Mittwoch, 22. November 2023
In nur einem Monat werden die Tage wieder länger! Wird auch Zeit. Dabei ist es noch gar nicht so lang wieder so schmuddelig, kalt und dunkel, kommt einem aber so vor, als wäre es schon ewig so. Andererseits birgt das Dunkle ja auch sein Gutes: Die Gegend wird, insbesondere, je näher Weihnachten rückt, warm illuminiert, und so auch das Magniviertel und sowieso immer das Riptide. Meinen Platz am Fenster zur Straße Ölschlägern krönt eine der spiralförmig leuchtenden Flaschen, das Licht strahlt so warm, man spart Heizung. Bevor ich jedoch Platz nehme, bestelle ich mir bei Dominik an der Theke das Falafel-Fladenbrot und trotz der Kälte – heute Morgen fror es – eine Fritz-Kola.
Da kommt Chris die Treppe herab. Er ist in Eile, weil er die Quiznight vorbereiten muss, die ab heute wieder monatlich im Riptide stattfindet: „Die Sommerpause ist beendet“, sagt er. Aus dem Küchenbereich holt er sich einen Karton, der wesentlich größer ausgefallen ist, als er erwartete, und ruft mir zu: „Lass dich umarmen!“ Gern, Digger! Die Wintermonate sind im Riptide dem Kulturprogramm vorbehalten, erklärt Chris, also mit Konzerten, Lesungen und eben der Quiznight. „Die ist ausgebucht“, freut sich Chris. Anmeldungen sind für das Event nämlich erforderlich, und bis Februar ist für sämtliche Ratenächte kein Platz mehr zu haben, nur noch für März und April, und dann, so Chris, ist schon wieder Sommer und die Kulturprogrammzeit vorbei. Ich staune und nehme mir vor, meiner Denksportgruppe Nowak auf Whatsapp sofort diese Info zukommen zu lassen.
Einige Termine für die Wintersaison stehen schon jetzt fest: Adam Barnes, Joe Hicks und Sarah Walk spielen am 7. Dezember. Chris selbst schmeißt am 23. Dezember als Butch Cassidy mit Superbonz-Marc die Weihnachtsfeier im Riptide. Radical Radio treten am 11. Januar auf, eine Woche später liest Marcel Pollex. Ein DJ-Set mit Konsti alias Rude Revolution gibt’s am 24. Januar, am 8. Februar spielen The Rabbits und am 22. Februar findet das nächste Whisky-Tasting statt – mehr Programm ist sogar noch in Planung.
Parallel zum Sommer verschwindet auch die Außensitzfläche auf dem Magnikirchplatz. Das ist nicht nur bedauerlich, sondern – das war doch gerade erst noch nicht so, es kommt mir so kurz her vor, dass ich zuletzt dort saß, draußen, kurzärmelig und vergnügt. Naja, letzteres geht ja auch drinnen, und mein letzter Besuch im Riptide fand ja auch schon bei Draußenkälte statt, als Maren nämlich ihren Geburtstag hier feierte. Eine heiße Party, bei der wir getrost auch kurzärmelig hätten sitzen können. Es gab trotz ernster Themen so viel zu lachen, dass Arni und ich dem jungen Gast, der nach uns unseren Tisch einnehmen wollte und uns fragte, ob wir durch seien, antworteten, dass dies schon der Fall gewesen sei, bevor wir uns gesetzt hatten. Er erwiderte trocken: „Das merkt man.“ Wir freuten uns darüber, was er uns auch nicht vermiesen konnte, als er uns zum Abschied gutgelaunt nachrief: „Hoffentlich kommt ihr bald klar!“
Maren und Arni brachten mir von Valid Blu, Eigenschreibweise: Valid blU, die neue LP „The Missing Link“ mit, die eigentlich ergänzend zum Debütalbum „WFYB.TV“ als EP geplant war, weil sie einen Teil der darauf erzählten Story vervollständigt, und nun ist daraus ein Album geworden. Das Maren und Arni mir sogar signiert mitbrachten, Maren hat Beziehungen, sie nimmt bei der Sängerin Suzen, die ich vor zwei Jahren für das Kurt-Magazin interviewte, Gesangsunterricht. Außerdem war meine neue Drei-Fragezeichen-LP-Box bei Chris eingetroffen, „Böser die Glocken nie klingen“ auf satten sechs LPs, das war eine Menge Vinyl, das ich nach Hause schleppen durfte.
Während Chris mit dem Karton vor sich nach oben stürmt, um sich auf das Quiz vorzubereiten, schreibe ich meine nächste LP-Bestellung bei Dominik auf den Bestellzettel: „Los Angeles“ von Lol Tolhurst, Budgie und Jacknife Lee. An sich schon eine unfassbare Kombi, sind an dem Album noch Leute wie The Edge, Bobby Gillespie und James Murphy beteiligt. „Hast du schon reingehört?“, fragt Dominik. Habe ich nicht, bei der Namensliste kaufe ich, äh, taub, nicht blind. „Spoilere ich, wenn ich einen Song anmache?“, hakt er nach, und nein, neugierig bin ich natürlich, und schon klickt Dominik den von James Murphy gesungenen Titelsong in die chillige Roots-Reggae-Playlist. Ja, das gefällt mir, aber ich spoilere jetzt mal nicht.
Deshalb sage ich auch nichts zu den Filmen, die ich beim Filmfest sah. Erstmals seit Jahren standen wieder neue Filme von Regisseuren auf dem Programm, die ich bereits mag, wie Wim Wenders, Veit Helmer und Ken Loach, und weil es kein Filmfest ist, wenn ich nicht mit Micha im Kino war, sahen wir auch noch „Zillion“ über den gleichnamigen Technoclub in Antwerpen in den Neunzigern. Die Filme meiner Lieblinge gefielen mir besser als der, also „Perfect Day“ von Wenders, „Gondola“ von Helmer und „The Old Oak“ von Loach, aber dafür war am Sonntagabend rund um „Zillion“ das Filmfest ein wahres solches, bei den vielen Leuten, die Micha und ich trafen. Und viel zu lachen gab es. Ein zweiter Micha, seines Zeichens erklärtes FDP-Mitglied, verteilte im Astor-Foyer Erdnüsse an Micha und mich. Der fragte ihn: „Wo hast du die geklaut, im Kino?“ Der andere Micha, völlig entrüstet: „In der Kirche!!!“ Als wäre die Antwort nicht so schon lustig genug, war sie auch noch wahr.
Einer, der nach 25 Jahren wieder einen nicht nur guckbaren, sondern tatsächlich guten Film machte, war Luc Besson. Seinen „DogMan“ sah ich am Montag in Wolfsburg, das Kulturzentrum Hallenbad zeigte ihn in seinem Kino, dem ehemaligen Kaschpa. Auch das war ein Fest: Das Publikum schien sich regelmäßig dort zu treffen und zelebrierte die Begegnung. Gottlob nicht während des Films. Es ist immer wieder faszinierend, dass die Tribüne und die Kasse mit Kühlung und allem mobil sind – in dem Raum habe ich deutlich mehr Konzerte als Filme gesehen, auch im Kaschpa schon. Grass Harp immer wieder, zum Beispiel. So ein multifunktionales Kulturzentrum ist schon fein.
Aber wir haben ja nun das Kufa-Haus, und auch darüber freue ich mich riesig. Die Halloween-Party mit Rille Elf im dortigen Bistro machte Spaß, so viele kreativ verkleidete Tote! Oder die Plattenbörse am Freitag, da war ich nur, um mal zu gucken, also drei Stunden lang, hauptsächlich wegen der Leute, die ich traf. Niemanden treffen wiederum konnte ich vergangene Woche bei Blitz Records in Kiel, dem Plattenladen, den ich vor einigen Jahren zufällig entdeckte, als ich versehentlich auf der Kieler Woche unterwegs war: Der ist seit 2019 geschlossen, bedauerlicherweise. In Kiel war ich, weil ich meine Schwester besuchte, die kleinere von den beiden kleinen, die wohnt dort erst seit drei Jahren und macht den Eindruck, als seien es bereits 30. Sie kennt natürlich sofort Hinz und Kunz und weiß, wo es besten Fisch zu essen gibt. Im Donnerlüttchen zum Beispiel. Und sie ist Mitglied in einem Verein, der in der Nähe des Nord-Ostsee-Kanals einen Badesteg betreibt – sie geht jeden Tag in der Förde schwimmen. Jeden fuckin Tag. Und seien es nur fünf Minuten. Oder im Oslofjord in einem Eisloch. Als ich mit ihr auf dem Kieler Badesteg unterwegs war, brühte sie uns im dazugehörigen Häuschen einen Tee auf, den wir im Dunklen im Strandkorb tranken und dem Plätschern des Ostseewassers um die Spundwände lauschten. Es begann zu regnen, wir saßen im Trocknen, neben uns stieg eine Frau für fünf Minuten in die Ostsee, während ihr Mann auf dem Steg auf sie wartete. Und der Tee wärmte uns. So geht Leben.
À propos Ausflug, war schon mal jemand bei den Lübbensteinen kurz vor Helmstedt? Dem doppelten megalithischen Ganggrab? Hab ich mir angeguckt, nachdem mich Olli und Eli darauf aufmerksam gemacht hatten. Und gleich noch, wenn man schon mal da ist, die Gedenkstätte Marienborn, erstmals. Ein üppiges Gelände, überall kommt man kostenlos rauf und rein, na ja, fast: Als ich auf den Wachturm kletterte, teilte man mit hinterher mit, dass ich in eine gebuchte Führung geraten war. Dadurch erfuhr ich immerhin, dass das Gelände komplett untertunnelt ist, diese Tunnel aber nicht mehr zugänglich sind, weil wegen eindringenden Grundwassers einsturzgefährdet. Wenn schon nicht von unten, ließ sich die Anlage wenigstens von oben betrachten, was ebenfalls beeindruckend ist – die A2 aus der Vogelperspektive, der Ost-West-Verkehr unbegrenzt fließend, was 34 Jahre zuvor auf diese Weise nicht möglich war. Und wie sehr nicht möglich und mit welchen katastrophalen Folgen für die, die es trotzdem versuchten, dokumentiert die Ausstellung auf dem Gelände.
Einen Ausflug anderer Art machte ich vorhin, als ich auf dem Weg ins Riptide durch die Kuhstraße schlenderte und in den Sweets Of Weeds Store in der Hausnummer 5 einkehrte. Das Kürzel CBD prangt auf dem Schaufenster, und das steht für Cannabidiol, ein aus weiblichem Hanf gewonnenes Phyto-Cannabinoid. Was es damit auf sich hat, erfragte ich bei Yannik, der mich von hinter dem Tresen aus begrüßte. Yannik ist Angestellter; Geschäftsführer Patrick und Eigentümer Pascal waren vorhin nicht am Platze. Die hatten Sweets Of Weeds in Salzgitter gestartet und dann gleichzeitig in Hildesheim und Braunschweig, der Store in der Kuhstraße hatte am 9. Juni dieses Jahres eröffnet. Damit ist er ein neuer Nachbar, der jünger ist als das Riptide.
Im Angebot hat der Store „Cannabisprodukte wie Öle und Rauchzubehör“, klärte mich Yannik auf; in den Regalen sah ich mobile Aschenbecher, Feuerzeuge und Aromaöle. Die Produkte sind selbstverständlich durchweg legal, „medizinisches Cannabis, kann man auch sagen“, so Yannik. Sie beziehen diese Produkte „aus europäischen Ländern wie Frankreich, Spanien, Italien“, fuhr er fort. „Was uns besonders macht“, zog Yannik einen Vergleich zu anderen CBD-Läden in der Stadt, „dass wir auch HHC verkaufen, den Zwillingsbruder von THC – wir sind so ziemlich der einzige Laden in Braunschweig, der HHC und THC-Derivate legal verkauft.“ Dabei handelt es sich um hydriertes THC, also Tetrahydrocannabinol, das „mit zwei Wasserstoffmolekülen drangehängt“ wurde: „Das ist nicht die gleiche Substanz wie THC und daher legal.“ HHC sei daher „halbsynthetisch“, fügte er an. Er erläuterte, dass aus CBD das THC gewonnen wird, das man zur Entwicklung von HHC benötigt, das aber in Deutschland verboten sei, man also deshalb auch in Deutschland HHC nicht produzieren dürfe, weil dabei ja THC als Zwischenprodukt anfalle, weshalb der Store das HHC aus dem europäischen Umland beziehen müsse.
Bevor Yannik in diesem Store arbeitete, war der gebürtige Wolfenbütteler gar nicht so intensiv im Magniviertel unterwegs gewesen und lernt es erst jetzt für sich neu kennen. Ins Riptide schaffte er es daher bislang auch noch nicht, doch: „Ich weiß aber, dass Kollegen drin waren und es sehr entspannt fanden.“ Zum Entspannen lädt der Sweets Of Weeds Store seinerseits ein, ein Billardtisch befindet sich links von der Theke, bewacht von zwei farbenfrohen psychedelischen Plakaten. „Falls wer Bock hat“, sagte Yannik, denn: „Wir sind nicht nur ein Laden, wo man einfach was kauft, man kann auch ein bisschen abhängen.“ Doch nun erforderte ein Kollege seine Aufmerksamkeit, ich verabschiedete mich und steuerte eben das Riptide an.
Da sitze ich nun am Fenster und bekomme meine Falafelfladenbrote kredenzt, Vivi stellt sie vor mir ab. Seit März arbeitet sie im Riptide, „als Minijob“, und nicht der einzige: „Ich habe noch einen Minijob und mache eine Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin“, ergänzt sie. Wie findet man da noch Zeit fürs Leben? Sie lacht und schwärmt von der Ausbildung, von der „Arbeit mit Menschen mit Behinderung“, an der ihr der pädagogische Anteil am besten gefällt: „Das ist das Tolle an der Ausbildung, dass er pflegerische und pädagogische Aspekte hat.“ Meine Tischnachbarn erfordern nun Vivis Aufmerksamkeit, die meine richte daher ich auf den Teller vor mir. So schade es mit der frühen Dunkelheit auch ist, so wunderbar ist es doch, unter der warmgelben Lampe sitzend und genussvoll speisend aus dem Fenster zu gucken, die Menschen vorbeiflitzen zu sehen und es, anders als sie, warm zu haben. Hier bleibe ich erstmal. Bis Weihnachten. Bestimmt!
Matthias Bosenick