtiges Gegengewicht zur Innenstadt, in der vorrangig Filialen von Ketten zu finden sind. Den Nachteil der Geschäfte hier erkennt er dennoch: „Es ist nicht ganz perfekt“, sagt er in Bezug auf die Öffnungszeiten, die eben weniger lang sind als in der Innenstadt, weil man als Inhaber nicht den gesamten Zeitraum von früh bis spät abdecken könne.
Aus diesem Grunde finde Stefan auch wenig Gelegenheit, Zeit im Riptide zu verbringen, zudem gebe es bezüglich der Schallplatten „wenig Berührungspunkte: Ich stehe nicht so auf Vinyl“, sagt er. „Als die CD rauskam, habe ich alle meine Platten verschenkt – ich fange damit nicht nochmal an.“ Platten weggeben ist für mich undenkbar, und Stefan gibt zu: „Bei einigen habe ich mich geärgert.“ Die CD ist nach wie vor sein Favorit, auf Streaming ist er noch nicht umgestiegen, „hier im Geschäft läuft Radio“. Er sinniert: „Meine erste Platte war Electric Light Orchestra, ‚A New World Record‘, die habe ich ein Vierteljahr gehabt und auf Partys mitgenommen, da war sie hin.“ Deshalb freute er sich sehr, als sie auf CD herauskam und er sie sich erneut kaufen konnte, das Nachfolgealbum „Out Of The Blue“ ebenso. Wir schwärmen beide von den Traveling Wilburys, deren Mitglied ELO-Kopf Jeff Lynne war, neben Roy Orbison, George Harrison, Tom Petty und Bob Dylan.
Am Riptide gefällt Stefan das Konzept, „auch mit vegan, das passt gut in die Landschaft hier rein“. Wegen der anstehenden Weihnachtsbeleuchtung würde er Chris demnächst ansprechen wollen, sagt er, und erzählt, dass die Flanierenden denken, die Stadt leiste sich die stimmungsvolle Dekoration im Viertel, aber: „Nee, die Stadt macht gar nix“, sagt Stefan. Vielmehr übernehmen die Werbegemeinschaft und die Bürgerschaft einen großen Teil der Ausgaben und Spenden den Rest: „Da müssen wir von Laden zu Laden gehen – das ist gut, man lernt die Leute kennen“, findet Stefan. Und er schwärmt von der Atmosphäre, die von der Beleuchtung ausgeht. Gleich kommen seine Gäste, ich verabschiede mich, nehme seinen Gruß an Chris mit und richte ihn soeben aus.
Die Zeit verrinnt, der Abend beginnt, Chris und Micha machen Feierabend, Guido und ich bleiben noch auf je ein Bier, dann verabschieden uns auch wir, dabei könnten wir noch ewig hier sitzenbleiben und weiterquatschen. Hier ist ja ohnehin gleich Schluss. Immer noch fast 20 Grad abends im Oktober, das ist schon bedenklich, auch wenn wir den lauen Abend auf dem warm und bunt beleuchteten Magnikirchplatz genießen. Das sieht immer gut aus. Wie muss es erst mit Weihnachtsbeleuchtung sein!
Matthias Bosenick